Zeit der Schuldigen (eBook)

Roman nach einem wahren Kriminalfall

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Aufl. 2024
431 Seiten
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7517-5618-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeit der Schuldigen - Markus Thiele
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Ein Mörder, der straffrei bleibt

Ein Vater, der für Gerechtigkeit kämpft

Eine Polizistin, die alles aufs Spiel setzt

Als der 72jährige Volker März an einem kalten Herbstmorgen den Bahnsteig betritt, ahnt er nicht, dass er beobachtet wird. Der alte Mann gilt als dringend tatverdächtig in einem Mordfall, der vor 40 Jahren ganz Deutschland erschütterte: Im November 1981 wurde die 17jährige Nina Markowski auf brutale Weise umgebracht. Die Spuren am Tatort belasteten Volker März damals schwer, doch die Beweise reichten nicht für einen Schuldspruch. Verzweifelt kämpft Ninas Vater seither für Gerechtigkeit. Unterstützung erfährt er von Kriminalhauptkommissarin Anne Paulsen, die den Fall Jahrzehnte später wieder aufrollt. Angetrieben von einem sehr persönlichen Motiv schmiedet sie einen ungeheuerlichen Plan, um den damals Freigesprochenen doch noch zur Rechenschaft zu ziehen. Aber ist sie auch bereit, dafür selbst zur Täterin zu werden?

Eindringlich, aufwühlend und hochaktuell - die mitreißende Anatomie eines wahren Verbrechens, angelehnt an den Fall Frederike von Möhlmann



<p class="MsoNormal"><span style="font-family: Arial, sans-serif;">Der Jurist und Schriftsteller Markus Thiele studierte an der Georg-August-Universität in Göttingen, arbeitet seit 2000 als promovierter Rechtsanwalt und vertritt Mandanten in der gesamten Republik. Seine Erfahrungen im Gerichtsaal prägen ihn genauso wie sein großes Interesse an gesellschaftlichen Entwicklungen. 2020 erschien sein Debütroman ECHO DES SCHWEIGENS. Markus Thiele ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und lebt in Göttingen.</span></p>

Prolog

Neun Millimeter


November 2022

Anne erkennt ihn sofort, als sich die Tür der Regionalbahn öffnet und er auf den Celler Bahnsteig tritt. Sein zurückgekämmtes Haar schimmert im Morgenlicht wie Raureif. Die dichten Koteletten reichen bis zu den Kieferknochen hinab und erinnern noch immer an Fingernagelbürsten. Der Lodenmantel ist speckig und glänzt, Volker März trägt ihn beinahe sein ganzes Leben. Er geht aufrecht und lächelt. Es ist das Lächeln eines Mannes, der sich sicher ist, die Welt kann ihm nichts anhaben. Er nimmt Anne nicht wahr, als er auf den Ausgang zutritt.

Es ist der 22. November 2022 – irgendwie eine Schnapszahl, denkt sie. März ist inzwischen zweiundsiebzig Jahre alt, er ist immer noch schlank und einen Meter dreiundachtzig groß. Er hat für sein Alter eine durchtrainierte Figur. Steht alles in der Ermittlungsakte, die mehrere Tausend Seiten umfasst. Anne kennt sie auswendig, jedes Detail hat sie im Kopf. Er treibt dreimal pro Woche Sport in einem Fitnessstudio, und noch immer hilft er stundenweise als Hausmeister bei einer Wohnungsgenossenschaft aus. Er kann sich von dem Job nicht trennen, hat er bei einer seiner Vernehmungen mal gesagt, die Kollegen und die Hausbewohner liebten ihn so sehr. Er sei dort die gute Seele, das hat er auch mal gesagt.

Der Taxistand ist verwaist. März stellt seine Aktentasche auf den Boden und zündet sich eine Zigarette an. Nebel hängt über dem Bahnhofsvorplatz und zieht durch die Straßen, es ist feucht und kalt. Menschen kommen und gehen. Sie reden nicht miteinander, jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Einige telefonieren, andere starren zu Boden, und alle haben es eilig. Die beste Deckung findet sich in der Anonymität der Masse.

Als Anne sich hinter ihn stellt, riecht sie sein Rasierwasser. Tabac Original. Es ist süß. Es ist zu männlich für ihn.

»Guten Morgen, Herr März«, sagt sie.

Er dreht sich um, seine Zigarette fällt zu Boden. »Frau Paulsen. Was wollen Sie von mir?«

Sie zieht ihre Dienstwaffe unter der Jacke hervor und drückt ihm die Mündung in den Bauch; sie achtet darauf, dass kein anderer die Pistole sehen kann. »Wenn Sie schreien oder sich zur Wehr setzen, erschieße ich Sie auf offener Straße. Haben Sie das verstanden?«

Er nickt. Sein Haar ist dünn geworden, der Wind spielt mit den flusigen Strähnen.

»Und wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen sage, erschieße ich Sie auch. Haben Sie das auch verstanden?«

Er nickt noch einmal.

»Wir gehen jetzt zu meinem Wagen, und Sie werden einsteigen. Wir machen eine kleine Spritztour.«

»Sie sind ja verrückt geworden. Was soll das?«

Anne drückt die Waffe fester gegen seinen Unterleib. »Drehen Sie sich um. Sie gehen vor. Dahinten, der blaue Golf. Machen Sie schon.«

März nimmt seine Tasche auf und setzt sich in Bewegung. Sein faltiger Nacken ist ausrasiert, die gebräunte Haut mit Altersflecken gesprenkelt. Er trägt seine goldene Panzerkette um den Hals, sein Lieblingsschmuck. Er hustet und räuspert sich, das typische Kratzen einer Raucherlunge. Anne denkt an seine gelben Finger, von denen in der Akte immer wieder die Rede ist.

Sie dirigiert ihn zur Beifahrertür ihres Golf. Beim Einsteigen hält sie die Waffe weiter auf ihn gerichtet, und als auch sie im Wagen Platz genommen hat, wirft sie ihm ein Paar Handschellen zu. »Los, anlegen.«

Mit fahrigen Bewegungen kommt er ihrer Anweisung nach. »Ich bin ein freier Mann, das wissen Sie. Was Sie machen, ist ungesetzlich.«

Sie startet den Motor.

»Wo bringen Sie mich hin?«

»Schnauze«, sagt sie, während sie kurz in den Seitenspiegel blickt und aufs Gas tritt.

Er soll nicht reden. Noch nicht. Er wird noch genug Zeit zum Reden haben. Er wird sich wünschen, nie wieder so viel Zeit zu haben. Anne spürt, wie sich ihre Haut spannt. Ihr ist, als würde alle Luft aus dem Wagen gesaugt, als würde er von außen zerdrückt.

Die Straßen der Celler Innenstadt sind ungewöhnlich leer für acht Uhr früh. Anne fährt in Richtung Westen. Sie biegt auf die B216, die nach Hambühren führt. März denkt jetzt wahrscheinlich, er weiß, wohin sie mit ihm will, deshalb fragt er kein weiteres Mal. Aber mit dem Ziel ihrer kleinen Reise, wo sie alles für ihr Kommen vorbereitet hat, rechnet er mit Sicherheit nicht.

Sie nimmt ihr Handy aus der Hosentasche. Thomas hat versucht, sie zu erreichen, war klar. Sechs Mal in den letzten acht Stunden. Er gibt keine Ruhe, war auch klar. Sie schaltet das Gerät aus. So ist keine Ortung möglich.

Der ganze Wagen riecht nach Tabac Original, als würden zwei Millionen Duftbäume damit am Rückspiegel baumeln. Sie öffnet das Fenster einen Spalt. Frische Luft dringt herein. Die Scheibenwischer kämpfen gegen den Nebel an, der immer wieder einen Schleier auf die Frontscheibe legt.

»Das wird Sie Ihre Dienstmarke kosten«, sagt er und lacht künstlich auf.

Das Lachen wird ihm vergehen, egal, ob echt oder nicht.

Im Rückspiegel sieht Anne einen Wagen, der schon seit Celle hinter ihr ist. Ein schwarzer Volvo. Sie kennt niemanden, der einen schwarzen Volvo hat. Sie verlangsamt das Tempo, der fremde Wagen kommt im Spiegel näher. Er scheint ebenfalls langsamer zu werden. Annes Herzschlag dagegen wird schneller. Sie steuerte ihr Auto in die nächste Parkbucht und hält an.

»Was ist los?«, fragt März.

Der Volvo fährt vorbei. Der Fahrer trägt eine Kapuze. Sie erkennt ihn nicht, kann sein Gesicht nicht sehen. Könnte auch eine Frau sein … könnte alles Mögliche sein. Sie sieht Gespenster. Ermittlerkrankheit. Überall lauern Gespenster.

Sie steuert ihren Golf wieder auf die Straße und fährt weiter.

Etwa dreihundert Meter vor Hambühren biegt sie rechts auf das weiträumige Grundstück. Das alte Bahnhofsgebäude, das von einem Bauzaun umschlossen wird, ist völlig verfallen, die Kneipe darin ebenso. Über dem Eingang hängt noch immer das vertraute Schild: »Wartesaal«.

Als Anne gestern alles herbrachte, traute sie ihren Augen nicht. Ein paar der Fenster waren eingeschlagen und vergittert, der Tresen und etliche Stühle demoliert. Überall Dreck, Taubenkot, Glasscherben, kaputte Bierkrüge. Das uralte Radio mit Plattenspieler lag auf dem Fußboden, das Klavier hingegen war immer noch dort, wo es früher schon gestanden hatte, hinten in der Ecke. Und alles war bedeckt mit einer dicken Patina aus Staub.

Sie parkt hinterm Haus. Die Gleise gegenüber werden seit den 1980er Jahren nicht mehr befahren, zwischen den Bahnschwellen wachsen Büsche und Sträucher.

Das Abrissunternehmen hat zwei Bagger auf dem Schotterplatz abgestellt und einen Container. Morgen gehen die Arbeiten los, morgen früh um acht rücken die Jungs an und legen alles in Schutt und Asche. Dann ist der Wartesaal Geschichte. Perfekter kann ein Ort nicht sein, auch wenn die Zeit knapp werden könnte.

März schüttelt den Kopf.

Sie steigt aus und öffnet die Beifahrertür. »Raus!«

Er stemmt sich aus dem Auto. So durchtrainiert ist er offenbar doch nicht, das Alter hat mehr Spuren hinterlassen als nur weiße Haare. Er ist einen Kopf größer als sie, ein alter, knochiger Mann. Seine gefesselten Hände zittern. Sie packt ihn am linken Oberarm und zieht ihn mit sich zur Bodenluke.

»Was soll das werden?«, fragt er. »Wollen Sie mich hier einsperren und verhungern lassen?«

Keine schlechte Idee. Aber sie hat etwas anderes mit ihm vor.

Sie zieht das Vorhängeschloss aus den Metallwangen der Luke. Es hat gestern unter dem Druck der Brechstange sofort nachgegeben und war problemlos aufgesprungen.

Acht Stufen führen in den Keller. Daneben ist eine kleine Rampe, auf der früher die Bierfässer hereingerollt wurden. Alles ist mit Matsch und Laub verschmiert und schlierig. Beim Hinabgehen stützt Anne März unterm Arm.

Unten ist es vollkommen finster. Sie schaltet ihre Taschenlampe ein. Der weiß gestrichene Lehmputz ist an unzähligen Stellen von den Wänden gebröckelt. Modriger Geruch hängt in der Luft. Als Kind hat Anne sich nur selten hierher getraut. Sie glaubte, überall würden Geister lauern, es war furchtbar unheimlich. Heute weiß sie, dass es keine Geister gibt. Dennoch flößen ihr die Kellerräume Unbehagen ein. Sie ist froh, als sie März die Holzstufen emporschieben kann, die in die Kühlkammer hinter dem Schankraum führen.

In der Kühlkammer stehen noch die alten Regale, Metallgestelle mit Einlegeböden aus Spanholz. Die Schiebetür zum Lastenaufzug in der Wand steht offen. In diesem Raum hat Mutter damals ihre Vorräte aufbewahrt: Fleisch, Konservendosen, Gemüse und Schnapsflaschen. In der Ecke stand eine Kühltruhe, darin gab es immer Eis am Stiel oder mit Waffelhörnchen.

Anne öffnet den Querriegel der schweren Stahltür und schiebt März in die ehemalige Gaststube. Der Wartesaal – ein guter Name für eine Bahnhofskneipe. Vor der Theke sind Barhocker im Boden verschraubt. Die runden Sitze lassen sich drehen.

»Setzen Sie sich«, sagt sie und deutet auf einen der Hocker. Im Raum ist es dunkel, die Fensterjalousien sind heruntergelassen. Der Strahl der Taschenlampe tanzt über März’ Gesicht.

Er kneift die Augen zusammen und setzt sich. Seine Kniegelenke knacken. Sie öffnet eine seiner Handschellen und befestigt sie am Hockerbein. Das wird halten. Aus eigener Kraft kommt er davon nicht los.

Natürlich weiß er, wo er ist, auch wenn er so tut, als säße er zum ersten Mal an dieser Theke.

Anne schenkt...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Celle • Entführung • Ferdinand von Schirach • Frederike von Möhlmann • Gerechtigkeit • Hambühren • Jakob von Metzler • Justizdrama • Justizskandal • Mörder • Mordfall • R • Selbstjustiz • Thriller • True Crime • True-Crime • Wahre Verbrechen
ISBN-10 3-7517-5618-3 / 3751756183
ISBN-13 978-3-7517-5618-1 / 9783751756181
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