Acqua alta (eBook)

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2024 | 1. Auflage
208 Seiten
mareverlag
978-3-86648-831-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Acqua alta -  Isabelle Autissier
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2021: Venedig ist von den Wassermassen eines letzten Acqua alta verschlungen worden. Guido Malegatti, einer der Überlebenden, fährt mit dem Boot durch die Ruinen, auf der Suche nach Frau und Tochter. Zwei Jahre zuvor: Angesichts des drohenden Meeresspiegelanstiegs bahnt sich der Konflikt innerhalb der Familie an. Guido als Wirtschaftsrat schwört auf den Tourismus und die Segnungen der Technik. Seine Frau Maria Alba schwelgt in der vergangenen Pracht einer Stadt am Rande des Zusammenbruchs. Und ihre 17-jährige Tochter Léa wird in dem Versuch, die geliebt Stadt zu retten, zur Gegnerin ihres Vaters. Isabelle Autissier entwirft das so dramatische wie realistische Szenario vom Untergang Venedigs. Mitreißend zeichnet sie aus der Perspektive dreier Familienmitglieder nach, wie es zur Katastrophe kommt, und stellt uns alle vor die Frage: Wie würde ich mich verhalten?

Isabelle Autissier, 1956 in Paris geboren und dort aufgewachsen, lebt heute in La Rochelle. 1991 machte sie Furore als erste Frau, die allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte. Seit den Neunzigerjahren widmet sie sich dem Schreiben und war von 2009 bis 2021 Präsidentin des WWF Frankreich. Zuletzt erschien im mareverlag ihr bei Publikum und Presse erfolgreicher Roman »Klara vergessen« (2020). Ihr Roman »Herz auf Eis« (2017) war für den Prix Goncourt nominiert, wurde SPIEGEL-Bestseller und für das Kino adaptiert.

Isabelle Autissier, 1956 in Paris geboren und dort aufgewachsen, lebt heute in La Rochelle. 1991 machte sie Furore als erste Frau, die allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte. Seit den Neunzigerjahren widmet sie sich dem Schreiben und war von 2009 bis 2021 Präsidentin des WWF Frankreich. Zuletzt erschien im mareverlag ihr bei Publikum und Presse erfolgreicher Roman »Klara vergessen« (2020). Ihr Roman »Herz auf Eis« (2017) war für den Prix Goncourt nominiert, wurde SPIEGEL-Bestseller und für das Kino adaptiert.

GUIDO LIEGT AUSGESTRECKT DA, regungslos wie eine mittelalterliche Grabfigur, die Decke bis ans Kinn gezogen. Der Körper wirkt massig, aber nicht sehr groß, kaum mehr als einen Meter siebzig, was ihn immer geärgert hat. Der Kopf liegt gerade auf dem Kopfkissen. Die Wangenknochen springen hervor, ein kantiger Kiefer, große Augenhöhlen mit buschigen Brauen darüber und dunklen Ringen darunter. Trotzdem erscheint das Gesicht nicht traurig und schlaff, dieser Eindruck wird zerstreut von etwas Genussvollem, dem großen Mund mit den vollen Lippen und der breiten Nase, die er von seinen Vorfahren geerbt hat und deren bebende Nasenflügel als Einziges darauf hindeuten, dass er lebt. Nach monatelangem Krankenhausaufenthalt treten die geplatzten Äderchen auf seinem fahlen Teint hervor. Er ist erschöpft von den Operationen und Behandlungen und lässt sich gehen. Ein Dreitagebart und leicht graue Strähnen anstelle des glatt rasierten Gesichts und des strengen Haarschnitts, die bei ihm immer zum Pflichtprogramm gehörten. Auf einmal öffnet er die Augen, ohne zu blinzeln. Hübsche graue Augen mit goldenen Sprenkeln, seine Verführungswaffe.

Guido hat die Fähigkeit, augenblicklich vom Schlaf in den Wachzustand zu wechseln. Er liebt den Moment, wenn er sich wie ein Hellseher fühlt, und vertraut stets den ersten Gedanken, die ihm in den Sinn kommen, denen, die der Schlaf geformt hat und die er seine nächtlichen Visionen nennt. An diesem Morgen drängt sich ihm die Entscheidung auf: Er muss zurück nach Venedig.

Monatelang hat eine Rückkehr keinen Sinn gehabt. Zunächst hat Guido lange im Krankenhaus gelegen, gebrochene Schulter, Rippenverletzungen, Schädelfraktur. Nach dem künstlichen Koma musste er in der Reha den endlosen, verschlungenen Weg zurück in die Realität finden. Nach und nach ging es ihm besser, und die körperlichen Schmerzen legten sich, dennoch übermannten ihn die Probleme. Zum ersten Mal in seinem Leben widerstrebte es ihm, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Er träumte von einem Zauberstab, der ihn verschwinden ließe und so weit weg wie möglich brächte, auf eine Insel im Pazifik oder zu irgendeinem wilden Stamm im entlegensten Winkel eines undurchdringlichen Urwalds. Weit weg, so weit weg wie möglich von dem, was ihn quälte: der Tod Maria Albas und das Verschwinden von Léa, der Einsturz des Hauses, in dem er die schönsten Momente seines Lebens verbracht hatte, dazu die Freunde, die Geliebten und selbst ein paar abgefeimte Kontrahenten, von deren Tod er Tag für Tag erfuhr.

Auch der Papierkram machte ihn wahnsinnig. Er hatte all die Erklärungsschreiben, Beschwerdeschreiben und Mahnschreiben ganz allein bewältigen müssen, die man an die Banken, Versicherungen und Entschädigungsfonds der Opfer schicken musste, und auf die schwachköpfigen Beamten geschimpft, die eine ruhige Kugel schoben und Nachweise und Beweise von ihm forderten, die natürlich in dem riesigen Durcheinander verloren gegangen waren. Selbst sein Status als gewählter Abgeordneter schien da nicht zu helfen. Nach den Beileidsbekundungen erntete er bestenfalls noch freundliche Reaktionen, wenn er sich auf das Rathaus berief.

Dass es öffentliche Kritik hagelte, hatte ihn mehr getroffen, als er zugeben mochte. Er hatte sich nicht daran gestört, dass man die gesamte Stadtverwaltung als inkompetent und korrupt darstellte. Das war üblich. Dass sie alle als Mörder beschimpft wurden, klang hart, konnte aber auf die akute Verzweiflung zurückgeführt werden. Aber dass man insbesondere der Stadtentwicklung Venedigs die Schuld gab und dem Wohlstand, den er sich bemüht hatte aufzubauen, der ihn Tag und Nacht beschäftigt und all seine Energie gefordert hatte, das konnte er tatsächlich nicht ertragen. Fehlte nur noch, dass man ihn persönlich für die Katastrophe verantwortlich machte. Wäre das von Léas Leuten aus der Umweltschutzszene gekommen, hätte es ihn nicht erstaunt, von seinen eigenen Freunden aus der Koalition allerdings, mit der er regiert, aber auch gestritten und gut gegessen hatte, verletzte ihn der Vorwurf tief. Wenn er besserer Stimmung war, gab er in Sachen Politik Voltaire recht: »Mein Gott, bewahre mich vor meinen Freunden. Mit meinen Feinden werde ich allein fertig.« In schlechten Momenten lösten die Hasstiraden Verbitterung aus und machten ihn wütend auf diejenigen, die die Verantwortung auf ihn abzuwälzen und ihn zu instrumentalisieren versuchten. Nachdem er eine Weile lang sämtliche Informationen verschlungen hatte, las er nun gar keine Zeitungen mehr, sah nicht mehr fern und ließ seinen Twitter-Account ruhen.

Der Morgenhimmel ist noch violett, als er die Wohnung in Mestre vis-à-vis von Venedig verlässt, in der er Zuflucht gesucht hat. Das geliehene Schnellboot wartet im inneren Hafen von Marghera auf ihn. Dunkler Nebel verschluckt die Umgebung und erstickt die Geräusche. In der Lagune ist er ganz allein. Rechts kann er kaum die sich dunkel abzeichnende Ponte della Libertà ausmachen, die einzige Zufahrtsstraße nach Venedig. Früher hätte es darauf zu dieser Zeit von Fahrzeugen gewimmelt. Man hätte die Straße eher gehört als gesehen, ihr dumpfes Grollen. Jetzt ist die Brücke für den Verkehr gesperrt, wie die gesamte Stadt. Mithilfe des GPS erreicht Guido nach einer halben Stunde die Nordostspitze Venedigs. Er hätte auch direkt über den Cannaregio-Kanal hineinfahren können, um zum Canal Grande zu gelangen. Aber die eingestürzten Gebäude blockieren vermutlich die Durchfahrt. Und außerdem will er nicht diese Dienstzufahrt nehmen. Er will die echte, die, die dreißig Millionen Menschen jährlich den Atem stocken ließ und sie zum Träumen brachte. Von Süden her zu kommen und gleich zu Beginn zwischen dem Dogenpalast und der Punta della Dogana mit der goldenen Weltkugel hindurchzufahren, führt einem die Einzigartigkeit Venedigs vor Augen. Wohin man auch blickt, alles ist besonders. Die Stadt präsentiert sich zugleich als kompakte, robuste Einheit mitten im Wasser und als eine unendliche Vielfalt ziselierter Steine, von denen jeder einzelne Geschichte atmet. Das Paradox ist augenfällig: das Venedig, das abgeschottet in seinem Bett aus Schlick und Schlamm daliegt, und das Venedig, das offen ist durch seine vielen Kanäle, durch die sämtliche Nationen der Welt gereist sind und noch immer reisen. Die Stadt pflegt ihre Superlative: zu viele Paläste, zu viele Kirchen, zu viel Eleganz an einem einzigen Ort. Selbst wenn man darauf vorbereitet ist, verblüfft einen Venedig, weckt Neugier, ist verwirrend und faszinierend.

Guido hat sich haufenweise Fotos von der Katastrophe und schreckliche Vorher-nachher-Ansichten angesehen. Er hat sie bis zum Überdruss geprüft. Jedes Detail, das er sah, jedes eingestürzte Gebäude, jede Zerstörung, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er stellte sich vor, dass sich ein kleines Loch in seiner Brust bildete, durch das ein Teil seiner Lebenskraft entwich. Wie viel Glauben sollte man den Hochglanzbildern schenken? Inwieweit deren Urteil übernehmen? Es gibt Dinge, die weiß man, aber sie sind einfach unannehmbar. Er hat sich Hunderte schockierender Handyvideos angesehen und ist davon nicht losgekommen, ebenso wie sich mehr als zwanzig Jahre vorher die ganze Welt an den Bildern der einstürzenden Zwillingstürme in Manhattan berauscht hatte, ohne es glauben zu können. Auf seinem Computer hat er die seltsamen Bewegungen am Horizont betrachtet, das Flackern, die klaffenden, größer werdenden Abgründe, die Mauerflächen, die zu Staubwolken wurden, die Schreie, das Weinen, die verlöschenden Lichter, die auflodernden Brände, und in dieser Weltuntergangsstimmung ein krampfartiges Grollen wahrgenommen, das letzte Röcheln einer sterbenden Stadt. Sobald er die Videos stoppte und aus dem Krankenhausfenster die Ruhe des beginnenden venezianischen Herbstes sah, prallten die beiden Realitäten aufeinander. Seinem Gehirn gelang es nicht, die tragischen Bilder der Vergangenheit und das friedliche Wiegen der Blätter übereinanderzuschieben. Er erlag der Versuchung, das Unerträgliche zu leugnen. Aber wenn er sich auch nur ein wenig bewegte, schmerzten seine Verletzungen und erinnerten ihn daran, dass das Schlimmste tatsächlich geschehen war.

Während er aus Richtung Norden näher kommt, erkennt Guido trotz des Nebels langsam die ockerfarbenen und altrosa Fassaden. Diese Gegend hat weniger gelitten als der Rest der Stadt, trotzdem spürt er einen ersten Stich im Herzen auf Höhe der Basilika San Zanipolo. Er hat das Bauwerk nie gemocht, es war ihm zu pompös. Wenn er Maria Alba ärgern wollte, nannte er es die Dickmadam. Das Einzige, was er lustig fand, waren die drei schmalen Türmchen, die oben an der Fassade wie Zuckerwerk auf einem Hochzeitskuchen aufgesetzt waren. Sie sind ebenso verschwunden wie die Kuppel und ein Teil des Daches, und er stellt sich das donnernde Geräusch vor, das es ausgelöst haben mag, als es mehr als dreißig Meter weiter unten zerschellte. Er wird wehmütig, empfindet fast schon Mitleid mit dem Bauwerk, das die Venezianer acht Jahrhunderte...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2024
Übersetzer Kirsten Gleinig
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familienroman • Generationskonflikt • Hochwasser • Klimakrise • Kulturstadt • Serenissima • UNESCO • Untergang • Zukunftsvision
ISBN-10 3-86648-831-9 / 3866488319
ISBN-13 978-3-86648-831-1 / 9783866488311
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