Hans Keilson - Immer wieder ein neues Leben (eBook)

Biographie
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2024 | 1. Auflage
720 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491852-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hans Keilson - Immer wieder ein neues Leben -  Jos Versteegen
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Hans Keilson, geboren 1909 in Bad Freienwalde, war Arzt und Dichter, Sportlehrer und Musiker. 1933 erschien sein erster Roman »Das Leben geht weiter« bei S. FISCHER. Die Flucht in die Niederlande 1936 rettete ihm das Leben. Nach dem Krieg kümmerte sich Hans Keilson um die Traumata von Kriegswaisen - er, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Eine euphorische Kritik in der »New York Times« machte Hans Keilson 2010 weltberühmt, seine Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Er starb 2011 in den Niederlanden.  Jos Versteegen vermittelt in seiner Biographie zum ersten Mal ein vollständiges und differenziertes Bild dieses charismatischen Menschen und seines bewegten Lebens.

Jos Versteegen (geb. 1956) ist ein niederländischer Dichter, Dozent und Übersetzer. Er hat sieben Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt die Sammlung »Woon ik hier«, über Erinnerungen alter Menschen. Versteegen übersetzte die Gedichte, die Hans Keilson im Versteck für seine große Liebe schrieb, ins Niederländische. Sie erschienen 2016 unter dem Titel »Sonette für Hanna«. Die Übersetzung war der Auftakt für eine Biographie über Hans Keilson.

Jos Versteegen (geb. 1956) ist ein niederländischer Dichter, Dozent und Übersetzer. Er hat sieben Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt die Sammlung »Woon ik hier«, über Erinnerungen alter Menschen. Versteegen übersetzte die Gedichte, die Hans Keilson im Versteck für seine große Liebe schrieb, ins Niederländische. Sie erschienen 2016 unter dem Titel »Sonette für Hanna«. Die Übersetzung war der Auftakt für eine Biographie über Hans Keilson. Marita Keilson-Lauritz ist Literaturwissenschaftlerin und lebt in den Niederlanden. Das Thema Homosexualität und Literatur bildet einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Sie ist Herausgeberin des »Tagebuchs 1944« und der »Sonette für Hanna« von Hans Keilson.

Jetzt gibt es endlich auch eine Biografie über ihn

[...] eine lesenswerte und wichtige Biografie [....].

Teil 1 Die kleine und die große Stadt


1 Ein Kurort bei Berlin


1904–1920

»So hilf mir doch, Else«

Das Textilgeschäft und die Familie


Das 20. Jahrhundert war noch jung, als ein 28-jähriger jüdischer Mann mit einem Jubelschnurrbart, Max Keilson, im kleinen Kurort Freienwalde an der Oder ein Textilgeschäft eröffnete.

»Geschäfts-Eröffnung«: Mit großen Buchstaben hatte er es in die Zeitung setzen lassen. Am Dienstag, den 22. März 1904, war es so weit. »Seiden-, Manufaktur-, Kurz-, Weiß- u. Wollwaren« – das alles konnte man in dem neuen Laden an der Königstraße, der Einkaufsstraße von Freienwalde, kaufen. Max Keilson, klein, schmächtig, aber rührig, hatte sein eigenes Geschäft, und damit dürfte ihm ein Wunsch in Erfüllung gegangen sein.[4] In Mitteldeutschland hatte er in verschiedenen Textilfirmen gearbeitet.[5] Und er war als Handelsreisender für Textilien unterwegs gewesen.[6]

Es war keine schlechte Idee, hier ein Geschäft zu beginnen, in Freienwalde, einem Kurort-in-Entwicklung. Seit 1866 war der Ort ans Eisenbahnnetz angeschlossen, wichtig für die Verbindung nach Berlin, sechzig Kilometer westlich gelegen. Die Einwohnerzahl wuchs, und im selben Jahr, als dort zum ersten Mal ein Zug hielt, begann man mit dem Bau eines Gymnasiums.[7] Auch Industrie gab es in der Umgebung: eine Alaunfabrik und mehrere Backsteinfabriken. Die fünf Backsteinfabriken, die 1888 in Betrieb waren, gaben rund achthundert Arbeitern Arbeit und Brot.[8]

Pensionierte Berliner mit gutgefüllten Brieftaschen ließen sich Villen bauen, ein Kurhotel und eine Badeanstalt entstanden. In der umliegenden Hügellandschaft wurden Wanderwege angelegt mit Ruhebänken, Waldhütten und zwei Aussichtstürmen.[9] Um die Jahrhundertwende war Freienwalde zum wichtigsten Kur- und Erholungsort in der Umgebung von Berlin angewachsen. Einem Reiseführer zufolge kamen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg in der Sommersaison etwa 5000 Besucher. Und das, während die Stadt nur etwa zehntausend Einwohner zählte.[10]

Einige Monate nach der Eröffnung seines Geschäftes wurde Max Keilson noch sesshafter: Am 21. Juni 1904 gaben er und seine Verlobte Else Buttermilch, eine sechsundzwanzigjährige junge Frau mit großen blauen Augen, einander das Jawort.[11] Wie und wo sie einander kennengelernt hatten, ist unbekannt. Elses Vater handelte mit Stoffen, und möglicherweise hatte Max in seiner Zeit als Handelsreisender beruflich mit ihm zu tun. Das junge Paar bezog eine Mietwohnung im ersten Stock desselben Hauses, in dem sich unten der Laden befand: ein stattliches neues Eckhaus, höher als die angrenzenden Gebäude.[12] Sie führten einen koscheren Haushalt: Milchiges und Fleischiges hielten sie streng getrennt, aber sie aßen wohl Schinken. Das Befolgen der Speisegesetze erwies sich als schwierig, und die Zügel wurden immer mehr gelockert. Max kaufte, wenn er für geschäftliche Einkäufe in Berlin war, dort ab und zu koschere Fleischwaren.[13]

Großes Glück hätte es im Hause Keilson am 3. Mai 1905 geben sollen, denn an diesem Tag kam das erste Kind von Max und Else zur Welt: Herbert. Aber der kleine Junge starb nach vierzig Tagen, die Todesursache ist unbekannt.[14] In der Familie wurde später erzählt, dass er gleich nach der Geburt gestorben sei, weil die Nabelschnur um seinen Hals geschlungen war und der diensthabende Arzt einen Fehler gemacht hatte.[15] Herbert bekam ein kleines Grab auf dem jüdischen Friedhof in Freienwalde.

Hildegard, Rufname Hilde, geboren am 28. Januar 1907, war das zweite Kind der Keilsons. Der dritte und letzte Spross kam beinahe drei Jahre später: Hans Alex. Er erblickte das Licht der Welt am Sonntag, den 12. Dezember 1909. In einer Geburtsanzeige meldeten die Eltern »die glückliche Geburt eines kräftigen Jungen«.[16]

In dieser Zeit gab es drei verkaufsoffene Sonntage, an denen man als Ladeninhaber eine Umsatzsteigerung erwarten konnte, je näher das Weihnachtsfest rückte: einen kupfernen, einen silbernen und einen goldenen Sonntag, das waren der dritte, zweite und der letzte Sonntag vor Weihnachten. Die Geburt von Hans fiel auf den silbernen Sonntag. Der Vater öffnete zur Feier des Tages eine Flasche Sekt.[17] Er und Else hatten wieder einen Sohn. Einen Jungen mit rötlich blondem Haar und graublauen Augen.

Auf Reisen

Die Wurzeln des Vaters, Max Keilson, lagen in Osteuropa, seine Eltern waren orthodoxe Juden aus Russisch-Litauen. Ihre Namen: Nathan Keilson und Chawa Keilson, geborene Mossesson.[18] Um 1870 hatten sie den Schritt gewagt, ihre Heimat zu verlassen und sich in Preußen niederzulassen, vielleicht aus beruflichen Gründen, vielleicht, weil sie sich dort sicherer fühlten als im Zarenreich. 1869 erhielten die Juden im Norddeutschen Bund, zu dem Preußen gehörte, die rechtliche Gleichstellung. Das Gesetz galt auch im Deutschen Kaiserreich, das zwei Jahre später gegründet wurde. Der Ort, an dem die Keilsons sich niederließen, war Eydtkuhnen in Ostpreußen, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewann: 1860 bekam es eine Bahnverbindung mit Königsberg, dem wirtschaftlichen und kulturellen Herz Ostpreußens; ein Jahr später wurde die Bahnlinie mit dem russischen Bahnnetz verbunden.

Auch wenn Eydtkuhnen trotz der Bahnlinie und der umsteigenden Reisenden vermutlich eher langweilig war, das Familienleben der Keilsons muss recht lebendig gewesen sein: acht Kinder, sechs Jungen, zwei Mädchen.[19] Max, geboren am 22. Juli 1875, war der sechste in der Reihe. Er kam in Eydtkuhnen als russischer Staatsbürger zur Welt, denn die Immigrantenfamilie erhielt erst im Herbst 1876 die preußische Staatsbürgerschaft.[20] Schon jung bekam er, weil die Mutter kränklich war, die Aufgabe, auf seine beiden jüngeren Schwestern aufzupassen, was ihn so viel Zeit und Aufmerksamkeit kostete, dass er in der Schule ins Hintertreffen geriet.[21] Er begann eine Ausbildung als Uhrmacher, brach sie aber bald wieder ab und ging bei verschiedenen Handelshäusern für Textilien und bei Manufakturen in die Lehre.[22]

Von Eydtkuhnen aus wagten Nathan und Chawa ein neues Abenteuer: Sie zogen nach Königsberg. Als Prokurist einer dort ansässigen großen Holzhandelsfirma machte Nathan Geschäftsreisen, zum Beispiel nach England. Eine solche Reise galt damals in seinen Kreisen geradezu als eine Weltreise. Er muss es geliebt haben, die Grenzen und Beschränkungen seines Lebens zu durchbrechen. Unterwegs nahm er es mit den Speisegesetzen nicht so genau. Auch in politischer Hinsicht war er ein Freigeist: Er hegte Sympathie für den Sozialismus. 1907, mit fünfundsechzig, starb er in Königsberg. Seine Frau wurde siebzig.[23]

Über die Geschichte dieser Großeltern wusste Hans nicht viel. Keinen von beiden hat er gekannt. Vater Max erzählte ihm hin und wieder von früher, aber meistens war das nicht viel. Hans bedauerte später, dass er nicht mehr Fragen gestellt hatte.[24]

Else Buttermilch, Hans Keilsons Mutter, kam aus dem Osten Deutschlands, aus Schlesien, das heute zu Polen gehört. Sie wurde am 5. Mai 1878 in der kleinen Stadt Hirschberg geboren, als Tochter des Textilkaufmanns Alexander Buttermilch und seiner Frau Mathilde Salisch. Sie war das einzige Kind, aber es gab zwei ältere Halbschwestern, Töchter aus der ersten Ehe ihres Vaters. Die Familie war gemäßigt orthodox jüdisch.

Der Textilkaufmann lebte nicht mehr, als Hans zur Welt kam, aber durch seinen zweiten Vornamen, Alex, war er mit ihm verbunden.[25] Aus der Großelterngeneration lernte Hans nur seine Großmutter Mathilde Buttermilch-Salisch kennen, geboren 1845, die aus einer wohlhabenden Familie mit vielen Textilkaufleuten kam.

Hans Keilson erinnerte sich seiner Großmutter als einer immer schwarz gekleideten, lebhaften Frau mit einem klugen, durchdringenden Blick: Hinter ihrer randlosen Brille schien ihr nichts zu entgehen. Im Sommer kamen Else, Hans und Hilde in den Ferien zu ihr; Max blieb daheim, weil er das Geschäft geöffnet halten wollte. Schon die Bahnfahrt war für die Kinder ein Erlebnis, durch den Lärm und die Dampf- und Rauchwolken, die die Lokomotive von sich gab.

Mathilde Buttermilch war befreundet mit dem Inhaber eines großen Hirschberger Spielwarengeschäftes mit mehreren Etagen. Der Mann hatte selbst keine Kinder und empfing Hans und Hilde, als wären sie sein Sohn und seine Tochter. Sie durften mit allem spielen, worauf ihr Auge fiel. Hans erinnerte sich später vor allem an Gesellschaftsspiele und an Handpuppen. Auch mit den Kindern eines Hirschberger Arztes spielten sie. Und es wurden lange Spaziergänge in der Umgebung gemacht.

Am 1. Februar 1920 schlug für Großmutter Mathilde die letzte Stunde: Sie starb ganz unerwartet auf der Straße, unterwegs zu einem Einkauf.[26] Zur Beerdigung kamen Else und Max nach Hirschberg. Es war das erste Mal, dass sie zu zweit eine Reise machten.[27] Der...

Erscheint lt. Verlag 29.5.2024
Übersetzer Marita Keilson-Lauritz
Zusatzinfo Mit 61 Bildern in sw und Farbe
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Arzt • Biographie • Ein Buch von S. Fischer • Emigration • Exil • Hans Keilson • Holland • Jüdisches Leben • Lyrik • Musiker • Nationalsozialimus • Niederlande • Psychiater • Psychoanalyse
ISBN-10 3-10-491852-X / 310491852X
ISBN-13 978-3-10-491852-5 / 9783104918525
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