Treibgut -  Julien Green

Treibgut (eBook)

Roman

Wolfgang Matz (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28234-6 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
20,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein Liebesdrama von düsterer Komik im Paris der 30er Jahre - 'Julien Green ist Weltliteratur'. Iris Radisch, Die Zeit
Die Wiederentdeckung eines Meisterwerks. Nacht in Paris, am Ufer der Seine. Eine Frau streitet mit einem Mann, ruft um Hilfe. Philippe hat sie gesehen, doch er macht einen Schritt rückwärts und geht nach Hause. Von da an steht fest, er ist ein Feigling. Wie soll er weiterleben zwischen seiner Ehefrau, die ihn verachtet, und seiner Schwägerin, die ihn heimlich liebt? Julien Green zeigt die Nachtseite eines Paris, das keine Belle Epoque mehr ist und erzählt von Menschen in einer untergehenden Gesellschaft. Anhand neuer biografischer Quellen kommentiert und glänzend neuübersetzt von Wolfgang Matz. 'Proust ruft die Zauberstunde der Kindheit herauf, Green bringt Ordnung in unsere frühesten Schrecken.' Walter Benjamin

Julien Green wurde 1900 als Sohn einer amerikanischen Familie in Paris geboren, wo er 1998 starb. Bei Hanser erschien das erzählerische Werk, zuletzt in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl: Adrienne Mesurat (Roman, 2000), Fremdling auf Erden (Erzählungen, 2006), die Erinnerungen an seine Kindheit Erinnerungen an glückliche Tage (2008) und sein letzter Roman Der Unbekannte (2011).

Erstes Kapitel


Die Clérys bewohnten das dritte Stockwerk eines Gebäudes, dessen Eigentümer sie waren. Das Haus stand am Eck einer der kleinen Straßen, die schräg herabführen von Chaillot, in der Nähe des Musée Galliera. Ungefähr um 1905 erbaut, verdankte es jenen prosperierenden Zeiten eine üppig geschmückte Fassade. Es brauchte nicht weniger als zwei gutgebaute Sirenen, um das Gewicht des Schildes zu halten, das die Hausnummer trug, weiß auf türkisem Grund. Ein paar Herkulesse, von denen man nichts sah als den Oberkörper, demonstrierten ihre eines Möbelpackers würdige Muskulatur, und sie krümmten sich unter der Last des Balkons, als wären sie drauf und dran, ihn wegzuschleppen. Um diesem Schauspiel das allzu Trübselige und Angespannte zu nehmen, zierten Blumengirlanden den Stein zwischen den Fenstern.

All diese Hässlichkeit sah Philippe schon lange nicht mehr. Beim Nachhausekommen durchschritt er jeden Tag ein Tropfsteingewölbe und betrat einen gotischen Aufzug, doch das quälte ihn kaum. Mehrmals hatte Éliane ihm zur Renovierung des ganzen Gebäudes geraten. »Ich kann nur sagen, der Hauseingang ist ein Alptraum. Ist dir nicht klar, dass die Concierge in einer Grotte wohnt?« Sie sprach aber vergeblich. Schwach, wie er war, widerstand Philippe erfolgreich mit jener Trägheit, die den Willen auch der Stärksten bricht. Es schien, als hätte er mit diesem von seinem Vater erbauten Haus obendrein eine ganze Handvoll moralischer Erbstücke erhalten, darunter der tiefe Wunsch zu sehen, dass alles einmal Errichtete bestehen bleibt.

Im ersten Jahr seiner Ehe hatte er dem nachgegeben, was er die Launen seiner Frau nannte, und das schwere Mobiliar der Eltern hatte Platz gemacht für leichtere Tische und für Sessel, in denen man sich niederlassen konnte ohne den Eindruck, man weile im Büro eines Börsenmaklers. Diese Profanierung, welche allerdings die letzte blieb, war zumindest gründlich. Fast nichts war noch da von der Wohnung, wie Philippe sie einst kannte. Gewiss, er trauerte kaum um die mit granatfarbenem Samt ausgeschlagenen Räume, wo es selbst an den schönsten Tagen ab drei Uhr finster war, doch schweigend widmete er ihnen ein furchtsames Gedenken, als Tribut eines Herzens, das sensible Gottheiten nicht gerne kränkte. So genoss er das strahlende Licht in den Salons und in seinem Zimmer mit einem schlechten Gewissen, das ihm die Freude verdarb, und zuweilen wurde sie sogar zu heftigem, plötzlichem Ärger.

Beim Tod seines Vaters war er achtzehn, aber die Furcht vor dem alten Mann beherrschte ihn immer noch, ohne dass er es merkte. In seiner Jugend hatte man ihm beigebracht, sich unsichtbar zu machen vor diesem schweigsamen und aufrechten Mann, der jeden Abend eine eiskalte Hand auf den Scheitel des Sohnes legte und ihm eine Rede hielt über Pflicht und Verantwortung; heute machte Philippe sich unsichtbar vor einem kaum weniger furchtbaren Schatten. In seinem Inneren saß er über sich selbst Gericht, und er berief zu diesem Tribunal einen Vater, der ihn auf ewig missbilligte. So erfasste ihn uneingestandener Groll gegen die Welt im allgemeinen und insbesondere gegen seine Schwägerin. In dieser geheimen Auseinandersetzung fand seine Frau Gnade, und zwar wegen der Leichtfertigkeit, die sie in den Augen jedes anderen Mannes gerichtet hätte. Éliane wusste, was sie tat; kein Wort kam aus ihrem Mund, das nicht sorgsam abgewogen war, kalkuliert in Hinblick auf ein zuweilen fernes oder unbedeutendes, doch immer präzises Resultat. Ihr klarer und fester Wille bahnte sich seinen geradlinigen Weg, durchquerte das Leben der anderen, so wie die Avenue in einer großen Stadt mitten hindurchschneidet durch das unendliche Straßengewirr. Vielleicht ahnte sie selber nichts davon, denn sie war gutmütig. Sie lebte ruhig, hielt mit Klugheit das Gleichgewicht zwischen großem Leid und kleinen Freuden, wusste jedoch nichts von der unwiderstehlichen Kraft, die sie vorwärtstrieb. Philippe erriet diese Kraft hinter allen Gedanken Élianes. Sie konnte fröhlich lächeln, Traurigkeit im Herzen, konnte ein strenges Urteil widerrufen und jemanden verteidigen, den sie nicht mochte, in ihrem tiefsten Inneren gab es eine herrische Stimme, die er fast hören konnte und die sprach: »Los, na los doch!«

Um das zu begreifen, brauchte er fast elf Jahre in Gesellschaft der beiden Frauen. Sogar eine Person ohne jegliche Neugier und ohne jegliche Einfühlung interessiert sich am Ende fast immer für das Schauspiel einer Seele im Bann der Leidenschaft. Sowenig er sich um die beiden Menschen kümmerte, die er jeden Tag sah, entdeckte Philippe schließlich dennoch diese Liebe, deren Gegenstand er war. Es war, als habe man es ihm plötzlich gesagt, und er lachte vor sich hin, so offensichtlich schien ihm die Sache.

»Was hast du?«, fragte Éliane, die neben ihm saß und nähte.

»Nichts; es war nur so ein Gedanke.«

Sie schenkte ihm einen Blick, den das Misstrauen verdunkelte.

»Darf man ihn erfahren, diesen Gedanken?«, erkundigte sie sich in gekünsteltem Ton.

Jetzt lachte er nicht mehr. »Vielleicht ahnt sie, dass ich begriffen habe«, dachte er besorgt.

»Na gut, rat mal!«, sagte er laut und ohne zu überlegen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Kann ich nicht«, antwortete sie ernst. »Ich verstehe nichts von diesem Spiel.«

Philippe merkte, er wurde rot wie ein Kind. Vielleicht glaubte sie, er lache über ihre Liebe zu ihm. Der Verdacht war ihm unerträglich, und er spürte das Verlangen, die Hände dieser Frau zu ergreifen und mit ihr zu sprechen. Aber was sollte er sagen? Hatte sie je auch nur ein Wort verlauten lassen, eine einzige Bewegung gemacht, die verraten konnte, sie sei in ihn verliebt? Er selbst hatte sie eingeladen, mit ihm und seiner Frau diese Wohnung zu teilen, die viel zu groß war für zwei. Das arme Mädchen hatte kaum Geld, und außerdem war sie allein. Die Idee, ob gut oder schlecht, sie aufzunehmen, kam von Henriette, denn sie war es gewöhnt, dass Éliane sich um sie kümmerte, ihre Kleider wegräumte, ihre Briefe schrieb, aber erst Philippe hatte die Sache ermöglicht.

Die Zeit jedoch, jene sozusagen monströse Geduld, die sie in solchen Fällen entwickelt, bewirkte zahlreiche Veränderungen, von denen nichts nach außen drang. Alles strebte ohne Eile in Richtung einer anderen Ordnung. Immer wieder muss man staunen, dass eine allzu hastig ausgeführte Tat oft unerträglich scheint, die gleiche Tat jedoch auf allgemeine Zustimmung stößt, widmet man ihr einige Monate Vorbereitung. Kaum anderthalb Jahre waren verstrichen seit Philippes und Henriettes Hochzeit, da besetzte Éliane bereits Henriettes Platz.

Eines Morgens, schon früh angekleidet, rannte sie zum Esszimmer, als renne sie zu einem Rendezvous. Unbewusste Freude erleuchtete ihre Züge, und sie sagte beim Hereinkommen:

»Ich hatte es ja gesagt.«

Philippe las seine Zeitung, stand neben dem Kamin, wo die Scheite loderten. Élianes Erscheinen riss ihn jäh aus den Gedanken, und er musste sich anstrengen, damit er freundlich wirkte.

»Guten Morgen, Éliane. Was hast du gesagt?«

Bei diesem Tonfall wurde das alte Mädchen wieder ruhig.

»Henriette ist krank. Wundert dich das? Weißt du, wann sie nach Hause gekommen ist … rate mal!«

Philippe zuckte die Achseln, denn er hatte keine Ahnung.

»Um zwanzig nach zwei. Und natürlich ist sie heute früh mit solchen Kopfschmerzen aufgewacht, dass sie schreien könnte.«

»Dann soll sie Aspirin nehmen.«

»Du kannst dir denken, dass ich ihr sowas nicht raten muss, und alles geht genauso weiter, wie ich es dir gesagt habe, gestern Abend.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich? Auf gar nichts! Doch. Henriette wird sich noch umbringen mit dem ganzen Aspirin. Wir kaufen zwei Schachteln pro Woche, das macht vierzig Tabletten in acht Tagen. Du musst ein ernstes Wort mit ihr reden, und als erstes nimm ihr die Schachtel weg, die sie unterm Kopfkissen versteckt.«

»Auf keinen Fall.«

»Wie du willst. Aber wenn sie abends weniger ausgeht, dann hätte...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2024
Übersetzer Wolfgang Matz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Dekadenz • Dreiecksgeschichte • Dreißiger Jahre • Homosexualität • Julien Green • Kammerspiel • Klassiker • Liebesgeschichte • Moderne • Paris • Proust • Seine • Walter Benjamin • Wolfgang Matz
ISBN-10 3-446-28234-3 / 3446282343
ISBN-13 978-3-446-28234-6 / 9783446282346
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99