Der norwegische Gast -  Anne Holt

Der norwegische Gast (eBook)

Ein Fall für Hanne Wilhelmsen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-217-0 (ISBN)
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Ein Mord in einem abgelegenen Bergdorf Ein Schneesturm wütet in den Bergen und lässt einen Zug entgleisen. Die Passagiere - unter ihnen die ehemalige Kommissarin Hanne Wilhelmsen - müssen Zuflucht in einem einsamen Berghotel suchen. Während sie eingeschneit werden, geschieht ein grausamer Mord. Panik macht sich breit. Zudem stehen geheimnisvolle Wachen vor den Türen, die etwas oder jemanden zu beschützen scheinen. Hanne, die im Rollstuhl sitzt, ist ganz auf sich allein gestellt, während sie alles daran setzt, den Mörder zu enttarnen.

Anne Holt ist mit über 10 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.

Anne Holt ist mit über 10 Millionen verkauften Büchern weltweit eine der erfolgreichsten Krimiautor:innen Skandinaviens. Sie ist ehemalige Justizministerin Norwegens, Anwältin, Journalistin, TV-Nachrichtenredakteurin und Moderatorin. Zu großem Ruhm als Autorin gelangte sie mit den zwei Krimiserien um Inger Johanne Vik (verfilmt als »Modus. Der Mörder in uns«) und Hanne Wilhelmsen. Ihre neueste Serie dreht sich um die Juristin Selma Falck.

0 laut Beaufortskala: Auswirkungen des Windes im Gebirge


Windstille. Windgeschwindigkeit: unter 1 km/h Schneeflocken fallen fast senkrecht, oft in pendelnder Bewegung.

1 Da nur der Lokomotivführer ums Leben kam, kann von einer Katastrophe keine Rede sein. Zweihundertneunundsechzig Menschen befanden sich an Bord, als der Zug aufgrund eines meteorologischen Phänomens, das ich noch immer nicht ganz verstanden habe, entgleiste und die Einfahrt zum Finsenut-Tunnel verfehlte. Ein toter Lokomotivführer entspricht nur 0,37 Prozent einer solchen Menschenmenge. In Anbetracht der Verhältnisse hatten wir mit anderen Worten ein Schweineglück. Obwohl viele bei dem Unfall verletzt wurden, handelte es sich in den meisten Fällen um leichtere Blessuren. Arm- und Beinbrüche. Gehirnerschütterungen. Schrammen und Schnittwunden und Kratzer: Es gab kaum einen Menschen an Bord, der unversehrt geblieben war. Aber es gab nur ein einziges Todesopfer. Dem Geschrei nach zu urteilen, das den Zug in den Minuten nach dem Unfall erfüllte, hätte man jedoch auf eine geradezu kosmische Katastrophe schließen können.

Ich verhielt mich still. Ich war davon überzeugt, eine der wenigen Überlebenden zu sein, und außerdem hatte ich einen strampelnden Säugling auf den Knien liegen. Das Kind war bei der Kollision durch die Luft geflogen, hatte meine Schulter gestreift und war gegen die Wand direkt vor dem Rollstuhl geprallt, um dann auf meinem Schoß zu landen. Reflexartig hatte ich meine Arme um das schreiende Bündel geschlungen. Ich fing wieder an zu atmen und bemerkte den trockenen Geruch von Schnee.

Die Temperatur sank in bemerkenswert kurzer Zeit von unbehaglicher, stickiger Wärme auf Frostschädenniveau. Der Zug hatte Schlagseite. Nicht sehr stark, aber genug, dass meine Schulter schmerzte. Ich saß auf der linken Seite im Abteil, als einzige Rollstuhlfahrerin im ganzen Zug. Eine grauweiße Wand presste sich auf meiner Seite gegen die Fenster. Mir wurde klar, dass diese gewaltige Schneemasse uns gerettet hatte; ohne den Schnee hätte der Zug sich überschlagen.

Die Kälte war lähmend. Kurz vor Hønefoss hatte ich meinen Pullover ausgezogen. Jetzt saß ich in einem dünnen T-Shirt da und drückte ein Baby an meine Brust, während ich feststellte, dass es in den Wagen schneite. Die nackte Haut meiner Arme war schon so unterkühlt, dass die wirbelnden blauweißen Flocken dort erst eine kalte Sekunde lang liegen blieben, ehe sie schmolzen. Auf der gesamten rechten Zugseite waren die Fensterscheiben zerbrochen.

Der Wind musste stärker geworden sein in den wenigen Minuten, die vergangen waren, seit wir im Bahnhof Finse zum Ein- und Aussteigen gehalten hatten. Nur zwei Fahrgäste waren ausgestiegen. Ich hatte zwar beobachtet, wie sie sich gegen den Wind stemmen mussten, als sie sich über den Bahnsteig in Richtung Hotel kämpften, aber ich hatte doch nur den Eindruck von einem normalen, stürmischen Wintertag im Hochgebirge gehabt. Als ich da aber so saß, meinen Pullover fest um das Baby gewickelt und außerstande, meinen Mantel vorn Haken zu nehmen, befürchtete ich, der Wind könne so stürmisch und der Schnee so kalt sein, dass wir innerhalb kurzer Zeit erfrieren würden. Ich beugte mich, so weit ich konnte, schützend über den Säugling. Im Nachhinein kann ich wirklich nicht mehr sagen, wie lange ich so dasaß, ohne Kontakt zu anderen Menschen, ohne ein Wort zu sprechen, während die Rufe der anderen Fahrgäste sich als vereinzelte Lautfetzen in das kompakte Wüten des Sturmes mischten. Vielleicht waren es zehn Minuten. Vielleicht nur wenige Sekunden.

»Sara!«

Eine Frau starrte mich und das Baby wütend an. Das Baby war ganz in Rosa gekleidet, von der Jacke bis zu den winzigen Socken. Auch die kleinen Fäuste, die ich mit den Händen zu schützen versuchte, und das wütende Gesicht, das schrie und schrie, waren zartrosa.

Das Gesicht der Mutter dagegen war blutrot. Aus einem tiefen Schnitt auf der Stirn lief Blut. Das hinderte sie allerdings nicht daran, ihr Töchterchen an sich zu reißen. Mein Pullover fiel auf den Boden. Die Frau wickelte das Kleine mit so geübten Griffen in eine Decke, dass es sich unmöglich um ihr erstes Kind handeln konnte. Sie verbarg das Köpfchen unter der Decke, drückte das Bündel an ihre Brust und schrie mich vorwurfsvoll an:

»Ich bin gefallen! Ich bin durch den Wagen gegangen, und dann bin ich gefallen!«

»Alles in Ordnung«, sagte ich langsam, meine Lippen waren so steif, dass mir das Sprechen schwerfiel. »Ihrem Kind ist nichts passiert, soweit ich das beurteilen kann.«

»Ich bin gefallen«, weinte die Mutter und trat nach mir, ohne mich jedoch zu treffen. »Ich habe Sara fallen lassen. Ich habe sie fallen lassen!«

Da ich nun von dem lästigen Kind befreit war, griff ich nach meinem Pullover und zog ihn an. Obwohl ich unterwegs nach Bergen war, wo mich strömender Regen und zwei Grad über null erwarteten, hatte ich die Daunenjacke mitgenommen. Endlich konnte ich sie vom Haken nehmen, an dem sie wie durch ein Wunder noch immer hing. Da ich keine Mütze hatte, band ich mir den Schal um den Kopf. Auch Handschuhe hatte ich keine dabei.

»Keine Angst«, sagte ich und schob die Hände in die Jackenärmel. »Sara weint. Das ist ein gutes Zeichen, glaube ich. Schlimmer sieht es da bei Ihnen aus …«

Ich nickte in ihre Richtung. Aber sie registrierte das nicht. Das Kind weinte noch immer und ließ sich auch nicht dadurch beruhigen, dass die Mutter versuchte, es unter ihre eigene, viel zu enge Pelzjacke zu stopfen. Die Stirnwunde blutete sehr stark, und ich würde schwören, dass das Blut gefroren war, ehe es den Boden erreichte, der bereits von Blut und Eis bedeckt war. Irgendjemand war auf einen Karton Orangensaft getreten. Der gelbe Eisbuckel lag wie ein riesiges Eidotter auf dem weißen Schneeteppich.

Die Wärme wollte nicht in meinen Körper zurückkehren. Im Gegenteil, die viel dickere Kleidung schien die Lage noch zu verschlimmern. Das Taubheitsgefühl legte sich zwar nach und nach, aber es war einem Prickeln auf meiner Haut gewichen, das sich wie Messerstiche anfühlte. Ich zitterte so sehr, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, um meine Zunge nicht zu verletzen. Vor allem hätte ich gern den Rollstuhl umgedreht, um die vielen Stimmen mit Gesichtern in Verbindung bringen zu können. Das Weinen einer Frau, die sich offenbar unmittelbar hinter mir befand, oder der Sturzbach von Flüchen und Verwünschungen eines Jungen im Stimmbruch. Ich wollte wissen, wie viele Tote es gab, wie schwer die Überlebenden verletzt waren und ob es möglich wäre, die Fenster abzudichten, durch die das mit jeder Sekunde stärker werdende Unwetter drang.

Ich wollte mich umdrehen, konnte aber die Hände nicht aus den Jackenärmeln ziehen.

Ich wollte auf die Uhr schauen, konnte aber die Vorstellung von Kälte an meiner Haut nicht ertragen. Die Zeit war so verschwommen wie das Schneegestöber vor dem Wagenfenster, ein Chaos in Grau mit bläulich schimmernden Streifen, die von den Leuchtröhren an der Decke stammten. Seit dem Unfall musste doch mehr Zeit verstrichen sein, als ich gedacht hatte. Es musste auch kälter sein, als der Zugführer noch kurz vor Finse über Lautsprecher bekannt gegeben hatte. Er hatte die Raucher gewarnt, es herrschten zwanzig Grad unter null, und es lohne sich nicht, für zwei Minuten Genuss auf dem Bahnsteig herumzustehen. Aber da musste er sich geirrt haben. Zwanzig Grad unter null hatte ich schon oft erlebt. Aber noch nie hatte es sich so angefühlt wie jetzt. Das hier waren tödliche Minusgrade, und meine Arme wollten mir nicht gehorchen, als ich doch entschied, auf die Uhr zu schauen.

»Hallo!«

Ein Mann hatte die automatischen Glastüren vor den Gepäckfächern aufgestemmt. Er stand breitbeinig auf dem schräg abfallenden Boden, bekleidet mit einem blauen Spezialanzug für Schneemobile, einer riesigen Ledermütze mit Ohrenklappen und einer knallgelben Alpinbrille.

»Ich komme, um euch zu retten«, brüllte er und streifte sich die Brille unter das Kinn. »Und immer ganz ruhig bleiben. Ist nur eine kleine Spritztour bis zum Hotel!«

Was ein einzelner Mann in diesem Wagen voller jammernder Menschen ausrichten könnte, war mir allerdings unklar. Trotzdem schien die bloße Anwesenheit des Burschen auf uns alle beruhigend zu wirken. Sogar das rosafarbene Baby hörte auf zu weinen. Der Junge, der seit dem Unfall in einem fort geflucht hatte, brüllte ein letztes Mal:

»Wird ja auch verdammt noch mal Zeit, dass jemand kommt. Fuck, Mann. Scheiße!«

Dann verstummte er.

Ich war unter Umständen kurz eingeschlafen. Vielleicht war ich im Begriff zu erfrieren. Die Kälte machte mir jedenfalls nicht mehr sonderlich viel zu schaffen. Ich habe von solchen Fällen gelesen. Obwohl ich nicht behaupten will, diese behagliche, einlullende Wärme verspürt zu haben, die angeblich den Erfrierungstod ankündigt, klapperte ich wenigstens nicht mehr mit den Zähnen. Mein Körper schien sich für eine andere Strategie entschieden zu haben. Er wollte jedenfalls nicht mehr kämpfen und zittern. Stattdessen spürte ich, wie ein Muskel nach dem anderen nachgab und sich entspannte. Zumindest in dem Teil meines Körpers, dessen Bewegungen ich weiterhin unter Kontrolle habe.

Ich bin aber nicht sicher, ob ich eingeschlafen war.

Aber mir fehlt ein Stück Erinnerung. Der Retter musste schon vielen geholfen haben, als ich plötzlich zusammenschreckte.

»Was zum Teu–«

Er stand über mich gebeugt. Sein Atem brannte an meiner Wange, und ich glaube, dass ich lächelte. Eine Sekunde später hockte er vor mir und betrachtete meine Knie. Oder...

Erscheint lt. Verlag 12.6.2024
Reihe/Serie Hanne-Wilhelmsen-Reihe
Übersetzer Gabriele Haefs
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Berge • Berghotel • Hanne Wilhelmsen • locked room • Norwegen • Rätsel • Rollstuhl • Scandicrime • Schnee • Schneesturm • Skandinavien • weibliche Ermittlerin
ISBN-10 3-03792-217-6 / 3037922176
ISBN-13 978-3-03792-217-0 / 9783037922170
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