Liebesmühe (eBook)
176 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28232-2 (ISBN)
Wenn Freundinnen sie nach ihrem Befinden fragen, verstummt sie. Seit der Geburt ihres Sohnes fühlt sie sich verloren, radikal fremdbestimmt und abgeschnitten von der Welt und ihrem alten Leben. Das winzige Kind ein Fremder, den zu lieben ihr kaum gelingen will. Warum scheint plötzlich all das, wovon sie - als Wissenschaftlerin, als Feministin, als Frau - überzeugt war, nicht mehr gültig zu sein? Christina Wessely erzählt die berührende Geschichte einer Mutterwerdung und verbindet dabei eindrucksvoll persönliche und essayistische Erkundung. Mit Intelligenz und Zärtlichkeit umreißt sie ihr Selbstverständnis als emanzipierte Frau - in Kollision mit gängigen Vorstellungen von Mutterschaft, Weiblichkeit und Liebe.
Christina Wessely, 1976 in Wien geboren, ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin. Seit 2014 lehrt sie als Professorin für Kulturgeschichte des Wissens an der Leuphana Universität Lüneburg. Zuletzt erschienen von ihr 'Welteis. Eine wahre Geschichte' (Matthes & Seitz 2013) und 'Löwenbaby' (Matthes & Seitz 2019).
Prolog: Schreiben
Ganz still sitzt sie da, um ihn nicht zu wecken. Die Beine dürfen nicht übereinandergeschlagen werden, schon der Versuch, sich ein Kissen unter den Ellenbogen, unter den schon schmerzenden Arm zu schieben, könnte seinen Schlaf stören. Sollte er aufwachen, müsste sie die letzte halbe Stunde wiederholen, das Wiegen, das Singen, das sanfte Schaukeln, immer in der Hoffnung, sich dann an der richtigen Stelle niederzulassen, um ihm und ihr selbst ein wenig Ruhe zu verschaffen. Die Wohnung ist ihr zum Meer geworden mit freundlichen und mit kargen Inseln darin. Nie weiß sie, auf welchem Teil des Archipels sie landen wird. Auf dem Sofa, auf dem sie schon vorab in ängstlicher Voraussicht das Buch deponiert hat, das aufzunehmen ihr, kleinste Bewegungen vollführend, gelingen könnte, um ganz ruhig zu lesen, die Seiten mit dem Mund umblätternd, denn die Hände müssen eng am Körper ihres Sohnes bleiben. Oder zumindest auf dem Sessel müsste sie anlanden, das Telefon in Reichweite ebenso wie die Decke, die sie, wenn es gelingt, um ihre kalten Füße wickeln könnte. Manchmal kommt es vor, dass das wenige Wochen alte Kind ungewöhnlich schnell einschläft, wenn sie die wiegenden, besungenen Bahnen, die sie zieht, eigentlich nur für kurze Momente auf einem kleinen Schemel unterbrechen wollte. Sie hat gelesen, dass Neugeborene eigentlich nicht einschlafen, sondern vom Schlaf übermannt werden; diese Tatsache gefällt ihr sehr, aber sie führt eben auch dazu, dass sie immer wieder an den falschen Plätzen strandet, an jenen, die nur als Zwischenstationen geeignet sind, nicht aber für den langen Aufenthalt. Dann sitzt sie da, oft starr und frierend, fernab von allem, was die Zeit verkürzen könnte.
Falsch: Die Zeit kann gar nicht verkürzt werden, denn sie ist ihr abhandengekommen. Zwar bemerkt sie, dass die Sonne aufgeht, gegen Mittag ihren höchsten Stand erreicht und schon am späten Nachmittag wieder untergeht, um vielen dunklen Stunden Platz zu machen, sie registriert den noch unregelmäßigen Rhythmus des Kindes aus Schlafen, Trinken und Wachen, aber dieser Wechsel gehört nicht mehr der Zeit der Geschichte an, die, gleichmäßig fließend, Ereignisse miteinander verbindet. Es ist die Zeit des Mythos, in deren endlosen Kreislauf sie mit seiner Geburt eingetreten ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind seit jenem Ereignis ununterscheidbar geworden. Was noch vor wenigen Wochen Geschichte war, stellt sich nun dar als Zyklus, ohne Anfang und ohne Ende. Kaum ist sie in der Lage, darüber nachzudenken, wie es gelingen könnte, den Kreislauf zu durchbrechen, kaum möglich ist es ihr, sich vorzustellen, wie diese Tage, die sie durchlebt, einer dem anderen gleich, in der Rückschau zu beurteilen sein werden: wie es gewesen sein wird. Selbst die grammatikalischen Formen, derer diese Gedanken bedürfen, sind für sie zu allegorischen Figuren wie aus dem antiken Epos geworden: Sie fesseln sie mit festen Zeitschnüren, verwehren Ausblicke in mögliche Welten mittels spiegelnder Oberflächen. Immer nur kann sie sich jetzt hier sitzen sehen, das Kind auf dem Arm. Der Konjunktiv als dunkler Gott der Möglichkeitsform, das Futur II als Satyr der abgeschlossenen Vergangenheit. Sein meckerndes Lachen klingt, wenn er sich ihr, uneinholbar, entzieht, frivol und höhnisch.
Das Kind war nicht mit der unmöglichen Aufgabe auf die Welt gekommen, die Leere im Leben seiner Mutter füllen zu müssen. Sie liebte ihre Freunde, kluge, warmherzige und lustvolle Menschen. Es gab die einen, mit denen man sich am frühen Samstagnachmittag auf einen Kaffee in einer der vielen türkischen Bäckereien traf, wo man von Kaffee mühelos auf Rotkäppchensekt umsteigen konnte, und mit denen man sich nach der langen Nacht in einem der Clubs am Wasser wieder in der Ausgangsbäckerei einfand, um sich bei Mettbrötchen und einem kleinen Bier auf Stunden vor dem Fernseher auf der Couch vorzubereiten, bevor man dann richtig ins Bett ging oder auch nicht. Endlose Tage, die nach Belieben gestaltet werden konnten. Mit anderen verabredete sie sich in verrauchten Kneipen, manchmal spielten sie Karten, meist aber blieb das abgegriffene Kartenspiel ungeöffnet vor ihnen auf dem Tisch liegen, und es wurde geredet und gelacht bis weit in die Nacht hinein.
Sie liebte den Mann, mit dem sie zusammen war — er war nicht der Bodenständigste, und er machte keine lebenslangen Versprechungen, aber das spielte noch keine Rolle, sie fand ihn schön und sehr lustig. Mit ihm konnte man zu zweit eine glamouröse Tanznacht in der Küche inszenieren, einfach so, spontan nach dem Abendessen, und er war ein fantastischer Liebhaber. Und sie liebte ihren Beruf, das Unterrichten ebenso wie die langen, staubigen Tage in Archiven und Bibliotheken und die wissenschaftlichen Konferenzen, auf denen sich viel zu lange Vorträge mit umständlichen Mitgliederversammlungen abwechselten und es jedes Mal ein herrliches Vergnügen war, gelegentlich eine Sektion gemeinsam mit Kolleginnen bei billigem Supermarktsekt im Park nebenan zu schwänzen. Sie liebte die Wochenenden auf dem Land, im Museum, in der Sauna, im Theater, im Restaurant, beim Joggen, Schlafen, Lesen, Tanzen. Und die Abende unter der Woche, wenn sie eigentlich müde war von der Arbeit, die dann aber doch so oft erst mitten in der Nacht endeten, doch noch ein Drink, noch eine Zigarette, aber vor neun musste sie fast nie aufstehen, also war das halb so schlimm. Wenn sie sich allerdings vorgestellt hatte, dass ihr Leben in fünf, zehn, zwanzig Jahren immer noch so aussehen könnte, hatte sie der kalte Schrecken überfallen. Diese Art, zu leben, alterte nicht gut, das war ihr bewusst gewesen, und bald würde sie verzweifelt sein. Alle anderen wären weitergegangen, hätten sich weiterentwickelt, nur sie hätte den Absprung verpasst — die Ängste einer Frau um die vierzig waren derartige kulturelle Gemeinplätze, dass es fast langweilig war, sie zu teilen. Das galt auch für ihre große Sehnsucht danach, für jemanden zu sorgen, die Sehnsucht nach Festigkeit, Unverhandelbarkeit und lebenslanger Dauer.
Sie hatte sich keine Illusionen über das Leben mit Kind gemacht, wusste, dass nicht alles Zirkus und Kasperltheater werden würde (obwohl sie sich in ihrer Vorstellung immer dort mit ihrem Sohn sah), aber dass sie von einem Moment auf den anderen in die Hölle der ewigen Wiederkehr geworfen sein würde, dass die Historizität ihres eigenen Daseins zugunsten eines solchen Naturzustandes, der keine Geschichte kennt, verschwinden würde, schockierte sie.
Vor dem Fenster der Erdgeschosswohnung fällt der Schnee. Sie sitzt auf dem Sofasesselschemel und stilltsingtwiegt. Wie immer. Das Display des Telefons — zum Glück in Reichweite — leuchtet bleich in die Nachmittagsdunkelheit. Sie hat die Nachrichten gelesen, die Modeblogs, hat einige Rezensionen zu literarischen Neuerscheinungen überflogen, die Wettervorhersage für die kommenden Tage zur Kenntnis genommen, die Fotos des Kindes angeschaut. Fast immer schläft es auf den Bildern, winzig, in bunte Tücher gepuckt. Das Kind, das sie nicht kennt. Sie weiß nicht, wer es ist. Kaum ein einfacher Satz könnte mehr Schrecken bergen. Ihr Kind hatte sie freudig erwartet, in die Arme gelegt hat man ihr einen fremden Menschen. Er hat die Füße und Zehen seines Vaters, das ist das einzige vage Erkennungszeichen dafür, dass er etwas mit den Menschen, die seine Eltern sein sollen, zu tun hat. Das scheint ihr zu wenig zu sein, und doch: Mit ihm ist sie von nun an verbunden. Mit einem Mal versteht sie das Wort Unentrinnbarkeit. Niemals hat ihr etwas mehr Angst eingejagt.
Sie möchte verstehen, was passiert ist, was gerade in diesem zur Unendlichkeit gedehnten Moment in ihrem Leben geschieht, aber da es zu verschwommen ist, um jemandem davon zu erzählen, erzählt sie es sich selbst. Noch kein Schreiben ist dieses Erzählen, sondern ein Sprechen, das ihr Mobiltelefon — erst vor Kurzem hat sie die Funktion Notizen entdeckt und dort das kleine Mikrofonsymbol neben dem Leerzeichen — in Schrift verwandelt.
»Ich spreche schreibe damit ich sehe dass etwas passiert damit etwas passiert«, lautet der erste Eintrag vom 10. September 2019 (sie hat noch nicht gelernt, dass sie die Kommas ansagen muss, das Sprachverarbeitungsprogramm setzt sie nicht von selbst), »wenn der Text geschrieben ist wird...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | artgerecht • Autobiographisch • Autofiktion • Baby • Essay • Ideologie • Kritik • Mutterschaft • Mutter werden • Natürlichkeitsfetischismus • Nicola Schmidt • nora imlau |
ISBN-10 | 3-446-28232-7 / 3446282327 |
ISBN-13 | 978-3-446-28232-2 / 9783446282322 |
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