Nachtkommando (eBook)
464 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60662-2 (ISBN)
Seine Bestseller-Erfolge zwangen Simon Scarrow dazu, den Lehrerberuf an den Nagel zu hängen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Seine Nähe zu Deutschland, wo er zahlreiche Fans und Freunde hat, inspirierte den Autor zu seinen historischen Thrillern um den Berliner Kriminalinspektor Horst Schenke. Simon Scarrow recherchierte über Monate, um das düstere Berlin zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebendig zu machen.
Seine Bestseller-Erfolge zwangen Simon Scarrow dazu, den Lehrerberuf an den Nagel zu hängen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Seine Nähe zu Deutschland, wo er zahlreiche Fans und Freunde hat, inspirierte den Autor zu seinen historischen Thrillern um den Berliner Kriminalinspektor Horst Schenke. Simon Scarrow recherchierte über Monate, um das düstere Berlin zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebendig zu machen.
Prolog
Berlin, 28. Januar 1940
Chor und Orchester erreichten das Ende der Reprise von Fortuna Imperatrix Mundi. Der Dirigent beendete die Darbietung mit einem letzten Schwung des Taktstocks und ließ den Kopf wie vor Erschöpfung hängen. Sofort erklangen Jubelrufe aus dem Publikum, dann donnerte Applaus durch die Philharmonie. Als sich der Dirigent umdrehte, erhoben sich erst einzelne und schließlich alle Konzertbesucher zu frenetischem Beifall.
Dr. Manfred Schmesler seufzte und stand mit vor Kälte steifen Gliedern auf. Wie die anderen Anwesenden trug er Mantel und Handschuhe, hatte aber trotz der winterlichen Temperaturen den Hut abgenommen, um die Musik besser hören zu können. Aufgrund des Kohlemangels war der Saal nicht beheizt und immer noch eiskalt, obwohl sich das Publikum seit mittlerweile eineinhalb Stunden darin aufhielt. Schmesler musste die Musiker bewundern, die unter diesen Bedingungen zu spielen vermochten. Aber womöglich lenkte sie die Konzentration auf die Musik ja von der klirrenden Kälte ab.
Seine Frau Brigitte drückte leicht seinen Arm, und er drehte sich zu ihr um. Sie sagte etwas Unverständliches, dann räusperte sie sich und sprach etwas lauter, während er sich zu ihr vorbeugte. »Ein ganz wunderbares Konzert, habe ich gesagt.«
»Ja«, pflichtete er ihr bei. »Vor allem unter diesen Umständen.«
Unter dem anhaltenden Beifall des Publikums verbeugte sich auf Wilhelm Furtwänglers Zeichen hin zuerst das Orchester und dann der Chor. Dann verebbte der Applaus allmählich, und die Menge drängte zu den Ausgängen. Schmesler, seine Frau und das Ehepaar, mit dem sie das Konzert besucht hatten – der Anwalt Hans Ebermann und seine Frau Eva –, verließen ebenfalls den Saal. Die Schmeslers hatten die Ebermanns vor einigen Monaten bei einem Fest kennengelernt und sich seither hin und wieder zu gesellschaftlichen Anlässen verabredet.
Ebermann bemerkte seinen Blick. »Wie schön, dass der Eintritt frei war«, sagte er gerade so laut, dass nur Schmesler ihn verstehen konnte.
Schmesler musste grinsen. Inzwischen kannte er Ebermann so gut, dass ihm die Ironie in seiner Bemerkung nicht entgangen war. Seit der Machtübernahme waren viele Musiker und Komponisten ins Exil gegangen, und die, die geblieben waren, mussten ihr Repertoire im Großen und Ganzen auf deutsche Musik beschränken. Deshalb bot das Konzertprogramm der Hauptstadt nur wenig Abwechslung. Zumindest war Wagner ihnen heute Abend erspart geblieben, dachte Schmesler.
Die Menge drängte weiter und rüstete sich mit Schals und Hüten gegen die Kälte. Berlin erlebte den härtesten Winter seit Menschengedenken: Die Spree und ihre Kanäle waren zugefroren, eine Schneedecke lag über der Stadt. Und abermals befand sich das Land im Krieg. Schmesler hatte im letzten großen Krieg gedient und wurde noch immer von der Erinnerung an das Grauen heimgesucht, das er an der Westfront erlebt hatte. Es sei der Krieg, der allen Kriegen ein Ende setzen sollte, hatte es damals geheißen, doch kaum mehr als zwanzig Jahre später war der Krieg nach Deutschland zurückgekehrt, was zur Rationierung von Lebensmitteln und einer Verdunkelungsverordnung geführt hatte, die Berlin nach Sonnenuntergang in vollkommene Finsternis tauchte.
Durch die zunehmende Kohleknappheit wurde Heizen ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten, hauptsächlich Parteibonzen und deren Freunde. Wie so viele andere Ärzte – oder Anwälte wie sein neuer Freund Ebermann – hatte auch Schmesler die Zeichen der Zeit früh erkannt und war der Partei beigetreten. Und tatsächlich war die Parteizugehörigkeit inzwischen unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn sowie für gewisse Annehmlichkeiten im Privatleben. Diejenigen, die bereits in der Weimarer Republik Parteimitglied gewesen waren, blickten allerdings verächtlich auf die Neuzugänge und ihre plötzliche Begeisterung für die nationalsozialistische Sache herab und dachten gar nicht daran, ihre Vorräte an Kohle mit ihnen zu teilen.
Erstaunlich, dachte Schmesler, wie ein einst so gewöhnliches Gut plötzlich so knapp und wertvoll hatte werden können. Darüber hinaus war Koks die Sorte, die in der Hauptstadt noch zu bekommen war: entgaste Kohle ohne den öligen Schimmer hochwertigerer Kohle. Sie setzten den Boiler in ihrem Haus in Pankow inzwischen nur noch am Wochenende sowie am Dienstag- und Donnerstagabend in Betrieb, sofern es die Kohlevorräte erlaubten. Um sich die übrige Zeit warm zu halten und genug Wasser zum Waschen erhitzen zu können, waren Brigitte und er gezwungen, Holz zu verfeuern, und selbst das ging langsam zur Neige. Schmesler hoffte inständig, dass dieser ungewöhnlich lange und harte Winter bald zu Ende ging.
Als sie sich dem Ausgang des Saals näherten, übertönte eine barsche Stimme die Unterhaltungen der Konzertbesucher: »Winterhilfe! Spendet für das Winterhilfswerk!«
Im Foyer standen vier Männer, die lange Mäntel und die braunen Kappen der SA trugen. Einer schüttelte mit lautem Klappern eine Spendenbüchse, bevor er den Ruf wiederholte.
»Verdammt noch mal«, murmelte Ebermann. »Als würden sie nicht schon oft genug vor der Haustür stehen.«
Schmesler holte eine Handvoll Abzeichen aus der Tasche und suchte die des Winterhilfswerks heraus, die er bei anderer Gelegenheit erhalten hatte. Er gab Ebermann eines und steckte sich das eigene gut sichtbar ans Revers. Ebermann grinste bei der Vorstellung, die Parteischergen zu übertölpeln, die vor den Ausgängen standen und die Leute durch ihr einschüchterndes Auftreten förmlich zu einer Spende zwangen. Jemandem, der nur auf Besuch in Berlin war, mochte dies wie eine Wohltätigkeitsaktion erscheinen, die Einheimischen dagegen wussten es besser – es handelte sich um organisierten Straßenraub.
Ein SA-Mann, den Mund zu einem spöttischen Grinsen verzogen, versperrte gerade einer kleinen Gruppe vor Schmesler den Weg. »Eine Spende für die Bedürftigen, Volksgenosse.«
Es war keine höfliche Frage, sondern ein Befehl. Die Konzertbesucher, die kein Abzeichen vorweisen konnten, bezahlten und eilten schnell davon. Ein SA-Mann trat vor Schmesler und hob die Dose. »Winterhilfswerk.«
Schmesler hob leicht die Schulter, damit sein Abzeichen besser zu sehen war. Daraufhin winkte der Mann die beiden Ehepaare durch, um sich sofort den Nachfolgenden in den Weg zu stellen. Schmesler nahm seine Frau am Arm und führte sie schnellen Schrittes durch das Foyer und die Drehtür hinaus auf die Straße. Sofort spürten sie die Nadelstiche der klirrend kalten Nachtluft auf der Haut. Sie zogen die Köpfe ein, schlugen die Kragen hoch und stießen Atemwolken aus.
Ebermann wollte das Abzeichen zurückgeben, doch Schmesler schüttelte den Kopf. »Kannst du behalten. Wer weiß, wie viel SA sich heute Abend auf den Straßen herumtreibt.«
»Danke.«
Trotz der Verdunkelungsverordnung warfen die mit Schlitzblenden versehenen Scheinwerfer der Autos und der fahle Glanz der Schneehaufen noch genug Licht auf die Straße, sodass man sich zurechtfinden konnte. Schmesler zwängte sich heraus aus der Menge vor dem Theater und ging dann etwas langsamer, bis das befreundete Ehepaar zu ihm und Brigitte aufgeschlossen hatte. Sie hielt sich an seinem Arm fest, um auf dem Weg zur U-Bahn nicht auf dem zu einer Eisschicht festgetrampelten Schnee auszurutschen. Unter diesen Bedingungen gestaltete sich jegliche Konversation schwierig, und sie schwiegen, bis sie die Treppe zum Bahnsteig erreicht hatten. Dort trennten sich ihre Wege: Schmesler und seine Frau würden den nächsten Zug nach Pankow nehmen, die Ebermanns konnten ihre Wohnung in der Parallelstraße zu Fuß erreichen.
»Wie wäre es mit dem Richard-Strauss-Konzert nächsten Freitag?«, erkundigte sich Eva.
Ihr Ehemann schnaubte verächtlich. »Nicht dass es dieser Tage viel Auswahl gäbe.«
Sie gab ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter. »Strauss mag zwar nicht zu den erstklassigen Komponisten gehören, die du so schätzt, aber als zweitklassiger Komponist ist er erstklassig.«
Alle vier lachten kennerhaft. »Offenbar darf kein deutsches Musikstück so anspruchsvoll sein, dass man es nicht auf einem Reichsparteitag schmettern könnte.«
»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte Schmesler. »Musik ist und bleibt eine willkommene Abwechslung im Krieg. Das Konzert...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Reihe/Serie | Dunkles Berlin |
Dunkles Berlin | Dunkles Berlin |
Übersetzer | Kristof Kurz |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dead of Night |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Berlin 40er Jahre • Deutschland • Drittes Reich • Gestapo • Historischer Kriminalroman • Historischer Thriller • Horst Schenke • Kindsmord • Krimi historisch • Nationalsozialismus • Nazideutschland • Nazi-Regime • Nazi-Zeit • Roman Euthanasie • Roman Zweiter Weltkrieg • Thriller Berlin |
ISBN-10 | 3-492-60662-8 / 3492606628 |
ISBN-13 | 978-3-492-60662-2 / 9783492606622 |
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