Der Lärm des Lebens (eBook)

Spiegel-Bestseller
'Hingebungsvoll ... Ein Buch, das einen umarmt und dankbar macht.' WDR 5
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2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01940-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Lärm des Lebens -  Jörg Hartmann
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In «Der Lärm des Lebens» erzählt Jörg Hartmann auf hinreißende Weise seine Geschichte und die seiner Eltern und Großeltern. Es ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Familie - und an den Ruhrpott. Ob es um die Situation seiner gehörlosen Großeltern im Nationalsozialismus geht, die Lebensklugheit seiner Mutter, die fu?r kurze Zeit eine Pommesbude betrieb, die Demenzerkrankung seines Vaters, der Dreher und leidenschaftlicher Handballer war, die vielen skurrilen Erlebnisse in der Großfamilie oder um Schlu?sselbegegnungen, die er als Schauspieler hatte - immer hält Hartmann die Balance zwischen Tragik und Komik. Er hat dabei einen kraftvollen Erzählton - persönlich, beru?hrend, humorvoll. Und fragt: Warum kehren wir immer wieder zu unseren Wurzeln zuru?ck? Es geht Hartmann darum, den Kreislauf des Lebens zu fassen: Eltern und Kinder, Anfang und Ende, Aufbruch und Ankunft, Werden und Vergehen - eben alles, was zum geliebten Lärm des Lebens gehört. Ein weises, geschichtenpralles Buch u?ber Herkunft und Heimat - und den Wunsch, sich davon zu lösen und in die Welt zu ziehen. Eine Éducation sentimentale und, wie nebenbei, eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik.

Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. 1969 geboren, wuchs er in Herdecke, im Ruhrpott, auf. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie «Weissensee» oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt; im Kino war er etwa in «Wilde Maus» oder zuletzt in «Sonne und Beton» zu sehen. Jörg Hartmann wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis. Für den Tatort «Du bleibst hier» (2023) schrieb er das Drehbuch. Er hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. 1969 geboren, wuchs er in Herdecke, im Ruhrpott, auf. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie «Weissensee» oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt; im Kino war er etwa in «Wilde Maus» oder zuletzt in «Sonne und Beton» zu sehen. Jörg Hartmann wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis. Für den Tatort «Du bleibst hier» (2023) schrieb er das Drehbuch. Er hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Eins Am Lehniner Platz


Im Westen Berlins, dem Grunewald so nah und doch im Gewimmel der Stadt, gibt es einen Bau, der jünger aussieht, als er ist. Wie ein Schiff liegt er da, mit kühnem, rundem Schwung zur Straße hin. Dieses Schiff war ursprünglich mal ein Kino, es wurde im Krieg beschädigt, verfiel, und was weiß ich, was noch alles mit ihm passierte, bis es letztendlich wachgeküsst wurde von einigen eifrigen Theaterleuten. Und seitdem ankert es hier im Hafen des Lehniner Platzes am berühmten Kurfürstendamm, hat gute, mitunter sogar herausragende – ach, was rede ich, legendäre! –, aber auch schwierige Zeiten erlebt und nennt sich bis heute: Schaubühne.

Neben diesem Theater gab es mal ein Restaurant, einen Italiener mit Namen Ciao. Und da die Theaterleute das Ciao zu ihrer Kantine, nein, zu ihrem Wohnzimmer auserkoren hatten – sie also, traf man sie nicht im Theater an, mit Sicherheit dort zu finden waren –, hieß die Schaubühne bei vielen bald nur noch Ciao-Bühne.

Das wussten wir damals noch nicht.

Aber wir wussten, die Chancen standen nicht schlecht, die Chefin der Ciao-Bühne im Ciao anzutreffen.

Und so war es auch.

Wir standen vor den großen Scheiben des Italieners, lugten hinein, und es gab keinen Zweifel, das musste sie sein: Andrea Breth. Die berühmte Intendantin und Regisseurin des Hauses. Sie saß da mit einer älteren Dame und einem älteren Herrn.

Konnten wir jetzt einfach so rein? Einfach so stören?

Aber wir wollten stören, wir mussten es, mussten es unbedingt, denn schließlich war es unser letzter Abend in Berlin. Seit vier Tagen waren wir in der großen Stadt, hatten Volksbühne, Maxim Gorki und das Deutsche Theater abgegrast und versucht, dort die richtigen Leute zu finden – leider erfolglos –, doch das Haus am Lehniner Platz blieb für uns das verlockendste Objekt der Begierde. Jeden Abend waren wir um die Schaubühne und das Ciao herumscharwenzelt, in der Hoffnung, die Breth zu sehen, sie anquatschen zu können: «Frau Breth, wir sind zwei Schauspielschüler aus Stuttgart und wollen an die Schaubühne! Nehmen Sie uns! Sie werden es nicht bereuen! Wir sind die Besten!» So oder so ähnlich.

Wir hatten das Haus umschlichen und zugleich gehofft, niemanden anzutreffen. War leider keiner da. An die Breth kein Rankommen. Dumm gelaufen. So hätten wir es den Kommilitonen in Stuttgart verklickern können. Lieber das als eine Abfuhr. Als das Eingeständnis und die Schmach, dass es nicht gereicht hatte für die Schaubühne. Jeden Abend also auch die Erleichterung darüber, unverrichteter Dinge wieder von dannen zu ziehen und sich ohne das flaue Gefühl einer bevorstehenden Prüfung in die aufregende Millionenstadt stürzen zu dürfen, die ja vor allem deshalb so aufregend war, weil fast auf den Tag genau vier Jahre zuvor diese beschissene Mauer gefallen war.

Und jedes Mal die Gewissheit, am darauffolgenden Abend wieder hierherzukommen an den Lehniner Platz. Nicht hinzugehen, war undenkbar, das hätte man uns im fernen Stuttgart als Feigheit ausgelegt – und wir uns auch. Wir wollten an dieses große Haus, gleich an die Spitze, ganz nach oben, etwas anderes war nicht drin.

Heute Abend also unsere letzte Chance.

Andrea war da.

Es gab kein Zurück.

Noch einmal tief Luft holen und dann ab ins Ciao. Ich voran, Hüseyin hinter mir her, oder umgekehrt, weiß ich nicht mehr, wir also rein, durch den ganzen edlen Laden – unter zehn Mark gibt’s hier bestimmt kein Glas Wein, dachte ich – und zack, bis zu Andrea.

Und dann standen wir da. Direkt vor ihr.

Andrea blickte auf. Sie war ja nicht unsensibel, die Theaterlegende, merkte also, da ist was im Busch, da wollen zwei Dahergelaufene was von ihr. Sie starrte uns an. Durchbohrender Blick.

«Entschuldigen Sie bitte», sagte ich. «Tut uns leid, dass wir Sie stören, aber … sind Sie Frau Breth?»

Was für eine bescheuerte Frage, ich wusste doch, dass sie es war!

Sie musterte uns.

Meine Hände waren feucht.

«Jaaa», sagte sie gedehnt. «Und wer seid ihr?»

«Wir sind zwei Schauspielschüler aus Stuttgart, und wir wollten Sie fragen, ob wir Ihnen vorsprechen können.»

Andrea machte:

«Hm …»

Wie aus dem Kellerloch.

Dann eine Pause.

Die weißhaarigen Unbekannten neben ihr betrachteten uns mit wohlwollendem Schweigen.

«Wie lange seid ihr denn noch hier?»

Ich wusste, das konnte jetzt schwierig werden – und zögerte. Hüseyin sprang für mich ein:

«Na ja», sagte er, «wir müssen morgen früh wieder zurück. Um sechs startet unsere Mitfahrgelegenheit.»

«Ihr seid ja witzig.»

Stille.

Horváthsche Totenstille.

Sie tastete uns ab mit ihrem Blick. Von oben bis unten.

«Jetzt passt mal auf», sagte Andrea ruhig und bestimmt. «Ich sitze hier mit meinen Eltern

Wie blöd kann man sein, dachte ich, wir Dorftrottel platzen direkt ins Brethsche Wohnzimmer.

«Die sehe ich sehr selten.»

Ich ahnte, was kommen würde: Also verpisst euch!

«Die gehen gleich in die Vorstellung. Seid um halb acht an der Pforte!»

Ich vergaß kurz zu atmen. Dann fiel es mir wieder ein.

«Danke! Vielen Dank!», stammelten wir und lächelten brav – auch in Richtung Mama und Papa, konnte ja nicht schaden.

Dann zogen wir ab und landeten draußen am Kudamm, panisch-hysterisch gackernd, immer wieder Luftsprünge machend: «Ach du Scheiße! … Scheißeee!»

 

Zwanzig Minuten darauf, einiges vor der verabredeten Zeit, schlichen wir wieder über den Lehniner Platz. Bloß nicht zu spät kommen, war die Devise. Aber auch nicht zu früh, das würde so wirken, als hätten wir es nötig. Eine Punktlandung, das war das Ziel, wäre Ausdruck höchster Souveränität. Bis zur Punktlandung hatten wir noch einen Moment, also blickten wir mehrfach hinein in den Ort unserer Sehnsucht. Hinter den großen Scheiben im Halbrund des Hauses die Besucher, die ins langgezogene Foyer strömten, dann rechts in den Theatersaal. Draußen folgten wir der Bewegung der Masse, der elegante Bug des Theaterbaus jetzt hinter uns.

Waren ihre Eltern irgendwo zu sehen? Es wäre sicher hilfreich, ihnen noch mal zuzuwinken, dachte ich. Ihnen zuwinken und zulächeln als vorbeugende Maßnahme. Sollten wir bei der Tochter keine Glanzleistung abliefern, würden die beiden zweifellos ein gutes Wort für uns einlegen. Doch zu spät. Keine Eltern in Sicht.

Die letzten Zuschauer betraten den Theatersaal. Dann ein paar Nachzügler im Foyer, aufkommende Hektik, beruhigende Worte der Einlassdame, hat noch nicht angefangen, dann, schwupp, hinein und die Türen zu. Das Personal setzte sich auf die Bänke im langgestreckten Vorraum, bereit, die folgenden Stunden mit geflüstertem Geplauder zu füllen oder mit der noch ungelesenen Tageszeitung.

Gleich halb acht. Zeit, an die Pforte zu gehen!

Wir wollten gerade los, da bewegte sich etwas hinter der Scheibe. Im Foyer rechts öffnete sich eine Tür, und eine Frau trat heraus. Kam auf uns zu. Hielt uns gefangen mit ihrem Blick.

Die sieht ja aus wie die Breth, war mein erster Gedanke.

Mein zweiter war: Es ist die Breth.

Sie öffnete die Glastür und grinste uns an.

«Na, wollt ihr rein? Oder habt ihr’s euch anders überlegt?»

Hüseyin schoss ein Lachen in die Luft:

«Jaja, klar, wollen wir! Unbedingt! Lustig, dass wir Sie hier treffen!»

«Wo sonst? An der Volksbühne?»

Diesmal lachten wir beide.

Die Breth blieb ernst.

«Na los!»

Die Meisterin ließ uns hinein, und wir betraten mit ihr die heilige Halle. Die Einlassdamen und -herren blickten auf. Wen schleppt die Chefin denn da an?

«Wir haben mal geguckt, ob wir Ihre Eltern noch sehen. Haben wir aber nicht.»

Die Breth marschierte das lange Foyer nach hinten, wir hinterher.

«Und wenn ihr sie gesehen hättet, was dann?»

Gute Frage.

«Ähm … Gar nix.»

«Wir hamm nur geguckt.»

Am Ende des Foyers folgten wir ihr rechts durch eine Tür, nach wenigen Metern ab nach links, und schon standen wir vorm Pförtner.

«Haben Sie mal den Schlüssel für die Achilles-Straße?», fragte sie in die enge Pförtnerstube, die ein dicker Glatzkopf fast komplett ausfüllte. «Die beiden Herren hier meinen, sie müssten mir unbedingt vorsprechen.»

Das saß.

Während der Pförtner behäbig ans Schlüsselbrett griff, sagte ich mir, das ist nur ein Trick: Andrea will prüfen, wie standhaft wir sind, ob schon eine Bemerkung wie diese uns umpustet, unsere Untauglichkeit für die ersehnte Bühne beweist. Sah ich nicht sogar ein leicht verschmitztes Lächeln in ihren Augen? Ein Aufleuchten? Eine geradezu mädchenhafte Leichtigkeit? Wir waren auf alles gefasst gewesen, aber darauf nicht. Schließlich hatte man viel über die große Breth erzählt, über ihre Unberechenbarkeit, ihre Launen, ihre urplötzlichen Stimmungswechsel, ihre absolute Gnadenlosigkeit, aber auch über ihr Charisma und ihre faszinierend-einschüchternde Intelligenz.

Die Breth nahm den Schlüssel entgegen und marschierte los. Richtung Albrecht-Achilles-Straße. Und wir hinterher.

Eine stattliche Erscheinung, dachte ich. Stiernacken. Zigarette im Mundwinkel. So groß wie wir, nur etwas breiter, sodass wir Schwierigkeiten hatten, uns zu sehen, Hüseyin jetzt links und ich rechts von...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Andrea Breth • Aufbruch • Autobiographie • Berlin • Bildungsroman • BRD • Christian Berkel • Coming-of-age • DDR • Demenz • Deutsche Teilung • Dortmund • Entwicklungsroman • Erwachsenwerden • Falk Kupfer • Familie • Familiengeschichte • Familienroman • Gehörlos • Generationenroman • Geschichte der Bundesrepublik • Heimat • Herdecke • Herkunft • Mauerfall • Memoir • Mukoviszidose • Nationalsozialismus • Nazis • Nordrhein-Westfalen • NRW • Peter Faber • Rolf Boysen • Ruhrgebiet • Ruhrpott • Schaubühne • Schauspieler • Sonne und Beton • Tatort • Thomas Holtzmann • thomas ostermeier • Ulrich Matthes • Weissensee • Wilde Maus
ISBN-10 3-644-01940-1 / 3644019401
ISBN-13 978-3-644-01940-9 / 9783644019409
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