Notizen zu einer Hinrichtung (eBook)

Roman

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3536-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Notizen zu einer Hinrichtung - Danya Kukafka
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»Ein erschütternder Thriller über drei Frauen, die in den Bannkreis eines Serienmörders geraten.« Brit Bennett.

In 12 Stunden soll Ansel Packer hingerichtet werden. Doch dies ist nicht seine Geschichte. Dies ist die Geschichte der Frauen, die er zurückgelassen hat.

Ansel Packer weiß ganz genau, was er verbrochen hat, und wartet nun auf seine Hinrichtung - das gleiche grausame Schicksal, das er vor Jahren seinen Opfern auferlegt hat. Doch er will nicht sterben. Er will anerkannt und verstanden werden.

Durch ein Kaleidoskop von Frauen - eine Mutter, eine Schwester, eine Kommissarin der Mordkommission - erfahren wir die Geschichte von Ansels Leben. Atemberaubend spannend und mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen zeichnet Kukafka ein erschütterndes Porträt von Weiblichkeit, während sie gleichzeitig das Narrativ des Serienmörders und unsere kulturelle Besessenheit von Kriminalgeschichten hinterfragt

»Brillant.« Chris Whitaker.

»Ein Muss.« The Times.

»Umwerfend.« Observer.

»Fesselnd.« New York Times.

»Meisterhaft.« Guardian.



Danya Kukafka gelang mit ihrem Debüt »Girl in Snow« auf Anhieb ein Bestseller, der in mehreren Sprachen erschienen ist. Das Buch wurde für zahlreiche Preise nominiert und wird als Amazon Prime Serie verfilmt werden. Danya Kukafka studierte an der New York University Creative Writing unter Colson Whitehead. Sie wuchs in Colorado auf und lebt heute in New York, wo sie als Literaturagentin arbeitet.

12 Stunden


Du bist ein Fingerabdruck.

Als du an deinem letzten Lebenstag die Augen aufschlägst, siehst du deinen Daumen. Im gallegelben Knastlicht sind die Wirbel deiner Daumenkuppe ein trockenes Flussbett, Sand, vom Wasser zu einem schwieligen Muster geformt, einst gewesen, nun verschwunden.

Der Nagel ist zu lang. Du erinnerst dich an das Ammenmärchen aus deiner Kindheit: Wenn du tot bist, wachsen deine Nägel immer weiter und wickeln sich um deine Knochen.

Name und Nummer, Häftling!

Ansel Packer, rufst du. 999631.

Du drehst dich auf der Koje um. Die Decke hat das gewohnte Muster aus Wasserflecken. Wenn du den Kopf auf bestimmte Weise drehst, erkennst du in der feuchten Stelle in der Ecke einen Elefanten. Heute ist der Tag gekommen, sagst du in Gedanken zur feucht verfärbten Stelle, die den Rüssel bildet. Heute ist der Tag. Der Elefant grinst, als wäre er eingeweiht in dein schrecklichstes Geheimnis. Du hast schon viele Stunden damit verbracht, genau diesen Ausdruck nachzuahmen, wie der Elefant an der Decke zu grinsen – doch heute kommt er ganz von selbst. Du und der Elefant, ihr lächelt euch an, bis die Tatsache dieses Morgens zu einem aufregenden Pakt wird, bis ihr beide ausseht wie Wahnsinnige.

Du schwingst die Beine über die Pritschenkante, hievst dich von der Matratze. Schlüpfst in die Gefängnislatschen, schwarz, so groß, dass deine Füße darin herumrutschen. Lässt Wasser aus dem Metallhahn auf deine Zahnbürste laufen, drückst einen körnigen Haufen Putzpulver darauf, dann befeuchtest du dein Haar vor dem kleinen Spiegel – kein echtes Glas, nur pockennarbiges Aluminium, das bei einem Schlag nicht zerbrechen würde. Über dem Waschbecken nagst du dir jeden einzelnen Fingernagel zurecht, einen nach dem anderen, reißt vorsichtig das Weiße ab, gleichmäßig, bis alle gezackt, aber kurz sind.

Die letzten Stunden sind oft der schwierigste Teil, hat der Gefängnisseelsorger dir bei seinem Besuch gestern Abend erzählt. Eigentlich magst du ihn, den kahlköpfigen Mann, der gebeugt geht, als trüge er schwer unter der Last seines schlechten Gewissens. Der Seelsorger ist noch neu in der Polunski Unit – er hat ein weiches Gesicht, weit offen, als könnte man direkt hineingreifen. Der Seelsorger hat von Vergebung gesprochen, Befreiung von einer Last, akzeptieren, was wir nicht ändern können. Dann, die Frage.

Ihre Zeugin, sagte der Seelsorger durchs Besucherfenster. Kommt sie?

Du hast den Brief auf dem Regal in deiner engen Zelle vor Augen gehabt. Den cremefarbenen Umschlag, die Verheißung darin. Der Seelsorger hat dich mit unverhohlenem Mitleid angesehen – für dich war Mitleid schon immer die größte Beleidigung gewesen. Mitleid ist Zerstörung in der Maske des Mitgefühls. Mitleid macht dich nackt. Mitleid lässt dich schrumpfen.

Sie kommt, sagtest du. Dann: Sie haben da was zwischen den Zähnen. Du hast zugesehen, wie der Mann hektisch die Hand an den Mund hob.

In Wahrheit hast du dir über den heutigen Abend kaum Gedanken gemacht. Zu abstrakt, zu unberechenbar. Es lohnt sich nie, auf die Gerüchte in Gebäude 12 zu hören – ein Todeskandidat war zurückgekehrt – man hatte ihn knapp zehn Minuten vor der Hinrichtung begnadigt, schon auf der Pritsche festgeschnallt – und dann gemeint, man habe ihn stundenlang gefoltert, ihm wie in einem Actionfilm Bambusstäbe unter die Fingernägel geschoben. Ein anderer Insasse behauptete, er hätte Donuts gekriegt. Du denkst lieber nicht weiter darüber nach. Es ist okay, sich zu fürchten, hat der Seelsorger gesagt. Aber du fürchtest dich nicht. Nein, du staunst, findest es so faszinierend, dass es dir im Magen ganz flau wird davon – seit Neuestem träumst du, du würdest durch den klaren blauen Himmel fliegen, weit oben schweben über riesigen Kornkreisen. Deine Ohren ploppen beim Aufsteigen.

Die Armbanduhr, die dir in Trakt C vermacht wurde, ist fünf Minuten vorgestellt. Du bist gern vorbereitet. Sie behauptet, dir blieben noch elf Stunden und dreiundzwanzig Minuten.

Sie haben versprochen, dass es nicht wehtut. Sie haben versprochen, dass du gar nichts spürst. Da war mal diese Psychiaterin, die saß in piekfeinem Kostüm und teurer Brille vor dir im Besucherraum. Sie hat dir Dinge erzählt, die du schon immer geahnt hast und nun nie mehr vergessen kannst, Dinge, die du am liebsten nie gehört hättest. Eigentlich hätte dir ihr Gesicht mehr verraten müssen, normalerweise kannst du das erforderliche Maß Traurigkeit oder Bedauern gut abschätzen. Aber die Miene der Psychiaterin war blank, mit Absicht, und dafür hast du sie gehasst. Was fühlen Sie?, fragte sie. Völlig sinnlos, diese Frage. Gefühle haben keinen Gegenwert. Also hast du die Achseln gezuckt und die Wahrheit gesagt: Keine Ahnung. Nichts.

Um sechs Uhr legst du deine Utensilien zurecht.

Die Farben hast du schon am Abend zuvor gemischt, wie, das hat dir Froggy beigebracht, damals im Trakt C. Mit dem Buchrücken eines dicken Wälzers hast du ein paar Buntstifte zerstoßen und das Pulver mit Vaseline aus dem Gefängnisladen vermengt. Du hast drei Stiele in Wasser eingeweicht, von Eislutschern aufgespart, die du dir gegen Dutzende Ramen-Fertigsuppen teuer ertauschen musstest, und das Holz bearbeitet, bis es wie bei einem Pinsel zu aufgefächerten Borsten zerfaserte.

Jetzt breitest du alles auf dem Boden deiner Zelle aus. Mit großer Sorgfalt, die Kante deines Kartons direkt im Lichtstrahl, der vom Gang hereinfällt. Das Tablett mit dem Frühstück auf dem Boden ignorierst du, hast es nicht angerührt, seit man es dir um drei Uhr in der Früh reingeschoben hat, die Soße hat schon einen Film, im Konservenobst wimmeln unzählige Riesenameisen. Es ist April, doch es fühlt sich an wie Juli, die Heizung läuft oft auch im Sommer, das Stückchen Butter ist bereits zu einer Fettsuppe geschmolzen.

Ein einziges elektronisches Gerät darfst du in der Zelle haben – du hast das Radio gewählt. Du berührst den Knopf, spitzes statisches Rauschen. Die Männer in den umliegende Zellen brüllen gelegentlich ihre Wünsche über den Gang, R&B oder Classic Rock, aber sie wissen, was heute geschehen wird. Sie protestieren nicht, als du deinen Lieblingssender wählst. Klassik. Die Symphonie bricht plötzlich in die Stille, erschreckend, füllt jeden Winkel der Betonzelle. Symphonie in F‑Dur. Du gewöhnst dich an das Laute, lässt es herein.

Was malst du?, hat Shawna mal gefragt, als sie dir das Tablett mit dem Mittagessen durch die Türklappe schob. Sie neigte den Kopf, um das Bild zu erkennen.

Einen See, sagtest du. Ein früherer Lieblingsort.

Damals war sie noch nicht Shawna gewesen, sondern Officer Billings mit dem streng zu einem Nackenknoten zusammengezurrten Haar, deren Uniformhose an der ausladenden Hüfte Falten schlägt. Erst sechs Wochen später wurde sie zu Shawna, als sie die flache Hand gegen dein Fenster drückte. Den Ausdruck in Shawnas Augen kennst du von anderen Mädchen in einem anderen Leben. Ein Aufmerken. Sie erinnerte dich an Jenny – da war etwas in ihrem Begehren, so verletzlich und ungezähmt. Verraten Sie mir Ihren Vornamen, Officer?, hast du sie gebeten, woraufhin sie knallrot wurde. Shawna. Du hast ihn wiederholt, ihren Namen, andächtig wie ein Gebet. Du stelltest dir vor, wie ihr Puls einen nervösen Satz tat, ein Flattern der bläulichen Vene unter der bleichen Haut ihres dürren Halses, und spürtest, wie du größer wurdest, ein anderer Mensch wuchs über dich hinaus, verdeckte bereits dein Gesicht. Shawna lächelte, entblößte die Lücke zwischen ihren Zähnen. Verschämt, klaffend.

Als Shawna gegangen war, hatte Jackson zwei Zellen weiter dir grölend applaudiert, dich streitlustig provoziert. Du hast die ausgefransten Fäden deines Bettlakens zusammengebunden, ein Snickers daran befestigt und es ihm über den Flur hinweg hingeworfen, damit er die Klappe hielt.

Für Shawna hast du dich an einem anderen Motiv versucht. Du hast ein Foto von einer Rose gefunden, es in ein von dir in der Gefängnisbücherei bestelltes Philosophiebuch geschoben. Die Farben hattest du perfekt angemischt, aber die Blütenblätter waren falsch angeordnet. Die Rose hatte ein wirres Blutrot und die Umrisse waren schief, du hast das Bild weggeworfen, bevor Shawna es zu Gesicht bekam. Als Shawna dich das nächste Mal durch den langen grauen Gang entlang...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2024
Übersetzer Andrea O'Brien
Sprache deutsch
Original-Titel Notes on an Execution
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Spannungsromane • Die besten Thriller 2023 • Serienkiller • Serienmörder • Thriller für Frauen • Thriller USA • Todesstrafe
ISBN-10 3-8412-3536-0 / 3841235360
ISBN-13 978-3-8412-3536-7 / 9783841235367
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