Galapagos (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
336 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-30045-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Galapagos -  Kurt Vonnegut
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Vor einer Million Jahre - 1986, um genau zu sein - ist die Welt, wie wir sie kennen, dem Untergang geweiht. Erst brechen die Finanzmärkte der Erde zusammen, dann das Klima und schließlich sorgt eine Pandemie dafür, dass alle Frauen unfruchtbar werden. Alle bis auf diejenigen, die sich an Bord des Kreuzfahrtschiffes Bahia de Darwin auf dem Weg zu den Galapagos-Inseln befinden. Plötzlich sind die Passagiere die letzte Hoffnung der Menschheit. Doch damit die Menschen als Spezies überleben können, muss sie die Evolution von dem befreien, was sie beinahe in den Untergang geführt hätte: ihren übergroßen Gehirnen.

Kurt Vonnegut (11.11.1922 - 11.04.2007) meldete sich nach seinem Biochemiestudium freiwillig zur U. S. Army und nahm 1944 an der Ardennenoffensive teil. Er geriet in Kriegsgefangenschaft und kam nach Dresden, wo man ihn und seine Mitgefangenen in einem Schlachthof unterbrachte. Die Bombardierung Dresdens verarbeitete Kurt Vonnegut später in seinem bekanntesten Roman »Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug«, der sich bis heute weltweit millionenfach verkauft. Nach seiner Befreiung und Rückkehr in die USA erschien 1952 sein erster Roman »Player Piano«, 1959 folgte »Die Sirenen des Titan«, der von Harry Rowohlt ins Deutsche übertragen wurde. Bis zu seinem Tod lebte und arbeitete Kurt Vonnegut in New York. Er starb am 11. April 2007 im Alter von 84 Jahren.

11


Wenn Mary, statt sich umzubringen, ihr Ohr an die Rückwand des Kleiderschrankes gelegt und gelauscht hätte, wäre sie Zeugin einer geflüsterten Unterhaltung im Nachbarzimmer geworden. Mary hatte allerdings keine Ahnung, wer rechts und links von ihr wohnte, denn als sie am Vortag eingetroffen war, hatte es noch keine anderen Gäste gegeben, und seither hatte sie ihr Zimmer ja nicht mehr verlassen.

Die Verursacher der Flüsterns waren *Zenji Hiroguchi, das Computergenie, und seine schwangere Frau Hisako, die Ikebana-Lehrerin, die Unterricht in der japanischen Kunst des Blumensteckens erteilte.

Ihre Nachbarn auf der anderen Seite waren Selena MacIntosh, die blinde, achtzehnjährige Tochter von *Andrew MacIntosh, und Kazakh, ihr Blindenhund, ebenfalls weiblich. Mary hatte nur deshalb kein Bellen gehört, weil Kazakh niemals bellte.

Kazakh bellte nie, Kazakh spielte nie mit anderen Hunden, Kazakh untersuchte nie interessante Gerüche und jagte auch nie hinter irgendwelchen Lebewesen her, die zu den natürlichen Beutetieren ihrer Vorfahren gehört hatten. Denn als sie noch ein Welpe war, hatten Menschen mit großen Gehirnen ihr die Nahrung entzogen und sie bestraft, wenn sie so etwas tun wollte. Man hatte ihr von Anfang an klargemacht, auf was für einem Planeten sie lebte: Alle natürlichen hündischen Verhaltensweisen waren verboten – alle.

Ihre Geschlechtsorgane wurden entfernt, damit der Sexualtrieb sie von ihren künftigen Aufgaben nicht ablenken konnte. Ich würde gern behaupten, dass in meiner Geschichte bald nur noch ein Mann und eine Menge weibliche Wesen auftreten werden, zu denen auch eine Hündin gehörte. Aber aufgrund des chirurgischen Eingriffs an ihren Geschlechtsorganen war Kazakh gar nicht mehr weiblich. Ebenso wie Mary Hepburn nahm sie an der Evolution nicht mehr teil. Sie würde ihre Gene an niemanden mehr weitergeben.

Hinter Selenas und Kazakhs Zimmer lag die Suite von Selenas energischem Vater, dem Finanzmann und Abenteurer *Andrew MacIntosh. Beide Räumlichkeiten waren durch eine offene Zwischentür miteinander verbunden. *Andrew MacIntosh war Witwer. Mit Mary Hepburn wäre er wahrscheinlich gut ausgekommen, denn er liebte das Leben an der frischen Luft genauso wie sie. Sie sollten sich allerdings niemals treffen. Wie ich schon gesagt habe, werden *Andrew Maclntosh und *Zenji Hiroguchi noch vor Sonnenuntergang tot sein.

James Wait hatte übrigens ein Zimmer im zweiten Stockwerk, so weit wie möglich von allen anderen Gästen entfernt. Sein großes Gehirn ließ ihn glauben, dass er gewöhnlich und harmlos aussah, aber das war ein Irrtum. Der Hoteldirektor hatte erkannt, dass Wait irgendeine Art Gauner sein musste.

Der Hoteldirektor, ein äußerst melancholischer, mittelalter Mann namens *Siegfried von Kleist, stammte aus einer der alteingesessenen, größtenteils sehr wohlhabenden deutschen Familien in Ecuador. Seine beiden Onkel väterlicherseits in Quito, denen sowohl das Hotel als auch die Bahía de Darwin gehörten, hatten ihm das Hotel für zwei Wochen anvertraut, damit er die Ankunft der Passagiere überwachte, die an der »Nature Cruise of the Century« teilnehmen wollten. Diese zwei Wochen gingen jetzt ihrem Ende entgegen. Im Allgemeinen war er ein Müßiggänger, der eine ganze Menge Geld geerbt hatte, aber seine Onkel hatten ihn moralisch so unter Druck gesetzt, dass ihm gar nichts anderes übrig geblieben war, als in ihrem Familienunternehmen gewissermaßen »mit Hand anzulegen«.

*Siegfried von Kleist war unverheiratet und hatte sich nicht fortgepflanzt. Vom Standpunkt der Evolution aus gesehen, war er vollkommen bedeutungslos. Als Heiratskandidat für Mary Hepburn wäre er natürlich infrage gekommen, aber er war ebenfalls zum Tode verurteilt. Den Sonnenuntergang sollte er zwar überleben, dafür aber drei Stunden später von einer Flutwelle ertränkt werden.

Es war jetzt vier Uhr nachmittags. *Siegfried von Kleist, dieser gebürtige ecuadorianische Hunne mit wässerigen blauen Augen und hängendem Schnurrbart, sah aus, als wüsste er, dass sein Ende nahte, aber in Wirklichkeit konnte er die Zukunft genauso wenig vorhersagen wie ich. Allerdings spürten wir an diesem Nachmittag beide, dass der Planet auf seiner Achse eierte und alles Mögliche passieren konnte.

*Zenji Hiroguchi und *Andrew MacIntosh sollten übrigens an Schussverletzungen sterben.

*Siegfried von Kleist ist für meine Geschichte nicht wichtig, aber sein Bruder Adolf, drei Jahre älter und ebenfalls Junggeselle, ist außerordentlich wichtig. Adolf von Kleist, der Kapitän der Bahía de Darwin, ist nämlich der Stammvater der gesamten heutigen Menschheit.

Mithilfe von Mary Hepburn ist er gewissermaßen ein zweiter Adam geworden. Als Eva konnte die Biologielehrerin aus Ilium allerdings nicht dienen, denn sie hatte ihren letzten Eisprung lange hinter sich. Sie sollte sich vielmehr zu einer Art Göttin entwickeln.

Der extrem wichtige Bruder des unbedeutenden Hoteldirektors traf übrigens gerade in einem nahezu leeren Transportflugzeug auf dem Internationalen Flughafen von Guayaquil ein. Er kam aus New York, wo er für die »Nature Cruise of the Century« Reklame gemacht hatte.

Wenn Mary durch ihre Schrankwand hindurch die Hiroguchis belauscht hätte, wäre ihr vermutlich unklar geblieben, was ihre Nachbarn beunruhigte, denn das Flüstern der beiden war ein japanisches Flüstern, weil Japanisch die einzige Sprache war, die beide beherrschten. *Zenji sprach ein bisschen Englisch und Russisch, Hisako ein bisschen Chinesisch. Keiner von beiden sprach Spanisch, Quechua, Deutsch oder Portugiesisch, die geläufigsten Sprachen in Ecuador.

Wie sich zeigen sollte, waren auch die Hiroguchis erbittert darüber, was ihre angeblich so fabelhaften Gehirne mit ihnen gemacht hatten. Dass sie in ihre derzeitige albtraumhafte Situation geraten waren, kam ihnen deshalb besonderslächerlich vor, weil *Zenji weithin als einer der klügsten Männer der Welt galt. Es war aber sein und nicht Hisakos Fehler gewesen, dass sie jetzt praktisch Gefangene des dynamischen *Andrew MacIntosh waren.

Gekommen war es dazu folgendermaßen: Vor einem Jahr hatte *MacIntosh mit seiner blinden Tochter und ihrem Hund Japan besucht und dabei *Zenji kennengelernt. Es war ihm aufgefallen, welch fabelhafte Arbeit der junge Angestellte bei Matsumoto für seine Firma leistete. Technologisch war *Zenji mit seinen neunundzwanzig Jahren schon Großvater. Er hatte bereits vor Jahren einen Taschencomputer entwickelt, der mehrere Sprachen gleichzeitig übersetzen konnte, und ihn auf den Namen Gokubi getauft. Als *MacIntosh Japan besuchte, hatte *Zenji gerade das Pilotmodell einer neuen Generation von Übersetzungscomputern geschaffen, das er Mandarax genannt hatte.

*Andrew MacIntosh, dessen Investitionsgesellschaft durch den Verkauf von Aktien und Anleihen die verschiedensten Unternehmen – und auch sein eigenes – finanzierte, nahm also den jungen *Zenji beiseite und sagte ihm, er sei ein Idiot, wenn er weiter als Angestellter arbeite. Er, *MacIntosh, könne ihm zu einer eigenen Firma verhelfen, die ihn praktisch sofort zum Dollarmillionär oder Yenbillionär machen würde.

Daraufhin erbat sich *Zenji Bedenkzeit.

Dieses erste Gespräch der beiden fand übrigens in einem Sushi-Restaurant in Tokyo statt. Sushi war damals, vor einer Million Jahren, ein sehr populäres japanisches Gericht, das aus rohem Fisch und kaltem Reis bestand. Niemand hätte sich zu dieser Zeit wohl träumen lassen, dass in gar nicht allzu ferner Zukunft jedermann praktisch nur noch rohen Fisch essen würde.

Der rotgesichtige, lautstarke amerikanische Unternehmer und der zurückhaltende, im Verhältnis zu ihm puppenhaft klein wirkende japanische Erfinder unterhielten sich mithilfe von Gokubi, denn keiner von beiden beherrschte die Sprache des anderen besonders gut. Damals waren überall auf der Welt schon Tausende und Abertausende von Gokubis in Gebrauch. Mandarax konnten die beiden Männer damals noch nicht benutzen, denn das einzige Modell lag schwer bewacht in *Zenjis Büro bei Matsumoto. Dennoch begann *Zenjis großes Gehirn mit dem Gedanken zu spielen, so reich wie der reichste Mann seines Landes zu werden. Das war damals der Kaiser von Japan.

Ein paar Monate später, im Januar 1986, als Mary und *Roy Hepburn dachten, es gäbe so viel, wofür sie dankbar sein müssten, erhielt *Zenji einen Brief von *MacIntosh. Der Amerikaner lud ihn volle zehn Monate im Voraus auf seine Estanzia in der Nähe von Merida auf der Halbinsel Yukatan und dann zur Teilnahme an der Jungfernfahrt eines ecuadorianischen Luxusdampfers ein, an dessen Finanzierung er mitgewirkt hatte. Der Name des Schiffes war Bahía de Darwin.

Der Brief war in englischer Sprache verfasst, und *Zenji musste ihn sich übersetzen lassen. Unter anderem schrieb *MacIntosh: »Lassen Sie uns diese Gelegenheit nutzen, um uns richtig kennenzulernen.«

Was er entweder in Yukatan oder spätestens bei der »Nature Cruise of the Century« von *Zenji erwartete, war *Zenjis Unterschrift unter einen Vertrag, der *Zenji zum Vorsitzenden einer neuen Computerfirma machte, deren Aktien *MacIntosh interessierten Anlegern anbieten wollte.

Ganz wie James Wait war auch *MacIntosh eine Art Fischer. Er hoffte, Leute zu fangen, die Geld anlegen wollten, und als Köder benutzte er kein Preisschild an seinem Hemd, sondern ein japanisches Computergenie.

Wenn ich recht überlege, ändert sich in der Geschichte, die ich zu erzählen habe, eigentlich gar nicht viel, obwohl sie eine Million Jahre umspannt. Sowohl am Anfang wie am Ende muss ich die Menschen, ganz unabhängig von der Größe ihrer Gehirne, als Fischer...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Übersetzer Lutz-W. Wolff
Sprache deutsch
Original-Titel Galapagos
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Schlagworte 2024 • Amerikanische Literatur • Biologie • Charles Darwin • dystopie fantasy • eBooks • Evolution • Galapagos • John Irving • Klassiker • Klassiker der Weltliteratur • Kreuzfahrt • Neuerscheinung • Satire • Schlachthof 5 • Soziologie • Werkausgabe
ISBN-10 3-641-30045-2 / 3641300452
ISBN-13 978-3-641-30045-6 / 9783641300456
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