Doktor Garin (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
592 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30430-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Doktor Garin -  Vladimir Sorokin
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Ein groteskkomischer Roadtrip durch eine posthumane Welt des Chaos und des Krieges, in der es einen einzigen Gewinner gibt: die Liebe.  Doktor Garin hat den »Schneesturm« überlebt und ist zehn Jahre später Chefarzt auf Titanfüßen von einer psychiatrischen Klinik im Altaigebirge. Hier residieren die sogenannten political beings - Donald, Wladimir, Emmanuel und Angela, Silvio, Shinzo, Boris und Justin - in Luxussuiten. Was sie alle verbindet: Sie essen, hüpfen, denken und sprechen mit dem Hinterteil. Und sind geplagt von komplexen Neurosen. Doktor Garin gelingt es, sie mit seiner speziellen Schocktherapie zu beruhigen. Er will die Menschheit heilen, ihre Zombifizierung verhindern in einer posthumanen Welt, in der es von künstlichen Wesen mit invalidem Körper und Geist nur so wimmelt. Dabei steht ihm seine Assistentin und Geliebte Mascha fest zur Seite. Bis erneut eine Atombombe fällt, das Sanatorium ausradiert wird und der Doktor und sein Team gigantische Bioroboter aktivieren müssen, um auf ihren Rücken zu fliehen. Eine Odyssee durch eine absurde Welt beginnt, die Garin und Mascha voneinander trennt ... Ein dystopischer Abenteuerroman à la Sorokin - verstörend und unfassbar unterhaltsam.

Vladimir Sorokin, 1955 geboren, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie »Die Schlange«, »Marinas dreißigste Liebe«, »Der himmelblaue Speck«. Bei KiWi erschienen zuletzt die Romane »Der Schneesturm«, »Telluria«, die Literaturgroteske »Manaraga« und der Erzählungsband »Die rote Pyramide«. Sorokin lebt inzwischen in Berlin und hat den dortigen PEN mitbegründet.

Vladimir Sorokin, 1955 geboren, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie »Die Schlange«, »Marinas dreißigste Liebe«, »Der himmelblaue Speck«. Bei KiWi erschienen zuletzt die Romane »Der Schneesturm«, »Telluria«, die Literaturgroteske »Manaraga« und der Erzählungsband »Die rote Pyramide«.  Dorothea Trottenberg, geboren 1957 in Dortmund, übersetzt aus dem Russischen. Ausgezeichnet mit dem Paul-Celan-Preis (2012). 2017 erhielt sie die Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich.

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil Nach Norden


Was kann einem Wanderer in der felsigen, dicht bewaldeten Unwegsamkeit der Ausläufer des Altai-Gebirges den Weg versperren? Nur ein reißender Gebirgsfluss. Genau das ereignete sich am zweiten Tag ihres Marschs nach Barnaul. Der Katun, ein nicht sonderlich breiter, aber wilder, ungestümer, vom Gebler-Gletscher gespeister Fluss, zeigte seine geschmeidigen, schlammig-milchigen Konturen durch die Baumstämme in der lichten Weite des Waldgebiets. Garin, der auf seinem Majakowski vorneweg ging, blickte auf sein FF40, das nun wenigstens zu etwas nütze war: genau zwei Uhr mittags. Es war trocken und windstill, die Sonne brannte ganz und gar nicht frühlingshaft vom Himmel. Garin hatte sich das Unterhemd über den kahlen Schädel und den Hals gelegt. Mascha, die neben ihm im Korb saß, hatte ihre Jackentasche abgeschnitten und daraus eine Art tibetische Mütze gemacht. Die umsichtige Pak hatte als Einzige daran gedacht, ihren silbrigen japanischen Hut in die Tasche zu werfen, um den sie jetzt von den Kollegen beneidet wurde. Stern hatte sich ein nasses, an den Ecken geknotetes Taschentuch auf den Kopf gelegt, Olga hatte sich morgens einen Kranz aus Lungenkraut und Schneeglöckchen geflochten und trug ihn nun wie eine Krone auf dem Kopf.

Der erste Tag ihres Marschs war hektisch verlaufen: Sie mussten den Weg festlegen, die stumm-ergebenen Majakowskis dirigieren, und sie mussten sich beeilen, der Strahlung zu entkommen, und sich um die booties kümmern. Die Nacht verbrachten sie an einer Quelle zwischen zwei kleinen Hügeln, nachdem sie ein Feuer gemacht und das, was sie aus der Küche hatten mitnehmen können, auf kleine Zweige gespießt und über dem Feuer gewärmt hatten. Natürlich war das Essen knapp, und das meiste ging an die booties, die die Folgen des Schocks durch Essen kompensierten. Als sie genug geröstetes Brot mit Himbeersirup und Dosenschinken verschlungen hatten, schliefen die booties, denen Hitze und Kälte überhaupt nichts auszumachen schien, auf ihrem felsigen Nachtlager ein. Die Ärzte schliefen notdürftig zugedeckt in ihren Körben. Wie erwartet, war die Nacht kalt, und alle froren. Garin und Mascha schliefen eng umarmt. Nachts hörte man in der Ferne Geschützdonner, und nach Südwesten hin wurde der Himmel von Blitzen erhellt.

Doch in der Nacht drehte der Wind, und am nächsten Morgen waren die Masken nicht mehr nötig. Nach dem Frühstück, das aus trockenem Brot und Quellwasser mit Sirup bestand, suchten sie einen Ort, um Boris und Shinzo zu begraben. Unter Mühen wurden zwei flache Gräber ausgehoben und die Toten hineingelegt. Garin befahl den Majakowskis, zwei große Steine auf die Gräber zu legen. Pak hielt eine kurze Rede auf Englisch, Angela las ein sehr kurzes lateinisches Totengebet, und die Ärzte holten ihre Waffen – Garin seinen alten, stumpfnasigen Bull Dog, Mascha ihre große, rabenschwarze Glock, Pak ihren silbernen Python, Stern seine Beretta und Olga ihre niedliche Damen-Browning.

Sie feuerten eine Salve über den Gräbern ab, woraufhin Emmanuel in heftiges Schluchzen ausbrach. Garin nahm ihn auf den Arm und setzte ihn in seinen Korb. Silvio bekreuzigte sich und küsste die Grabsteine. Justin verneigte sich davor, Wladimir strich mit der Hand darüber und murmelte dazu »Ich war’s nicht«, Donald schlug mit der Faust auf die Steine und knurrte »Ashes to Ashes!«, und Angela sagte mit ihrem üblichen Seufzen »Ruhet in Frieden, meine Lieben«.

Anschließend setzten sie sich in ihre Körbe und brachen wieder auf. Unterwegs tranken sie Wasser und aßen etwas, ohne anzuhalten. Schließlich erreichten sie den Fluss Katun. Bei der Suche nach einem Übergang mussten sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen – ohne Netz konnten die Handys ihnen nicht helfen.

»Herr steh uns bei!«, sagte Garin laut und legte seinem Majakowski die Hand auf den glatten, kühlen Kopf. »Vorwärts! Langsam! Vorsichtig! Sachte!«

Der Majakowski stieg langsam in den trüben, fahlgelben, brausenden Fluss. Der Korb begann zu schwanken. Der Roboter stand jetzt bis zur Hüfte im Wasser, um ihn herum brodelten die Fluten. Mascha stemmte sich mit angezogenen Beinen auf den Plastikrändern des Korbes hoch wie auf einem Barren. Das Wasser strömte in den Korb und begann zu steigen. Der Majakowski schritt vorsichtig weiter und tauchte immer tiefer ein. Die übrigen fünf samt Körben und Insassen blieben am Ufer stehen. Dem Majakowski ging das Wasser jetzt bis zur Brust, der Korb schwankte immer heftiger. Das Wasser roch nach Gletscher und Hochgebirge. Es war eisig und brannte Mascha an den Beinen. Garin stand unbeirrt da, immer tiefer in der Flut versinkend. Fluchend kletterte Mascha auf die Schultern des Majakowski und schlang die Arme um seinen Kopf. Garin legte die Arme um sie. Der Majakowski ging weiter und versank immer tiefer. In der Mitte des Flusses verschwanden seine Schultern unter Wasser.

»Garin, ich werde weggeschwemmt …«, ächzte Mascha und klammerte sich an Garins Hals.

»Halten Sie sich fest!«, brüllte Garin.

Der Majakowski stand jetzt bis zu den Ohren im Wasser. Fahlgelbe Wellen überspülten die Insassen, der Korb schlingerte und schwankte heftig. Mascha schrie auf. Garin hielt sie fest.

Der Majakowski blieb stehen.

»Los!«, brüllte Garin.

Der Majakowski stand in den reißenden Fluten. Garin beugte sich vor und brüllte in sein halb überschwemmtes, riesiges Ohr wie in eine Muschel:

»Los, verdammt noch mal!!«

Der Majakowski ging weiter. Das Wasser umspülte schon seinen Kopf. Er ging weiter, weiter, weiter, versank immer tiefer. An der Oberfläche war nur noch seine glatte Schädeldecke zu sehen, auf der sich wie zum Hohn die Frühlingssonne spiegelte.

»Garin … hier ist kein Übergang …«, jammerte Mascha und drehte sich weg von dem gurgelnden, brodelnden Wasser.

Platon Iljitsch hielt sie so fest umklammert, dass sie aufstöhnte.

Der Majakowski machte einen weiteren Schritt, um endgültig im Abgrund zu versinken.

Aber er versank nicht.

»Los, mach schon … du … großer … Flie… Krie…ger …«, haspelte Mascha wütend.

Der Majakowski tat einen Schritt, dann noch einen. Und begann, sich über die Fluten zu erheben. Garin lockerte erleichtert seine stählerne Umklammerung. Der SOS-3 hatte den Übergang ertastet und schritt jetzt sicherer aus, die Sonne glitzerte ermunternd auf seinen mächtigen Plastikschultern, von denen das Wasser in Strömen herabrann. Und nach wenigen Minuten trug der Roboter sie an das steinige, sonnenbeschienene Ufer.

Vom gegenüberliegenden Ufer erscholl Beifall.

»Auf die Knie!«, befahl Garin.

Der lächelnde Majakowski sank auf die Knie. Garin hob Mascha aus dem Korb, legte die Hände an den Mund und rief den anderen zu:

»Die booties nicht alleine in den Korb! Sie werden weggeschwemmt! Mit Be-glei-tung!«

Die Ärzte nickten und verteilten die pb auf die Körbe – zwei pro Person.

»Ich fürchte, ich kann sie nicht festhalten!!«, rief Pak zu Garin hinüber.

»Dann muss jemand zurück«, schlug Stern vor.

»Wie in dem Rätsel mit dem Wolf, der Ziege und dem Kohlkopf …«, grinste Mascha maliziös und zog ihre nasse Hose aus.

»Ich komme noch mal rüber!«, rief Garin.

Er kehrte auf seinem Majakowski zurück und lud Emmanuel und Justin in seinen Korb. So konnten alle wohlbehalten den Fluss überqueren, obwohl die booties, als sie aus Furcht vor den steigenden Fluten an ihren Begleitpersonen hochkletterten, eine Menge von dem eisigen Wasser verschluckten und Sterns Katze beinahe von der reißenden Strömung fortgeschwemmt worden wäre. Zu guter Letzt wurden dem Gepäck-Majakowski doch noch Maschas Tasche und der Sack mit den Konserven weggerissen.

»Wir wollen doch wegen der Kleider kein großes Theater machen!«, grinste Mascha, als sie ihre feuchte Hose über den Rand des Korbes hing.

»Hatten Sie denn etwas Wichtiges in der Tasche?«, fragte Garin, während er seine Hose auswrang.

»Das Wichtigste ist hier«, sie stupste Garin mit dem Finger in den Bauch. »Ist Ihr Smartik waterproof?«

»Keine Ahnung …« Garin zog sein FF40 aus der feuchten Tasche und warf einen Blick darauf. »Es funktioniert! Aber kein Netz, keine Karten. Nur der Kompass.«

»Ich weiß, dass es vom Sanatorium nach Barnaul 197 Kilometer sind.«

»In zwei Tagen haben wir schon achtundzwanzig geschafft!«, warf Stern ein, der das Gespräch mitgehört hatte.

»Die Majakowskis machen große Schritte.«

»Wir sind also praktisch schon da!« Die nackte, zierliche Pak lachte laut heraus, während sie ihre Kleider auswrang.

»Sind Sie ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte Donald, der auf den Hinterbacken über die Felsen hüpfte, und prustete los.

»Donald ist ein Meister rhetorischer Fragen.« Stern blinzelte in die Sonne und kraulte beschwichtigend seine nasse Katze. »Wie gut, dass die Sonne so schön scheint, dann müssen wir nicht frieren, Echnatontschik … Mir hat es das Tuch vom Kopf gespült!«

»Meinen Hut nicht!«, prahlte Pak.

»Wir wollen uns hier nicht zu lange aufhalten! Es geht weiter!«, verkündete Garin.

Sein Unterhemd, das an einen Beduinenkopfschmuck erinnerte, war wie durch ein Wunder nicht davongeschwommen. Er zog es erst jetzt vom Kopf und wrang es aus.

»Vielleicht machen wir trotzdem zuerst ein Feuer und trocknen uns etwas?« Olga zog sich aus und entblößte ihren rundlichen, tätowierten Körper.

»Trocknen...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2024
Übersetzer Dorothea Trottenberg
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuerroman • Chaos • Der Tag des Oprischniks • Dystopie • Gesellschaftskritik • Groteske • Liebe in Zeiten des Krieges • Moskau • Odyssee • Postkommunismus • Reise • Roadtrip • Russland Satire • Schneesturm • Telluria • Wladimir Putin • Zukunft • Zukunftsvision
ISBN-10 3-462-30430-5 / 3462304305
ISBN-13 978-3-462-30430-5 / 9783462304305
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