Auf allen vieren (eBook)
416 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30283-7 (ISBN)
Miranda July, 1974 in Barre (Vermont) geboren, ist Filmemacherin, Künstlerin und Schriftstellerin. Ihre Arbeiten wurden schon im Museum of Modern Art und auf der Biennale in Venedig gezeigt. Bei den Spielfilmen »Ich und du und alle, die wir kennen« (2005) und »The Future« (2011) schrieb sie das Drehbuch, führte Regie und spielte die Hauptrolle. »Zehn Wahrheiten«, ihr Debüt als Autorin, wurde mit dem Frank O'Connor-Preis ausgezeichnet, dem höchstdotierten Kurzgeschichtenpreis der Welt. Sie entwickelte die Messaging-App »Somebody«, die Nachrichten nicht elektronisch übermittelt, sondern Personen in der Nähe sucht, um diese persönlich zu überbringen. Miranda July lebt in Los Angeles.
Miranda July, 1974 in Barre (Vermont) geboren, ist Filmemacherin, Künstlerin und Schriftstellerin. Ihre Arbeiten wurden schon im Museum of Modern Art und auf der Biennale in Venedig gezeigt. Bei den Spielfilmen »Ich und du und alle, die wir kennen« (2005) und »The Future« (2011) schrieb sie das Drehbuch, führte Regie und spielte die Hauptrolle. »Zehn Wahrheiten«, ihr Debüt als Autorin, wurde mit dem Frank O'Connor-Preis ausgezeichnet, dem höchstdotierten Kurzgeschichtenpreis der Welt. Sie entwickelte die Messaging-App »Somebody«, die Nachrichten nicht elektronisch übermittelt, sondern Personen in der Nähe sucht, um diese persönlich zu überbringen. Miranda July lebt in Los Angeles. Stefanie Jacobs, geboren 1981, lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Wuppertal. Für ihre Übersetzungen von K-Ming Chang, Lisa Halliday, Ben Marcus, Edna O'Brien und vielen anderen Autor:innen wurde sie mehrfach auszeichnet, zuletzt mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis.
TEIL EINS
1. Kapitel
Ich will Sie ja nicht beunruhigen, so begann die Nachricht, wirklich ein unschlagbarer Einstieg. Doch, bitte! Beunruhigen Sie mich! Ich warte schon mein Leben lang darauf, von so einer Nachricht beunruhigt zu werden.
Ich will Sie ja nicht beunruhigen, aber anscheinend hat jemand mit einem Teleobjektiv durch Ihr Fenster fotografiert. Wenn Sie denjenigen kennen, dann verzeihen Sie das Missverständnis, aber für den Fall, dass nicht, habe ich mir Farbe/Modell/Kennzeichen des Fahrzeugs notiert.
Brian (von nebenan) und seine Telefonnummer.
Man braucht eigentlich kein Teleobjektiv, denn wir haben nach vorn raus große Fenster ohne Gardinen. Manchmal bleibe ich kurz stehen, bevor ich reingehe, und sehe Harris und Sam zu, wie sie ahnungslos tun, was sie eben gerade tun. Harris, wie er Sam lautlos irgendetwas erklärt, Sam hochhebt. Wenn ich die beiden so sehe, wird mir warm ums Herz. Merke dir dieses Gefühl, sage ich mir. Es sind von Nahem dieselben Menschen wie von hier.
Wir wussten alle sofort, welcher Nachbar Brian war. Der FBI-Nachbar. Wenn wir irgendetwas von Brian gelernt hatten, dann, dass man eine Anstellung beim FBI nicht geheim hielt wie etwa eine bei der CIA. Er trägt seine (schusssichere?) FBI-Weste, auf der groß FBI steht, sehr viel öfter, als es Dienstpflicht sein kann. So, als würde jemand von den Dodgers seine Uniform auch zum Rasensprengen tragen, sodass bald alle Nachbarn denken, Ja, Mann, wir haben’s kapiert, wir wissen, dass du bei den Dodgers bist.
Nachdem ich Harris also die Nachricht vorgelesen hatte, kam von ihm als Erstes die spöttische Bemerkung, natürlich habe unser FBI-Nachbar jemanden mit einem Teleobjektiv »erwischt«. Und danach gar nichts mehr. Er war beschäftigt, und für ihn war die Sache damit erledigt.
»Ein bisschen unheimlich ist es aber schon, findest du nicht?«
»Die Leute fotografieren doch alles Mögliche heutzutage«, sagte er und ging aus dem Zimmer.
»Meinst du, ich soll ihn trotzdem anrufen?«
Aber Harris hörte mich nicht mehr.
»Wen anrufen?«, fragte Sam.
Da stand ich nun mit dem Zettel in der Hand und fühlte mich irgendwie im Stich gelassen, was einem im familiären Umfeld ungefähr tausendmal am Tag passiert. Mir war zum Heulen zumute, aber warum eigentlich? Ich musste mit meinem Mann nicht alles bis ins Detail durchkauen, wozu hatte man Freundinnen? Zwischen Harris und mir geht es förmlicher zu, wie bei zwei Diplomaten, die nie sicher sein können, ob der andere nicht ihren Drink vergiftet hat. Die ewig Durst haben, aber immer wollen, dass der andere den ersten Schluck nimmt.
Du zuerst.
Nein, du zuerst!
Nein, nach dir, bitte.
So ein Eiertanz klingt vielleicht anstrengend, aber ich war mir ziemlich sicher, dass wir zuletzt lachen würden. Wenn dann alle anderen die Schnauze voll hätten voneinander, würden wir endlich unseren Durchbruch feiern und in die Flitterwochen fliegen. So mit Mitte sechzig wahrscheinlich.
Meine Freundin Cassie sagt jedes Mal Hab dich lieb!, wenn sie sich am Telefon von ihrem Mann verabschiedet. Ich schäme mich immer für sie, wenn ich das höre.
Aber ich hab ihn doch lieb, sagt sie dann.
Du hast mir doch gerade erzählt, wie schlecht es dir geht und wie verfahren alles ist.
Dann lacht sie, so nach dem Motto, ich kann nichts dafür. Ich erwarte ja nicht, dass sie ihrem Mann die Wahrheit sagt, aber dann soll sie doch wenigstens zu mir ehrlich sein! Eigentlich steige ich bei den Beziehungen anderer Leute nie so wirklich durch. Einmal habe ich meine beste Freundin Jordi gebeten, ein ganz normales Gespräch zwischen ihrer Frau und ihr mitzuschneiden. Jordi ist eine geniale Bildhauerin, die überzeugende Theorien zu so ziemlich allem aufstellen kann, aber in diesem Gespräch sagte sie kaum ein Wort, während ihre Frau sich ewig über irgendeine dämliche Fernsehsendung aufregte. Jordi murmelte ab und zu eine Frage, aber die meiste Zeit kicherte sie nur über das, was Mel sagte. Ich dachte, es wäre ihr vielleicht peinlich, aber weit gefehlt.
»Mel hat ihre Meinung und lässt sich nicht beirren, das gefällt mir. Ich mag es, wenn jemand eine Haltung hat. So wie du.«
Ich fühlte mich so geschmeichelt, dass ich mich direkt ein bisschen für die Dynamik zwischen den beiden erwärmen konnte.
»Die Sendung ist aber auch wirklich schlecht«, sagte ich. »Mel hat es auf den Punkt gebracht.«
Meine Freunde und Freundinnen tun mir oft den Gefallen und schicken mir solche Eintagsfliegen – Screenshots von Sexts, E-Mails an ihre Mütter –, weil ich immer wissen will, wie es sich anfühlt, jemand anders zu sein. Was taten wir eigentlich alle? Was ging hier auf der Erde verdammt noch mal vor sich? Natürlich sagte mir im Endeffekt keins dieser Artefakte irgendetwas; es war, als würde man versuchen, Rauch am Griff zu packen. Welchem Griff?
Ich legte den Zettel unseres Nachbarn auf meinen Schreibtisch. Auch ich war beschäftigt, aber zum Sorgenmachen hatte ich trotzdem immer Zeit. Genau genommen hatte ich mir vorher schon Sorgen gemacht, jemand könnte mit einem Teleobjektiv durch unser Fenster fotografieren. Wobei »Sorgen gemacht« der falsche Ausdruck ist – eigentlich hatte ich es eher gehofft; ich hatte gehofft, dass es geschehen würde – das oder irgendetwas anderes in der Art, quasi seit meiner Geburt. Wenn nicht dieser Mann vor dem Fenster, dann Gott oder meine Eltern; oder meine wahren Eltern, die tatsächlich bloß meine Mutter und mein Vater sind, oder mein wahres Ich, das nur auf einen günstigen Moment gewartet hat, um das Steuer zu übernehmen und mich zum Aufgeben zu zwingen. Lass bitte einfach nur jemanden da sein, dem ich wichtig genug bin, um mich zu beobachten. Ich genoss meine Position so sehr, dass ich mir zwei Tage Zeit ließ, bis ich Brian, den Nachbarn, anrief, so wie wenn ein Schwarm endlich zurückschreibt und man den Ball noch eine Weile in der eigenen Hälfte haben will.
»Ist schon ein komisches Gefühl, jemanden anzurufen, der nebenan wohnt«, sagte ich. »Ich hätte ja einfach nur das Fenster aufmachen müssen.«
»Ich bin im Moment nicht zu Hause.«
»Ach so.«
Er sagte, der Mann habe eine Straße weiter geparkt und nur bei uns fotografiert, sonst nirgends.
»Vielleicht hat ihm auch bloß Ihr Haus gefallen«, sagte Brian.
Das mochte ich nicht. Es war ein schönes Haus, keine Frage, aber jetzt mal im Ernst. Ich hatte nicht die letzten beiden Tage nicht angerufen, weil wir so ein nettes Haus hatten.
»Ich stehe ein klein wenig in der Öffentlichkeit«, sagte ich, wobei ich es mit der falschen Bescheidenheit etwas übertrieb. Falsche Bescheidenheit lässt sich sowieso schlecht sparsam dosieren, ungefähr wie Sprühsahne aus der Dose. Brian sagte, genau deshalb habe er sich Sorgen gemacht, wegen meiner allgemeinen Bekanntheit. »Tja, also vielen Dank«, antwortete ich demütig, »es ist wirklich unheimlich nett von Ihnen, dass Sie die Augen offen halten.«
»Das ist schließlich mein Job«, sagte Brian.
»Ach ja, stimmt«, sagte ich, Schluss jetzt mit der Prominummer. Ich bin niemand, den man kennt. Ich spare mir weitschweifige Details, was ich genau mache, nur vielleicht so viel: Ich bin eine Frau, die in jungen Jahren auf mehreren Gebieten erfolgreich war und sehr beständig weitergearbeitet hat, die ihre zentralen Themen stets in einem ekstatischen, losgelösten Dämmerzustand umkreist, in einer Art dissoziativer Fugue, getragen von dem Wissen, dass es keinen anderen Weg gibt und ihr ganzes Leben in diesem einen Gespräch mit Gott besteht. Vielleicht ist Gott aber auch das falsche Wort. Mit dem Universum. Dem Netz unter allem. Ich arbeite in unserer umgebauten Garage. Ein Bein meines Schreibtischs ist kürzer als die anderen, und ich nehme mir seit fünfzehn Jahren praktisch täglich vor, irgendetwas darunterzuklemmen, aber meine Arbeit lässt es an keinem Tag zu, so dringlich ist sie – ich bin permanent an einem entscheidenden Wendepunkt; alles steht ständig kurz vor der Offenbarung. Um fünf Uhr nachmittags muss ich mich ganz bewusst runterholen, bevor ich wieder ins Haus gehe, als müsste sich Buzz Aldrin darauf einstellen, direkt nach seiner Rückkehr vom Mond den Geschirrspüler auszuräumen. Sprich nicht über den Mond, sage ich mir. Frag die anderen, wie ihr Tag war.
Brian, der Nachbar, wollte wissen, ob ich jemanden kenne, der einen Pick-up kaufen will.
»Ein Ford F-150, Baujahr zwo dreizehn. Ich ziehe um und trenne mich von den meisten Sachen.«
»Ach, wo ziehen Sie denn hin?«
»Ich kann meinen nächsten Standort nicht preisgeben«, sagte Brian, und ich entschuldigte mich, dass ich gefragt hatte.
»Sie müssen sicher vieles in Ihrem Leben streng geheim halten.«
»Ja«, sagte er leise. »Aber ich mochte das Viertel hier. Die ganzen Bäume und wie nachts die Koyoten heulen.«
»Ja, das mag ich auch. Es müssen unheimlich viele sein, so wie es sich anhört. Dutzende!«
»Mehr.«
»Meinen Sie, Hunderte?«
»Denke schon, ja.«
Danach verstummten wir beide, und weil ich nicht diejenige sein...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Übersetzer | Stefanie Jacobs |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | All Fours • Amerikanische Literatur • Begehren • Begierde • Biennale • Der erste fiese Typ • Emanzipation • Es findet dich • Feminismus • Film-Künstlerin • Frank-O’Connor-Preis • Frauenroman • Kajillionaire • menopause • Midlife-Crisis • Millenials • MoMA • Mutterschaft • Rachel Cusk • Regisseurin • Roadtrip • Roman für Frauen • Sheila Heti • Unkonventionell • Wechseljahre • weiblicher Körper • Zehn Wahrheiten |
ISBN-10 | 3-462-30283-3 / 3462302833 |
ISBN-13 | 978-3-462-30283-7 / 9783462302837 |
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