Das Waldhaus (eBook)

Spiegel-Bestseller
Thriller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-29455-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Waldhaus -  Liz Webb
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Nur wenn du lügst, kommt die Wahrheit ans Licht ...
Als die 37-jährige Hannah in ihr Elternhaus nach London zurückkehrt, um ihren schwer dementen Vater zu versorgen, erwartet sie eine Überraschung. Er hält sie fälschlicherweise für ihre Mutter, die vor Jahren unter mysteriösen Umständen starb. Hannah steht unter Schock, vor allem weil ihr Vater sie immer wieder um Verzeihung bittet. Weiß er doch mehr über den Tod ihrer Mutter, als er damals zugeben wollte? Ist er vielleicht sogar schuld daran? Um die Wahrheit herauszufinden, schlüpft Hannah mehr und mehr in die Rolle ihrer Mutter und ahnt nicht, dass sie damit die düsteren Ereignisse der Vergangenheit unabwendbar heraufbeschwört ...

Lieferbarkeit in zwei Versionen (mit und ohne Farbschnitt). Es wird je nach Verfügbarkeit geliefert.

Liz Webb hat eine Ausbildung zur klassischen Tänzerin absolviert, arbeitete dann unter anderem als Sekretärin, Managerin eines Schreibwarenladens, Modell für Kunstkurse, Kellnerin, Stand-up-Comedian, Synchronsprecherin, Drehbuchautorin und Hörspielproduzentin, bevor sie ihr Thrillerdebüt »Das Waldhaus« schrieb. Sie lebt im Norden Londons.

Kapitel eins


Normale Menschen essen keine rohen Quitten. Doch ich versenke die Zähne in der pelzigen Haut eines prallen gelben Exemplars, und sofort zieht die Bitternis des Fruchtfleischs mir Gaumen und Gesicht zusammen. Die Quitte habe ich gestern Nacht, gegen zwei Uhr früh, vom Baum im Vorgarten meines Vaters gepflückt, als ich seiner Trage zum Rettungswagen folgte. Er befand sich auf Messers Schneide, aber heute Vormittag ist Dad wieder stabil und dämmert in seinem hohen, akkurat bezogenen Krankenhausbett vor sich hin. Der Ausblick hier oben, aus dem neunten Stock des University College Hospital, ist spektakulär, aber Dad bekommt davon nichts mit. Ich lehne die Stirn gegen das große umlaufende Eckfenster und bedampfe das Glas mit einem Kreis meines Quittenatems.

»Wo ist Feynman?«, meldet sich Dad plötzlich.

Ich setze ein Lächeln auf und drehe mich zu ihm um. »Er ist zu Hause«, antworte ich.

»Warst du mit ihm Gassi?«

»Ja, ich bin heute früh mit ihm um den Block.«

Dad nickt.

Ich nehme den zerkratzten Plastikbecher von Dads Tablett mit dem unangerührten Mittagessen und hebe den biegbaren Trinkhalm an seinen Mund.

»Wo ist Feynman?«, wiederholt Dad.

»Er ist tot«, murmle ich.

»Wann ist er gestorben?«

»Vor dreiundzwanzig Jahren.«

Dad nickt erneut.

Als ich den Becher auf dem wischfesten Tisch über dem Bett abstelle, schweift mein Blick zu dem reglosen alten Mann im Bett gegenüber und der neben ihm sitzenden schwitzenden Frau, die in dicken Wollstrümpfen steckt, obwohl es für September recht mild ist.

»Wo ist Feynman?«, fragt Dad schon wieder.

»Wer ist Feynman?«, entgegne ich unwirsch.

»Unser Hund!«

»Hab noch nie von ihm gehört.«

Bei dieser letzten Entgegnung sehe ich Panik in Dads wässrigen Augen aufflackern. Herrje. Was soll’s, dass wir dieses Gespräch heute schon zehnmal geführt haben. Immerhin bringt sich mein gebrechlicher, zerschlagener Vater die fünfzehn Sekunden, die es dauert, aktiv ein. Als ich mir mit dem Unterarm übers Gesicht wische, bleibt eine feuchte Schneckenspur meiner Tränen darauf zurück.

Feynman war ein wunderschöner goldener Labrador, der mir und meinem Bruder Reece gehörte, als wir noch Kinder waren. Er war nach Dads persönlichem Helden, dem schrulligen Quantenphysiker Richard Feynman, benannt. Beide Feynmans sind schon lange tot. Und wie der Zufall es will, erlagen sie beide einem Nierenleiden. Feynman der Physiker starb 1988, und seine letzten Worte lauteten angeblich, dass Sterben langweilig sei. In Anbetracht von Dads schleichendem Verfall die letzten sechs Monate, seit ich bei ihm eingezogen bin, kann ich ihm nur von ganzem Herzen beipflichten. Zumindest aus meiner Warte. Da Dad mittlerweile über das Gedächtnis eines Goldfischs verfügt, ist er sich seines nahenden Todes entweder völlig unbewusst, oder aber die Erkenntnis holt ihn wie ein fürchterlicher Schock tagtäglich immer wieder von Neuem ein. Ich hoffe aufrichtig, dass Ersteres der Fall ist. Reece, der schon immer mein genaues Gegenteil war, würde auf Letzteres hoffen.

Feynman der Hund starb 1996 infolge einer Niereninsuffizienz. Laut unserer Tierärztin, der blöden Kuh, war diese durch »eine mangelhafte Mundhygiene« herbeigeführt worden, und das trotz des fast schon religiösen Eifers, mit dem ich ihm seine besabberten Beißerchen schrubbte. Nachdem Feynman von der Tierärztin friedlich eingeschläfert worden war, hielten wir eine Familienbestattung im Garten ab. Ich hatte eines meiner schwarzen knielangen Schlabber-T-Shirts an, die ich mit vierzehn vornehmlich trug, als ich Feynman sein liebstes (und offenbar unnützes) Kauspielzeug mit ins Grab warf. Reece, der in seinem neuen Designeranzug steckte, den Mum ihm gerade erst zu seinem Achtzehnten gekauft hatte, warf ein Snoop-Dogg-Album hinterher. Dad, die Hände in den Taschen seiner kastanienbraunen Strickjacke vergraben, beweinte den herzzerreißenden Verlust seines langjährigen Gefährten offen. Und meine schöne Mutter, hinreißend in ihrem engen schwarzen Etuikleid, lehnte sich Halt suchend an meinen Vater, da ihre schwindelerregend hohen Stilettos mit den knallroten Sohlen im Gras versanken. Damals erschien mir das Ganze furchtbar traumatisch – aber ich hatte ja keine Ahnung von dem Orkan aus Hass und Schuldzuweisungen, der sich, nur drei Wochen später, um das Begräbnis meiner Mutter entfesseln würde.

»Wie geht es ihm denn?«, ruft die Wollstrumpffrau von der anderen Seite der makellosen Krankenstation rüber, wobei sie auf Dad zeigt.

»Mhmm«, brumme ich in der Hoffnung, dass sie mich, wenn ich jeglichen Blickkontakt vermeide, in Ruhe lassen wird. Ganz mein Glück wieder mal, dass Dad gegenüber dem einzigen anderen Patienten der voll besetzten Achtbettenstation liegen muss, der ebenfalls Besuch hat.

»Ihr Vater?«, erkundigt sie sich.

»Mhm.«

»Demenz?«

»Mhm.«

»Genau wie mein Vater«, sagt sie, auf den Bettlägerigen deutend. Sie spricht mit einem harten Akzent, den ich nicht einordnen kann. Ihr Vater unter der recht unkonventionellen gelb, grün und rot gestreiften Tagesdecke, die grell unter den anderen sieben blauen Bettbezügen hervorsticht, reagiert nicht.

Wie konnte mein einst so dynamischer, sportlicher Dad nur in diesem Kloster dämmernder Erinnerungen landen?

»Ist schlimme Sache, diese Demenz«, fährt sie fort. »Kappt die Menschen ab.«

»Mhm.«

Wie viele »Mhms« wird es wohl brauchen, um ihren Redefluss zu stoppen?

Sie wäre sicher entsetzt, sollte mir rausrutschen, dass Demenz nicht nur was Schlechtes ist. Aber für Dad hat sie nun mal einen makabren Vorteil: Er erinnert sich an praktisch nichts mehr aus den letzten dreiundzwanzig Jahren. Seine Zeitreisen führen ihn meist weit in die Vergangenheit zurück, als Mum noch lebte, als ich interessante Kieselsteine sammelte statt nervöser Ticks, und als Reece Dad nur »komplett daneben« nannte, wenn der behauptete, dass die Tottenham Hotspurs die Champions League gewinnen könnten.

Wie auch immer, Dad hat jetzt größere Probleme. Als die Notfallsanitäter gestern Nacht eintrafen, lag er, kaum noch atmend, am Fuß der Treppe, den linken Arm in einem unnatürlichen Winkel unter sich vergraben. Heute früh dann bekam ich mitgeteilt, dass er sich das Schlüsselbein gebrochen habe, aber so alt sei, dass man es nur sporadisch zusammenwachsen lassen würde; außerdem, dass es zu früh sei, um zu sagen, ob seine gegenwärtige Verwirrung der Gehirnerschütterung oder doch seiner normalen Demenz anzulasten sei. Das Schlimmste jedoch, auch wenn es nichts mit dem Sturz zu tun hat, war die Überraschung des Arztes, dass ich, als Dads Pflegerin, nichts von seinem fortgeschrittenen Prostatakrebs wusste. Jegliche Hoffnung auf Heilung sei vergebens, aber man habe ihm Morphin verabreicht, da man davon ausgehen muss, dass er beträchtliche Schmerzen leidet.

»Gute Birne?«, erkundigt sich Wollstrumpf und deutet auf die Quitte, an der ich mümmle. Sie hat die gleiche spitze Nase wie ihr nicht ansprechbarer Vater – ein bisschen wie Papa Spitznase und Tochter Spitznase aus einem lustigen Zeichentrickfilm über eine glückliche Spitznasenfamilie. Ich selbst bin kein erkennbares Teil einer Familie. Ich habe zwar Dads früher mal braunes Haar geerbt, jedoch nicht seine einst feinen Gesichtszüge oder seinen strammen Fahrradfahrerkörper. Überhaupt habe ich meinen Eltern nie geähnelt, weder meinem attraktiven, drahtigen Vater, noch meiner wunderschönen, gertenschlanken Mutter – obwohl der ganze Stress, meine beschämenden Geheimnisse zu verbergen, mich dieses Jahr um gefühlt die Hälfte meines Körpergewichts gebracht hat und ich gelegentlich mit Befremden meine, in einer spiegelnden Schaufensterscheibe Mums Silhouette in meiner zu erhaschen.

»Die Birne?«, wiederholt Wollstrumpf. Ihre zierlichen weißen Stiefeletten quietschen auf dem hellgrauen Linoleum, als sie sich zu mir umdreht. »Ist sie saftig? Ich kaufe mein Obst immer auf dem Markt. So kann ich anfassen, bevor ich kaufe.«

»Mhm«, erwidere ich.

»Haben Sie noch eine?«, fragt sie trotz meiner Mauer aus »Mhms« unverdrossen optimistisch.

»Ah-ahmm«, verneine ich kopfschüttelnd.

Ich habe noch vier in meiner Tasche, aber wozu ihr den Tag noch mehr vermiesen? Es handelt sich nun mal nicht um süße, saftige Birnen; das hier sind harte, fiese Quitten. Quitten werden normalerweise nur gegart verzehrt. Zu schlotziger blassrosa Marmelade verkocht, die niemand, der bei rechtem Verstand ist, essen würde, wenn es als Alternative Erdbeere, Himbeere oder eigentlich egal welche Kackbeere gäbe. Rohe Quitten sind sogar noch widerlicher. Und diese hier sind ganz besonders ungenießbar, da sie weit vor ihrer Zeit sind. Trotzdem, ich habe ihnen die letzten sechs Monate im Vorgarten meines Vaters ungeduldig beim Wachsen zugesehen und verzweifelt darauf gewartet, dass sie reiften, da sie mich so sehr an Mum erinnern. Sie war eine fürchterliche Köchin, aber jeden Herbst wieder verkündete sie: »Die Früchte sind reif«, schlang sich theatralisch ein Tuch um den Kopf und veranstaltete ein Riesenschauspiel daraus, unsere Quitten mit einem hübschen Weidenkorb zu »ernten«. Danach lagerte sie die Früchte behutsam für ein paar Wochen ein, damit sie schön weich wurden, wobei sie sie immer wieder einzeln überprüfte wie kostbare Schätze. Und dann, endlich – eine alberne Rüschenschürze umgeknotet und zum Radio mitträllernd –, verbrachte sie Stunden damit, sie mit bergeweise Zucker einzukochen, um kübelweise Marmelade herzustellen.

Ich verspüre nicht den Wunsch, die schleimige Pampe selbst zu fabrizieren, aber um mich mit meiner lebhaften,...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2024
Übersetzer Ivana Marinovi?
Sprache deutsch
Original-Titel The Daughter
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2024 • Claire Douglas • Debüt • eBooks • Erstmals auf Deutsch • Joy Fielding • Julie Clark • London • mit Farbschnitt • Mord • Neuerscheinung • Spannung • The Daughter • Thriller • Thrillerdebüt
ISBN-10 3-641-29455-X / 364129455X
ISBN-13 978-3-641-29455-7 / 9783641294557
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