Ihr Ein und Alles (eBook)

Psychothriller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
496 Seiten
btb Verlag
978-3-641-28864-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ihr Ein und Alles - Silje Ulstein
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Der sensationelle, internationale Bestseller aus Norwegen - kaltblütige Spannung für Fans von Gillian Flynn, Jo Nesbø and Tana French.
Ein packender, sinnlich-atemloser Thriller über Einsamkeit und die vielen Facetten der menschlichen Kaltblütigkeit. Liv, Studentin mit einer schwierigen Kindheit, ertränkt ihr Unbehagen zusammen mit ihren beiden Mitbewohnern regelmäßig in Partys, Alkohol und Joints. Trost findet sie in der Gesellschaft von Nero, einer Baby-Schlange, die sie als Haustier hält und zu der sie sich auf fast symbiotische Weise hingezogen fühlt. In Anwesenheit der Schlange fühlt sich Liv zum ersten Mal in ihrem Leben sicher. Bis jemand aus ihrer Vergangenheit auftaucht und ihr Leben erneut ins Wanken gerät ...

Silje O. Ulstein, geboren 1984, hat an der Universität Oslo Literatur studiert und danach einen Kurs für Kreatives Schreiben in Bergen belegt. »Ihr Ein und Alles« ist ihr erster Roman, der in Norwegen als »bestes Debüt dieses Jahrzehnts« gefeiert und in über 10 Ländern erscheinen wird.

Roe


Kristiansund
Freitag, 18. August 2017

Die Uhr auf dem Computerbildschirm nähert sich der Mittagszeit. Ich schaue alle paar Minuten hin und werfe ab und zu einen Blick aus dem Fenster, wo die Fähre Sundbåten in den Hafen zurückkehrt. Der Wind bläst winzige Regentropfen an die Scheibe. Als ich zum ersten Mal hierherkam, dachte ich, das Fenster mit Meerblick würde mir Freude bereiten. Jetzt erinnert es mich nur daran, dass Kristiansund genauso deprimierend ist wie Ålesund, nur dass der Blick aus dem Bürofenster besser ist.

Die Vernehmung des jungen Mädchens, das behauptet, im Schlaf vergewaltigt worden zu sein, ist längst beendet – ich überarbeite gerade den Bericht. Natürlich hätte ich auch mit den anderen in die Kantine gehen und hinterher ein Stück von dem Kuchen essen können, den der Däne als Entschuldigung für irgendeinen Schnitzer mitgebracht hat, den er sich bei der Arbeit erlaubt hatte. Als ich neu bei der Polizei war, mochte ich diese Kuchenrunden. Ich tat sogar so, als würde ich sie immer noch toll finden, als ich zum Vorstellungsgespräch nach Kristiansund fuhr, dabei wollte ich nur weg von Ålesund. Aber diese Runden, bei denen jemand einen Entschuldigungskuchen ausgibt, sind nicht dasselbe, wenn man einen Schreibtischjob hat und nicht mehr im Außendienst ist. Man wird einfach zum Kollegen, der nur vom Kuchen isst und nie einen backt – der sich die Geschichten anhört und sie analysiert, aber keine eigenen mehr erlebt, bei denen er sich einen Fehler erlauben könnte. Einige von den alten Kollegen, die nicht mehr im Einsatz sind, backen immer noch Kuchen und bringen ihn mit, aber das ist irgendwie komisch.

Es geht nicht nur darum, dass ich nicht mehr im Außendienst bin. Nach allem, was passiert ist, kann ich es kaum ertragen, unter Menschen zu sein. Und wenn Polizisten zusammen Kuchen essen, stellen sie Fragen. Sie wollen alles wissen, was in deinem Kopf vorgeht. Ich habe nicht vor, auch nur ein Detail preiszugeben, das sie nicht wissen müssen. Sie finden es hart, einen Junkie von der Straße aufzusammeln, und halten es für eine Tragödie, wenn aus ihren Flirtversuchen nichts wird. Mit solchen Leuten kann ich nicht darüber reden, wie es ist, alles zu verlieren, was einem wirklich etwas bedeutet hat, ohne dass einem klar war, wie wichtig es einem war. Wie es sich anfühlt, wenn man sechzig ist und jedes Jahr, das vergeht, zugleich ein weiteres ist, das zwischen mich und mein Kind gelegt wird. Für mich ist es zu spät. In der Vergangenheit liegt eine immer fernere Erinnerung an Menschen, die ich nicht wertschätzte, als ich sie noch hatte, und in der Zukunft wartet nur der Tod. Aber das kann ich meinen Kollegen nicht sagen. Dann bin ich nur der mürrische alte Mann, der schweigend dasitzt und ihren Kuchen isst. Sie dürfen mich nicht zwingen, dieser Kerl zu sein.

Das Einzige, was mir aus der Zeit in Ålesund fehlt, ist, dass meine dortigen Kollegen genau wussten, wo meine Grenze verlief. Als ich ging, hatte ich keine Ahnung, dass ich das einmal vermissen würde. Sverre kennt mich so lange, dass wir wieder zueinander hätten finden können, wenn ich die Kraft dazu gehabt hätte, aber für ihn ist es auch völlig in Ordnung, mich einfach in Ruhe zu lassen. Dieses Verständnis fehlt mir hier.

Mein Magen knurrt, aber ich will warten, bis möglichst wenig Leute in der Kantine sind, bevor ich zum Mittagessen gehe. Um die Zeit totzuschlagen, schaue ich mir noch einmal das Video von der Vernehmung des jungen Mädchens an. Sie sitzt mit gesenktem Kopf da, die Hände im Schoß. Ihre Haare verdecken ihr Gesicht vor der Kamera. »Ich kannte ihn von früher«, sagt sie, »von der Schule und so. Er hat mich nie angemacht, da war nichts zwischen uns. An dem Abend, auf der Party bei ihm zu Hause, hat er es bei mir versucht, aber er war nicht aufdringlich oder so.« Meine eigene Stimme unterbricht sie mit einem Räuspern: »Also, du sagst, er hat es versucht – was hat er getan?« Stille. Dann: »Er wollte über Dinge reden. Private Dinge. Dann wollte er mich küssen, aber ich habe mich zurückgezogen. Ich habe gesagt, dass ich kein Interesse habe, und dann hat er aufgegeben. Danach schien alles in Ordnung zu sein. Er ist ein Typ, bei dem man sich sicher fühlt. Ich hatte keine Angst, mich neben ihn zu legen und einzuschlafen.« Das Mädchen fängt an zu weinen. Ich sehe zu, wie ich ihr die Schachtel mit den Taschentüchern reiche. »Erzähl mir bitte, was dann passiert ist«, sage ich. »Ich habe geschlafen«, sagt sie. »Ich bin erst aufgewacht, als er angefangen hat. Er … hat Sachen mit mir gemacht, während ich geschlafen habe.« Meine Stimme unterbricht sie erneut. »Ich weiß, dass es schwierig ist«, sage ich, »aber du musst versuchen, so genau und detailliert wie möglich zu sein. Wenn du sagst, dass er Sachen mit dir gemacht hat, kannst du mir sagen, was du damit meinst?«

Ich weiß noch, wie ich mich die ersten Male fühlte, als ein solches junges Mädchen weinend vor mir saß. Wie wütend ich auf den oder die Täter war. Manchmal hatte ich diesen Mädchen mehr zu geben als meiner eigenen Tochter. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich eher brauchten, nach allem, was sie durchgemacht hatten. Inzwischen hört die Empathie auf halbem Weg auf. Ich ertrage dieses Gefühl nicht mehr und habe Angst, rotzusehen und durchzudrehen.

Ich halte das Video mitten in der Vernehmung an. Einen Moment betrachte ich den gesenkten Kopf des Mädchens. Ich erinnere mich, wie meine Lütte die Straße hinauf zu dem Haus lief, in dem wir als Familie lebten. Sie hat sich immer so gefreut, mich zu sehen. Plötzlich beginnt das Herz in meiner Brust schneller zu klopfen. Ich schüttle die Erinnerungen ab und schalte das Video aus.

Ich gehe gegen den Strom von Polizisten, die gerade zu ihren Schreibtischen zurückkehren. Bald werden viele von ihnen weg sein – die Einsatzzentrale wird in wenigen Wochen nach Ålesund verlegt. Alles verschwindet aus Kristiansund. Nur ich bin in die entgegengesetzte Richtung gereist.

Auf dem Weg nach oben bleibe ich stehen, um meine Schnürsenkel zu binden. Ich lausche dem Stimmengewirr in der Polizeistation, es erinnert an einen Bienenschwarm, der mich umgibt. Ich weiß, dass ich das nicht mehr lange aushalte, aber es gibt auch keine Alternative für mich. Ich richte mich auf und beschließe, den Rest der Treppe hinaufzujoggen, auch wenn mich niemand sehen kann, vorbei an den Wachspuppen in alten Polizeiuniformen.

Birte kommt aus der Kantine, in der Hand eine Flasche Sprudelwasser. Ihr Gesicht ist so dicht mit Sommersprossen bedeckt, dass sie an eine Landkarte erinnert, der übliche rote Zopf hängt über die Schulterklappe ihres Uniformhemdes. Birte hebt die Hand zum Gruß, als ich an ihr vorbeigehe. Man grüßt sich hier viel zu oft, das ist anstrengend. Kaum bin ich durch die Tür, höre ich hinter mir einen Schrei, gefolgt von schrillem Gelächter. Ich drehe mich um und sehe, dass sich der Däne als Schaufensterpuppe verkleidet hat, mit Perücke und alter Uniform. Der große Mann krümmt sich vor Lachen. Birte muss sich auf die Stufen setzen und sich die Augen reiben, so sehr lacht sie. Ich weiß, es ist blöd von mir, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Däne schon dort gestanden hat, als ich vor ein paar Sekunden vorbeigegangen bin. Dass er gewartet hat, bis ich weg war, ganz still, damit er herausspringen und jemand anderen erschrecken konnte.

In der Kantine sitzen noch ein paar Grüppchen, die eine lange Mittagspause machen. Keines der Gerichte sieht besonders appetitlich aus, und ich entscheide mich für einen Hühnchensalat. Ich nehme mir eine Zeitung und gehe zu einem Fenstertisch. Der Fußballtrainer Magne Hoseth ist heute auf der Titelseite von Tidens Krav abgebildet – er will Kristiansund dabei helfen, in der ersten norwegischen Liga zu bleiben. Ich blättere in der Zeitung, bis ich das Interview gefunden habe. Eigentlich ist es mir egal, wie der Verein in der Fußballliga abschneidet, aber wenigstens geht es in dem Artikel um etwas anderes als Wirtschaft oder Krankenhäuser. Falsch. Auch Hoseth hat eine Meinung zum geplanten Regionalkrankenhaus, das den Steuerzahler bereits vierhundertfünfzig Millionen Kronen gekostet hat. Vor einer Woche hat Kristiansund die Berufung im Krankenhausprozess verloren. Die Klinik wird nun in Molde gebaut.

Ich fasse mir ein Herz und schiebe die Gabel in den Hühnchensalat. Kaum habe ich den Mund geöffnet, sehe ich aus dem Augenwinkel jemanden auf mich zukommen.

»Ja, wer sitzt denn da!«

Åsmund trägt einen grau-braunen Pullover, der viel zu klischeehaft zu seinen weißen Haaren passt. Er versteht nicht, dass ich lieber nicht mit ihm gesehen werden möchte. Dass seine Anwesenheit die Aufmerksamkeit auf meine silbergrauen Strähnen lenkt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf Åsmunds unvermeidliche Geschichten über Schulbesuche und beunruhigende Gespräche mit Jugendlichen vorzubereiten.

»Wie geht es dir, Åsmund?«

Åsmund seufzt und stellt sein Tablett auf den Tisch.

»Weißt du, je länger ich hier arbeite, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass es einfach keine Hoffnung für die nächste Generation gibt.«

»Wenigstens musst du dich nicht um Sexualdelikte kümmern. Da nehme ich lieber eine Schlägerei unter Alkoholeinfluss oder einen Einbruch – Sexualdelikte machen einen wirklich fertig.«

Was ich an Åsmund am schwersten akzeptieren kann, ist die Tatsache, dass wir uns eigentlich ganz gut verstehen. Das ist deprimierend.

»Ich habe gehört, dass du sehr gut mit solchen Fällen umgehen kannst, Roe. Ich habe vorhin beim Kuchenessen mit ein paar von den Kollegen gesprochen. Sie sagen, du bist richtig gut im...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2024
Übersetzer Max Stadler
Sprache deutsch
Original-Titel Krypdyrmemoarer
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2024 • Drama • eBooks • Kindheit • Neuerscheinung • Norwegen • Pageturner • Psychothriller • Suspense • Thriller
ISBN-10 3-641-28864-9 / 3641288649
ISBN-13 978-3-641-28864-8 / 9783641288648
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