Blutmond (eBook)
352 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70486-7 (ISBN)
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
1
Laura Bonorand saß vor einem Notebook. Vor ihr blinkte auffordernd der Cursor in einem bedrohlich leeren Word-Dokument. Auch sie hatte von dem Verbrechen gehört, das am letzten Wochenende in Chur verübt worden war. Eine Auszubildende, deren Mutter ausgerechnet bei der Stadtpolizei Chur arbeitete, war auf verstörende Weise ermordet worden, und als wäre das nicht schon grausam genug, wurde die Leiche an einem Ort aufgefunden, der alle sprachlos zurückließ, vor allem die Polizei!
Diese schreckliche Nachricht hatte Laura am Sonntagmittag über den WhatsApp-Chat ihrer Girls-Clique erreicht, nachdem sie endlich aufgestanden war. Die Nacht davor war sehr kurz gewesen, denn sie hatten gemeinsam den 18. Geburtstag einer der Freundinnen am Crestasee gefeiert, bis der Himmel hell wurde und sie alle heiser waren. Wie Laura aus dem Gruppen-Chat erfuhr, hatten die Boulevardmedien das Verbrechen erst kurz vor Mittag publik gemacht. Brisant am Geschehen: Die Chefermittlerin der Kantonspolizei Graubünden, Giulia de Medici, schien irgendwie in den Fall verwickelt zu sein, hieß es in der Schlagzeile. Ein Foto der Schwarzhaarigen war übergroß im Artikel abgebildet. Die 34-jährige Polizistin trug eine dunkle Jeans, weiße Turnschuhe und ein apricotfarbenes T-Shirt mit dem Schriftzug Columbia University auf der Brust, ihre Waffe steckte im Schulterholster. De Medici stand hinter dem rot-weißen Band der Polizeiabsperrung. Sie trug ihr Haar offen und blickte durch eine dunkle Sonnenbrille seitlich zurück, direkt ins Objektiv des Pressefotografen. Auf dem von der Polizei abgesperrten Platz standen diverse Einsatzfahrzeuge mit eingeschaltetem Blaulicht. Auch die Spurensicherung in ihren weißen Overalls war auf dem Foto zu erkennen. Deren Beamte standen hinter einem achselhohen weißen Sichtschutz, der wohl das Opfer abschirmte. Neben Giulia de Medici stand eine blonde Frau, die ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Deren rechte Hand lag auf Giulias linker Schulter, so als würde sie ihr gut zureden. Beide Frauen trugen eine mit POLIZEI beschriftete Oberarmbinde. Gemäß Bildlegende handelte es sich bei dieser zweiten, ebenfalls bewaffneten Frau um Nadia Caminada, die Profilerin der Kripo und zugleich beste Freundin der Chefermittlerin.
Das Opfer, das wusste Laura schon, war bereits Tage zuvor von der Mutter als vermisst gemeldet worden – nun herrschte fassungslose Gewissheit!
Laura interessierte sich gleich aus mehreren Gründen für diesen Fall: Ihr Vater, Arnold Bonorand, ein ehemaliges Mitglied der Sondereinheit Enzian bei der Kantonspolizei Bern, stand seit zehn Jahren im Dienst der Kantonspolizei Graubünden, war dort bei den Grenadieren, den harten Kerlen sozusagen. Er hatte ihr tags zuvor beim Mittagessen vom Fall erzählt. Dabei hatte er nicht viel preisgegeben, wie es seine Art war, aber doch genug, damit Laura schlussfolgerte, dass es sich bei der vermissten jungen Frau nicht bloß um eine Ausreißerin handeln konnte, wie es in den Tagen zuvor in den Medien geheißen hatte. Die Verschwundene war gleich alt wie sie, das hatte ihr Pa explizit erwähnt, auch im Hinblick darauf, dass Laura am Samstagabend mit ihren Freundinnen zum Bergsee fahren wollte.
»Nicht jeder ist ein Verbrecher, aber es gibt mehr davon, als manch einer denkt«, pflegte ihr Vater hin und wieder zu sagen, und beim Mittagessen am Samstag hatte er hinzugefügt: »Laura, halt einfach deine Augen und Ohren ein bisschen offen, bis wir mehr wissen. Du weißt, was ich meine, ja?«
Sie hatte mit einem gedehnten, leicht genervten »Jaaa, Pa« geantwortet und eine weitere Gabel Pasta in den Mund geschoben, die Augen ein wenig verdreht und sich ihrer Mam zugewandt, die entspannt lächelte. Ihr Vater hatte bloß genickt und in seiner ruhigen Art gesagt: »Dann ist ja gut.«
Ein weiterer Grund, weshalb Laura den Fall seit Bekanntwerden vor einigen Tagen so genau verfolgt hatte, war ihr persönliches Interesse an der Polizeiarbeit. Sie selbst wollte nämlich nach der Matura und dem Erreichen ihres 21. Geburtstags schnellstmöglich zur Polizeischule gehen.
Der blinkende Cursor riss Laura aus ihren Gedanken, sie atmete angespannt. Falten durchzogen ihre Stirn, in ihrem Blick lag Schrecken. Ihre Finger schwebten zitternd über der Tastatur, Angstwellen pulsierten unrhythmisch durch ihren Körper, denn sie war sich sicher, dass nun auch sie diesem Mörder in die Hände gefallen war!
Sie befand sich in einem kleinen Raum, der nicht mehr als sechs oder sieben Meter im Quadrat maß. Längst wusste sie, dass sie in einer Berghütte gefangen gehalten wurde. In dem beengten Raum mit niedriger Holzdecke stand mittig ein Bett, daneben ein kleiner Tisch samt dem Stuhl, auf dem sie jetzt saß. Neben dem Notebook vor ihr lag ein Notizblock und ein Bleistift. Der Boden der Hütte war aus naturbelassenen alten Holzbrettern gefertigt, wie auch die Wände. An der einen Wand hingen drei Jagdtrophäen: ein mittelprächtiges Hirschgeweih, links und rechts davon die kalkweißen Schädel von Gämsen, aus deren Augenhöhlen nur Leere starrte. In einer Zimmerecke hingen an einer Strebe aus Holz drei Glocken, die Riemen reichhaltig bestickt mit Edelweiß-, Enzian- und Alpenröslimotiven. Es roch nach Heu. Wahrscheinlich wurde es über ihr im Giebel gelagert.
Das Bett und der kleine Holztisch waren von einem stabilen Käfig aus Metall umgeben, der bis zu den beiden Holzbalken an der Decke reichte und in dem sie wie ein Tier gefangen gehalten wurde. Aus einer der Ecken des Raums fing sie zudem bei Tag und Nacht eine Kameralinse ein.
Es war ihr dritter Tag in Gefangenschaft. Morgen müsste sie sterben, am Freitag, dem 23. Juni 2023, um genau 11:06 Uhr!
Ihr Peiniger, der nur als lieblose Stimme aus einem Lautsprecher zu ihr sprach, hatte sie dies unmissverständlich wissen lassen und wiederholte die Ansage jeden Morgen um dieselbe Zeit, als könnte sie es in der Zwischenzeit vergessen haben. Mit jedem neuen Morgen rückte das Ende näher, und Laura hatte noch immer keinen Ausweg gefunden. Der Lautsprecher verstärkte die Kälte des Mannes noch zusätzlich, denn mit einer körperlosen Stimme kann man nicht verhandeln, nicht auf Mitgefühl pochen, sich nicht wehren. Der Lautsprecher besaß keine Ohren geschweige denn ein Herz. Jede Anweisung von ihm war wie eine Bahnhofsdurchsage, taub für jegliche Widerrede.
Emotionslos sagte der Mann jeden Morgen: »Es ist Punkt 8:00 Uhr, ich wünsche dir einen guten Morgen«, und nannte ihr dann im selben Atemzug die Anzahl der noch verbleibenden Tage – heute, als er vor 36 Minuten zu ihr gesprochen hatte, war nur noch ein Tag übrig.
Am Dienstagmorgen, nach der ersten Nacht in Gefangenschaft, musste Laura sich nach dieser »Begrüßung« an den kleinen Tisch neben dem Bett setzen und mit Bleistift Stichworte niederschreiben. Stichworte, die ihre Gefühle beschreiben sollten. Sie schrieb:
angst unsicherheit
verzweiflung panik
warum? hilflosigkeit
verlorenheit
hoffnung
Am zweiten Tag wünschte ihr die Stimme via Lautsprecher ebenfalls einen guten Morgen und verkündete dann die verbleibende Zeit von Lauras »Restleben«, so nannte er es. Dann blieb es still im Lautsprecher, bis eine halbe Stunde später um genau 8:30 Uhr der tiefe Gong ertönte. Auch den kannte sie vom Vortag und wusste, was zu tun war. Sie stellte sich in die hintere rechte Ecke des Käfigs und drehte den Rücken zur Gittertür. Dort, das hatte er ihr am Vortag genau erklärt, musste sie sich entsprechend positionieren: die Beine etwas abgespreizt und die Arme über den Kopf wie bei einer polizeilichen Durchsuchung. Ihre Hände umgriffen dabei die fingerdicken Gitterstäbe, den Kopf musste sie gesenkt halten. Dann hörte sie, wie die Zimmertür aufging, dann die schweren Schritte des Mannes, das metallische Geräusch, als er die kleine Luke im Käfig öffnete, die sich auf Knöchelhöhe befand.
Erst nach dem hellen Gong durfte sie sich wieder aus ihrer Starre lösen. Als sie sich dann gestern Morgen zur Luke umgedreht hatte, hatte da zu ihrer Verwunderung ein Notebook auf dem Boden gelegen.
Die Stimme erklärte via Lautsprecher, was dies zu bedeuten hatte: Sie habe nun knapp 30 Minuten Zeit, um den ersten von drei Abschiedsbriefen zu schreiben.
Das war gestern gewesen, am Mittwoch, heute war der zweite Brief dran, morgen, Freitag, dann der dritte, am letzten Tag ihres Lebens. Bis um Punkt 9:00 Uhr musste sie auch heute das Gerät wieder zurück zur Luke legen.
Gestern hatte sie ihrer Mam geschrieben, heute wollte sie die Zeilen an ihren Pa richten. Morgen würde dann der dritte und letzte Brief folgen, nur etwas mehr als zwei Stunden vor ihrem Tod. Dieser würde an ihre kleine Schwester Mia gerichtet sein, doch daran mochte Laura gar nicht denken, denn es zerriss ihr fast das Herz.
Vor ihr blinkte weiterhin auffordernd der Cursor, der in seinem Rhythmus die Zeit emotionslos teilte. Oben rechts auf dem MacBook stand das Datum und die Uhrzeit: Donnerstag, 22. Juni 2023, 8:36 Uhr.
Laura strich sich ihr braunes nackenlanges Haar zurück und legte ihre Hände danach gefaltet auf ihren Kopf, wie eine Fußballspielerin, die soeben eine Torchance vermasselt hatte. Sie blickte sich mit ihren himmelblauen Augen einmal mehr um: Der Raum...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Giulia de Medici | Ein Fall für Giulia de Medici |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Abschiedsbrief • Chefermittlerin • Countdown • Entführung • Graubünden • Hütte • Kantonspolizei • Leiche • Polizei • Psychopath • Verwirrspiel |
ISBN-10 | 3-311-70486-X / 331170486X |
ISBN-13 | 978-3-311-70486-7 / 9783311704867 |
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