Memorial Drive (eBook)

Erinnerungen einer Tochter
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-27743-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Memorial Drive -  Natasha Trethewey
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»Eine Meditation über Rassismus, Klassenzugehörigkeit und Trauer. Und am Ende doch sehr positiv - einfach herzzereißend.« Barack Obama
Natasha Trethewey ist neunzehn Jahre alt, als sich ihr Leben für immer verändert: ihr ehemaliger Stiefvater erschießt ihre Mutter. Heute stellt sich die mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Dichterin die Frage, wie diese Erfahrung sie zu der Künstlerin geformt hat, die sie geworden ist. Eindringlich und mit schonungslosem Blick nimmt Trethewey diese tiefgreifende Erfahrung von Schmerz, Verlust und Trauer als Ausgangspunkt, um den tragischen Verlauf des Lebens ihrer Mutter zu erkunden und zu verstehen, wie ihr eigenes Leben durch deren unerschütterlicher Liebe und Widerstandskraft geprägt wurde. Indem sie die Lebenslinien ihrer Mutter im zutiefst von Rassentrennung geprägten amerikanischen Süden und die ihrer eigenen Kindheit als »Kind von Rassenmischung« in Mississippi nachzeichnet, lotet Trethewey ihr Gefühl der Entwurzelung und des Unbehaustseins in jener Zeit aus, die in dem erschütternden Verbrechen mündet, das sich 1985 am Memorial Drive in Atlanta ereignete.

Natasha Trethewey ist eine vielfach ausgezeichnete amerikanische Lyrikerin: u.a. Pulitzer Prize, Guggenheim Fellowship, Puchcart Prize, US-Poet Laureate. Sie war Robert W. Woodruff Professorin für Englisch and Creative Writing an der Emory University in Atlanta, wo sie von 2001 bis 2017 lehrte. Heute ist Trethewey Mitglied des Board of Trustees und Professorin für Englisch an der Northwestern University.

PROLOG


Das letzte Bild von meiner Mutter, abgesehen von den Fotos ihrer Leiche am Tatort, ist ein formelles Porträt, entstanden nur wenige Monate vor ihrem Tod. Sie posierte dafür in einem Ketten-Fotostudio, bekannt für seine fachgerechten, aber nicht weiter bemerkenswerten Fotos: Babys, die man mit Handpuppen zum Lachen gebracht hatte, Kinder in identischen Weihnachtspullovern, der Größe nach gestaffelt – alles vor einem gängigen Hintergrund. Manchmal ist es ein himmelblauer Fotohintergrund, der aussieht wie mit einer Feder gebürstet, oder eine herbstliche Szene mit rot-gelbem Laubwerk und einem Koppelzaun. Für stimmungsvollere Porträts tritt, wie um eine Aura von Ernsthaftigkeit oder formeller Eleganz zu erzeugen, der einfarbig schwarze Hintergrund in Aktion.

Sie war vierzig. Für die Fotoaufnahmen hatte sie ein langärmliges schwarzes Etuikleid gewählt, der hohe Kragen am Hals offen. Sie blickt nicht in die Kamera, sondern fixiert einen fernen Punkt, offenbar knapp über meiner Kopfhöhe, und ihr Gesicht ist so unergründlich, wie es immer war – die hohe, elegante Stirn faltenlos glatt, eine Werbetafel, auf der nichts steht. Sie lächelt auch nicht, was ihr Kinngrübchen noch prononcierter macht, und ihre Kieferlinie über dem schlanken Hals ist auf eine weiche Art eckig. Sie sitzt vollkommen aufrecht, ohne dass es gezwungen oder unbequem aussieht. Vielleicht beabsichtigte sie, Jahre später auf das Foto zurückzublicken und zu sagen: »Da fing es an, mein neues Leben.« Mich trifft der Gedanke zutiefst, dass es das war, was sie wollte: dokumentieren, dass sie eine Frau war, die es so weit geschafft hatte, vor der sich jetzt der Rest ihres Lebens auftat.

Dieser Gedanke hat mich immer mit Verzweiflung erfüllt, und so erzählte ich mir jahrelang lieber andere Geschichten. In einer Version wusste sie, dass sie bald getötet werden würde. Ich weiß, dass sie mit Freundinnen von der Arbeit mehr zur Unterhaltung bei einem Medium war; so viel erzählte sie mir, aber sie sagte nie, was sie dabei erfahren hatte. Um dieselbe Zeit hatte sie auch mehrere Lebensversicherungspolicen abgeschlossen, daher sagte ich mir jahrelang, sie müsse Vorkehrungen für das Unvermeidliche getroffen und – in ihren letzten Lebenswochen – sichergestellt haben, dass für ihre Kinder gesorgt wäre, wenn sie nicht mehr da war.

In Wirklichkeit sagte ihr das Medium wohl allenfalls irgendetwas Verheißungsvolles über ihre Zukunft – Liebesglück vielleicht oder positive Aussichten in ihrem gerade erst angenommenen neuen Job als Personalleiterin bei der County-Behörde für mentale Gesundheit. Ich weiß, dass die Versicherungen einfach zu den Sozialleistungen gehörten, die dieser Job mit sich brachte: Sie hatte sie vermutlich während der Vergünstigungsfrist für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgeschlossen. Und doch tröstete mich das Narrativ, dass sie im Bewusstsein dessen, was kommen würde, stoisch geplant hatte. Ich ertrage die Alternative nicht, die Vorstellung von jenem schrecklichen letzten Moment, in dem sie plötzlich erkennt, dass sie gleich sterben wird, nachdem sie gerade noch geglaubt hat, entkommen zu sein. Vielleicht liegt die Wahrheit ja irgendwo zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Pragmatismus.

Rückblickend sehe ich dieses Porträtfoto in seiner Düsterkeit anders – als hätte der Fotograf etwas Künstlerisches hervorbringen wollen, statt eines gewöhnlichen Studioporträts. Es ist, als hätte er aus dem Negativraum um sie herum einen Rahmen gemacht, um ein schwieriges Wissen in den Blickpunkt zu rücken: die dunkle Vergangenheit hinter ihr, ihr erhelltes Gesicht in eine Zukunft weisend, die ihr Blick fixiert.

Und doch ist da – unleugbar – noch etwas anderes, elegisch schon damals: ein seltsamer heller Winkel gleich hinter ihrem Kopf, vielleicht ein Fehler des Fotografen, was wirkt, als hätte sich eine Tür geöffnet, ein Durchgang, durch den sie, wenn sie sich umdreht, demnächst verschwinden könnte. Wenn ich das Bild jetzt betrachte, im Wissen um das, was kommen würde, sehe ich, was der Fotograf noch gemacht hat. Er hat sie so dargestellt: ihr schwarzes Kleid so schwarz wie der Fotohintergrund, sodass sie, bis aufs Gesicht, tatsächlich Teil dieses Dunkels ist, aus ihm auftaucht wie aus den Tiefen der Erinnerung.

Fast dreißig Jahre nach dem Tod meiner Mutter kehrte ich zum ersten Mal an den Ort zurück, an dem sie ermordet wurde. Ich war nicht mehr dort gewesen, seit ich mit neunzehn ihre Wohnung hatte ausräumen müssen und alles entsorgt hatte, was ich nicht mitnehmen konnte – oder wollte: sämtliche Möbel und Haushaltsgegenstände, ihre Kleidung, ihre umfangreiche Schallplattensammlung. Behalten hatte ich nur ein paar von ihren Büchern, einen schweren Gürtel aus Patronen und eine einzige Pflanze, die sie geliebt hatte – eine Dieffenbachie. Meine ganze Kindheit hindurch war es meine Aufgabe gewesen, mich um sie zu kümmern, jede Woche die oberen Blätter abzustauben und zu besprühen und die braun gewordenen unteren abzuschneiden. Pass auf, wenn du mit ihr umgehst, warnte mich meine Mutter. Eine banale, scheinbar überflüssige Ermahnung, aber der Saft der Dieffenbachie enthält ein Gift, und er quillt beim Schneiden aus den Blättern und Stängeln. Stummblume wird die Pflanze auch genannt, weil sie vorübergehend sprechunfähig machen kann. Wir sagen, jemand ist stumm vor Schreck oder etwas verschlägt einem die Sprache, und wir sprechen von stummer Trauer, wenn die Trauer nicht in Worten geäußert wird. Ich verstand damals die Metaphorik der Pflanze für das Verhältnis zu meiner Mutter nicht, was es bedeutete, dass sie mir deren Pflege übertragen und mich gleichzeitig vor ihrer Gefährlichkeit gewarnt hatte.

Als ich Atlanta verließ und mir schwor, nie dorthin zurückzukehren, nahm ich mit, was ich all die Jahre kultiviert hatte: stummes Meiden meiner Vergangenheit, Schweigen und willentliche Amnesie, tief in mir eingewurzelt. Und ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass mich je irgendetwas wieder in diese Stadt zurückziehen könnte, in eine Umgebung, die an jeder Ecke eine Erinnerung an die Vergangenheit bereithielt. Ich war entschlossen, zu vergessen, auch wenn ich das Andenken meiner Mutter auf jede mir mögliche Art zu ehren versuchte. Tatsächlich glaubte ich, als ich aus beruflichen Gründen zurückging – ich hatte dort eine akademische Stelle angenommen –, mein früheres Leben umgehen zu können, indem ich jeden erdenklichen Umweg machte, um zumindest den einen Ort zu meiden, den zu sehen ich nicht ertragen könnte. Bis ich es musste.

Um hinzukommen, musste ich markante Punkte passieren, die mich ins Jahr 1985 zurückversetzten – das County-Gerichtsgebäude, wo die Verhandlungen stattfanden, das Polizeipräsidium von DeKalb County kurz vor dem Highway 285, den Autobahnring um Atlanta selbst –, und den Memorial Drive entlangfahren, eine Ost-West-Hauptverkehrsader, die einst Fair Street hieß. Der Memorial Drive beginnt in der Stadtmitte und führt von Downtown ostwärts bis zum Stone Mountain, dem größten Konföderierten-Denkmal der USA. Als bleibende Metapher für das weiße Denken der Südstaaten erhebt sich der Stone Mountain aus der Erde wie der Kopf eines versunkenen Riesen – auf der Stirn prangt der nostalgische Traum von Südstaaten-Heroismus und -galanterie: die riesigen Relieffiguren von Stonewall Jackson, Robert E. Lee und Jefferson Davis. Nicht weit vom Fuß des Stone Mountain liegt die Wohnung, in der wir in jenem letzten Jahr wohnten, Memorial Drive, Block 5400, Nummer 18D.

Obwohl ich genau wusste, wo ich war, die Orientierungspunkte am Weg kannte, fuhr ich zuerst an dem Komplex vorbei und musste umkehren, um die von Bäumen gesäumte Einfahrt zu nehmen. Dabei erblickte ich in der Ferne den Stone Mountain; er wurde plötzlich vom höchsten Punkt des Memorial Drive aus sichtbar, wie um mich darauf zu stoßen, was hier in Erinnerung gehalten wird und was nicht.

Als ich zuletzt hier in der Wohnanlage war, am Morgen nach ihrem Tod, sah ich die verblassten Kreideumrisse ihres Leichnams auf dem Gehweg, das gelbe Polizeiabsperrband, das immer noch an der Haustür klebte, das kleine, runde Loch in der Wand neben ihrem Bett, wo ein Projektil – ein Fehlschuss – eingeschlagen war. Jetzt zeugt hier nichts mehr von dieser Tat, wenn auch alles den Stempel des Verlusts trägt. Reihe um Reihe rostiger Treppengeländer und Fliegenfenster zieht sich die heruntergekommenen Gebäude entlang, und die Hauswände übertüncht ein hellerer Farbton, wie um die dunkle Geschichte darunter zu verbergen.

Unterm Fenster des ehemaligen Schlafzimmers meiner Mutter stehend, dachte ich an das Einschussloch: so eine winzige Spur des Geschehnisses, das so einschneidend in unser Leben eingegriffen hatte. Man hatte es wohl rasch repariert, gefüllt und überstrichen, und ich fragte mich jetzt, ob das Gebäude mit den Jahren gearbeitet, die Wand sich bewegt hatte. Ich weiß um die eingebrochene Stelle, die ein einstmals überdeckter Nagelkopf verursachen kann, wenn ein Haus arbeitet, ein kleiner Krater im Gips, wie eine Wunde, die von innen her aufbricht. Das ist es, was mich hierher zurückgezogen hat: das Versteckte, Überdeckte, beinah Getilgte. Ich muss mir jetzt unsere Geschichte erklären, den tragischen Kurs verstehen, auf dem sich das Leben meiner Mutter befand, und die Art und Weise, wie mein eigenes Leben durch dieses Erbe geprägt wurde.

In meinem Kopf hält sich ein Bild von mir an jenem ersten Tag nach ihrem Tod, beim Betreten der Wohnung. Ein Lokalsender hatte meine Ankunft gefilmt, deshalb ist es nicht nur das Bild jenes Moments, sondern es bin ich, wie ich mich – aus der Distanz – vermeintlich zum letzten Mal in mein altes Leben zurückkehren sehe. In...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2024
Übersetzer Cornelia Holfelder-von der Tann
Sprache deutsch
Original-Titel Memorial Drive
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • barack obama empfehlung • Biografie • Biographien • eBooks • Häusliche Gewalt • Memoir • Neuerscheinung • Rassismus • Südstaaten / USA
ISBN-10 3-641-27743-4 / 3641277434
ISBN-13 978-3-641-27743-7 / 9783641277437
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