Die Frau mit den vier Armen -  Jakob Nolte

Die Frau mit den vier Armen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
235 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77896-8 (ISBN)
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Die Frau mit den vier Armen erzählt von traurigen Jungs, die das Glück suchen und den Tod finden. Von einer Stadt voller schräger, liebenswerter Figuren. Von Rallyeautos, teurem Wein, Gerechtigkeit und Polizeiarbeit. Ganz Noir, stellt der Roman die Frage, ob man sich am Denken anderer schuldig machen kann. Und zeigt dabei ein Hannover, das es so noch nie gegeben hat.

Am Ufer der Ihme in Hannover liegt die Leiche eines jungen Mannes. Inlineskates an den Füßen, Würgemale am Hals, Kopfhörer in den Ohren. Ein Fall für die genauso brillante wie schroffe Rita Aitzinger und ihren Kollegen Ilia Schuster von der Mordkommission. Zwischen Oper, Bahnhofskneipe und Burgerladen geraten sie immer tiefer in ein Dickicht aus Verweisen: Popsongs, Datingapp-Profile, mysteriöse Tattoos - sie sind der Schlüssel zur Lösung des Falls, davon ist Rita überzeugt.

Oder ist sie in die Schlinge einer psychopathischen Mörderin geraten? War Sebastian Tamm gar nicht das erste Opfer? Und was hat der schüchterne Streifenpolizist Gerd Lampe damit zu tun?

Jakob Nolte, geboren 1988, wuchs in Barsinghausen am Deister auf. Seine Theaterstücke wurden mehrfach prämiert und an zahlreichen Bühnen Europas gespielt. Sein Debütroman ALFF wurde mit dem Kunstpreis Literatur 2016 ausgezeichnet. Sein Roman Schreckliche Gewalten war 2017 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Er ist Co-Kurator der Webseite tegelmedia.net und lebt in Berlin. Kurzes Buch über Tobias ist sein erstes Buch im Suhrkamp Verlag.

Ein moderner Noir - Witzig, abgründig, intelligent

Zwei


1


Der Polizist mit der zu großen Schirmmütze hieß Gerd Lampe. An seiner Klingel im Hausflur hatte er einen roten Warnhinweis angebracht, diese nicht zu verwenden, um Licht zu machen. Was erstaunlich oft passierte. Weil er Lampe hieß. Er betrachtete sich im Spiegel über dem Sekretär neben der Eingangstür. War ihm die Mütze wirklich zu groß? Er hatte sie sich nicht ausgesucht. Sie war ihm gegeben worden. War sie sinnbildlich zu verstehen? War er den Aufgaben nicht gewachsen, die das Leben ihm stellte? Schrumpfte er? Alles, was er in seinem Spiegelbild erkannte, war Schlappheit. Langsam fuhr er mit Zeigefinger und Daumen über den Schirm der Mütze. Er hatte gehofft, sie verleihe ihm Schneid oder vielleicht sogar Würde. Seiner Nase entfuhr ein Hm. Er legte die Mütze neben ein Paar Kopfhörer, bei dem auf der einen Seite das Ohrpolster aus Gummi verlorengegangen war, und schmiss seinen Gürtel auf die Couch in der Küche. Dann setzte er sich an seinen Laptop, um Essen zu bestellen. Instinktiv machte er bei allen Gerichten ein Häkchen, in denen das Wort Chicken vorkam. Eigentlich zu viel für eine Person, aber da er einen Rabattcode im Internet gefunden hatte, mit dem er 35% weniger bezahlen musste, ließ er sich im Glauben, sich einen Gefallen zu tun, alles kommen.

Während er auf das Essen wartete, wischte er durch sein Datingapp-Profil. Er hatte sich vorgenommen, die App bloß noch am Abend für eine halbe Stunde zu benutzen, da er gelesen hatte, dass das den Algorithmus positiv beeinflusste. Drei neue Personen hatten ihn in den letzten vierundzwanzig Stunden gelikt. Zwei davon entsprachen nicht seinen Schönheitsidealen. Die dritte hatte ihren Namen als Peter, 23 angegeben, und auch, wenn Gerd das Spiel mit Geschlechtszuschreibungen meist nicht besonders mochte, fand er ihren Kopf hübsch und wischte nach rechts. War es das Ölgemälde des toten Matadors, über das sie in fetter Helvetica Dream Boy geschrieben hatte, oder waren es die Austern, die sie auf einem Markt irgendwo, wo es sonnig war, schlürfte? Sie hatte was. In ihrer Bio stand: Nimm Dir eine Frau, wie Du selbst bist. Wusste er jetzt nicht, was das bedeutete. Aber war ihm vorerst auch egal.

Was sie an seinem Profil wohl mochte? Er war sportlich, er war lustig, er hatte ein Bild von sich in Uniform. Das machte was her.

Hey Peter :), begann er eine Nachricht, aber das war Schrott. Er musste sich etwas Besseres einfallen lassen. Sie mochte Kunst und gutes Essen. Sie war irgendwie ironisch. Er war ein Streifenpolizist. Was gab es für Optionen?

Lust auf Knast?, tippte er, aber dann fiel ihm keine Pointe ein, und er löschte die Nachricht wieder. Fällt Dein süßes Lächeln schon unters WaffG?, tippte er und dachte dann: Nein, zu martialisch. Fällt Dein süßes Lächeln schon unters BtMG, tippte er und dachte dann: Aber was, wenn ihr diese Abkürzungen nichts sagen? Sie auszuschreiben kam ihm überfrachtet vor. Ein GIF, das könnte es sein, aber was, wenn sie ein GIF zurückschicken würde, dann wären sie wieder bei null, und er müsste sich trotzdem etwas einfallen lassen. Man sollte ein paar Schritte vorausdenken, planen, taktieren. Am besten, man schreibt eine kurze Nachricht, die sowohl Lob als auch Frage ist. Vielleicht etwas mit ihrem Namen, Peter, aber nein, das machten sicher alle. Das war, als spräche man jemanden auf einen Hund im Foto an. Anfängerfehler. Nicht mit ihm. Außerdem wollte er in keine Gewässer tauchen, in denen er nicht zu schwimmen vermochte. Er schmiss sein Handy vor sich auf den Küchentisch und bündelte all seine Konzentration.

Hey Peter :), begann er von Neuem, cool, dass Du das Du in Deiner Bio mit großem D geschrieben hast. Ist Dir Rechtschreibung wichig?

Es klingelte an der Tür, und aus Panik, dass die Person vom Lieferservice sehen könnte, wie er an einem Opener verzweifelte, und weil die Selbsterniedrigung und Not, in die er sich hineingesteigert hatte, an den Rändern bereits in eine seltsame Form von Hass auf Peter auszufransen drohte, drückte er auf Senden. An der Tür nahm er das Essen entgegen und wollte den Lieferboten am liebsten anfauchen, dass er, ja, all dieses Essen nur für sich selbst bestellt hatte, aber was das ihn denn anginge! Außerdem, wer weiß, vielleicht hatte er Gäste! Er schloss die Tür hinter ihm, und kurz darauf klingelte es. Der Lieferbote starrte ihn an.

»Licht ist der andere Knopf«, sagte Gerd.

»Oh«, sagte der Lieferbote und drückte auf den Lichtschalter. Gerd verteilte die Unmengen an Hähnchenteilen auf zwei Teller und holte ein Fläschchen mit Chilisoße aus dem Kühlschrank. Schlagartig wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Er öffnete Datingapp und las sich den Satz durch, den er gerade abgeschickt hatte. Ein Kataklysmus. Ein verführungstechnischer Kataklysmus. Technisches K.o. nach Betreten des Rings. Scham übermannte ihn. Wahnsinn ergriff ihn. Wie könnte er sich retten? Konnte er sich retten? Nie im Leben würde Peter darauf antworten, warum auch, was auch? Und neben aller Idiotie, die diese Nachricht inhaltlich schon ausdrückte, dem kognitiven Komplettversagen, mit dem er sich nun konfrontiert sah, hatte er wichtig auch noch falsch geschrieben. Ist Dir Rechtschreibung wichig, stand da. Vielleicht Überkompensation? War das eine Möglichkeit? Vielleicht, vielleicht war sein Liebesleben noch zu retten. In einem Fieber schickte er etliche weitere Nachrichten.

Wichtig, meine ich.

LOL

Hahaha.

Also mir ist Rechtschreibung wichig, wie Du siehst.

Sehr wichig!

Oh man.

Na ja.

Hat mich voll gefreut, dass wir gematcht haben.

Kannst dich ja einfach melden.

Dich!

Also mit großem D!

Hahaha.

Dein Gerd.

Bzw. einfach Gerd

Wir kennen uns ja gar nicht

Also nicht Dein Gerd

Sondern ein Gerd

Irgendein Gerd

Oh man

Na ja

Have a nice eve

Nachdem er die letzte Nachricht abgeschickt hatte, zwang er sich dazu, das Handy wegzulegen. So was konnte passieren. Alles halb so schlimm. Jetzt einfach was essen und fünf bis sieben Stunden auf den Laptop gucken. Momentan spielte er ein MMORPG namens China, bei dem man einen von 1,4 Milliarden Charakteren auswählen konnte, um den Alltag in dem namensgebenden Land zu simulieren. Er levelte einen Jungen, der an der Grenze zur Mongolei mit anderen Kindern Verstecken spielte und sich zum Geburtstag ein Mountainbike wünschte.

2


Die Oper Hannover lag am Aegidientorplatz in einem nahezu vollständig verglasten Gebäude, das zwischen 1998 und 2002 gebaut worden war. Sie gehörte zu den modernsten Opern Europas. Die Niedersachsen waren ähnlich stolz auf sie wie die Osloer auf ihre Snøhetta und die Portoer auf ihren Koolhaas. Entworfen wurde sie von den Behnisch-Architekten, deren Anspruch es gewesen war, soziale Barrierefreiheit zu gewährleisten. Denn die meterdicken Steinwände, Säulen, Skulpturen, Torbögen und Vorplätze der Opern Europas konnten nur ein Ziel haben, so waren sich die Behnisch-Architekten einig, nämlich diejenigen fernzuhalten, die diesen Schutzwall gegen kulturell Unzugehörige nicht zu überqueren wagten. Architektonisch sei die Aussage des Gros dieser Bastarde aus ...

Erscheint lt. Verlag 20.5.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auftragsmord • Depression • Ermittlung • Fargo • Hannover • Inherent Vice • Krimi • Kriminalfall • Leif Randt • Mord • Mordfall • Natürliche Mängel • Niedersachsen • Schreckliche Gewalten • Selbstmord • Serienmörder • ST 5416 • ST5416 • suhrkamp taschenbuch 5416 • Suizid • Twin Peaks • Wolf Haas
ISBN-10 3-518-77896-X / 351877896X
ISBN-13 978-3-518-77896-8 / 9783518778968
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