Radetzkymarsch -  Joseph Roth

Radetzkymarsch (eBook)

Reclam Taschenbuch

(Autor)

Werner Bellmann (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
420 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962263-7 (ISBN)
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Mit seinem großen Roman begründete Roth seinen weltliterarischen Ruf. Ein behutsames Porträt jener vergangenen Epoche, das selbst den Schwächen und Fehlern der untergehenden Monarchie liebenswürdige Züge abgewinnt, dabei aber ebenso die Sinnlosigkeit und Erstarrtheit der nahezu vollständig am Militär ausgerichteten Gesellschaft aufzeigt.

Zweites Kapitel


Es gab im ganzen Machtbereich der Division keine schönere Militärkapelle als die des Infanterieregiments Nr. X in der kleinen Bezirksstadt W. in Mähren. Der Kapellmeister gehörte noch zu jenen österreichischen Militärmusikern, die dank einem genauen Gedächtnis und einem immer wachen Bedürfnis nach neuen Variationen alter Melodien jeden Monat einen Marsch zu komponieren vermochten. Alle Märsche glichen einander wie Soldaten. Die meisten begannen mit einem Trommelwirbel, enthielten den marschrhythmisch beschleunigten Zapfenstreich, ein schmetterndes Lächeln der holden Tschinellen und endeten mit einem grollenden Donner der großen Pauke, dem fröhlichen und kurzen Gewitter der Militärmusik. Was den Kapellmeister Nechwal vor seinen Kollegen auszeichnete, war nicht so sehr die außerordentlich fruchtbare Zähigkeit im Komponieren, wie die schneidige und heitere Strenge, mit der er Musik exerzierte. Die lässige Gewohnheit anderer Musikkapellmeister, den ersten Marsch vom Musikfeldwebel dirigieren zu lassen und erst beim zweiten Punkt des Programms den Taktstock zu heben, hielt Nechwal für ein deutliches Anzeichen des Untergangs der Kaiserlichen und Königlichen Monarchie. Sobald sich die Kapelle im vorgeschriebenen Rund aufgestellt und die zierlichen Füßchen der windigen Notenpulte in die schwarzen Erdritzen zwischen den großen Pflastersteinen des Platzes eingegraben hatte, stand der Kapellmeister auch schon in der Mitte seiner Musikanten, den schwarzen Taktstock aus Ebenholz mit silbernem Knauf diskret gehoben. Alle Platzkonzerte – sie fanden unter dem Balkon des Herrn Bezirkshauptmanns statt – begannen mit dem Radetzkymarsch. Obwohl er den Mitgliedern der Kapelle so geläufig war, dass sie ihn mitten in der Nacht und im Schlaf hätten spielen können, ohne dirigiert zu werden, hielt es der Kapellmeister dennoch für notwendig, jede Note vom Blatt zu lesen. Und, als probte er den Radetzkymarsch zum ersten Mal mit seinen Musikanten, hob er jeden Sonntag in militärischer und musikalischer Gewissenhaftigkeit den Kopf, den Stab und den Blick und richtete alle drei gleichzeitig gegen die seiner Befehle jeweils bedürftig scheinenden Segmente des Kreises, in dessen Mitte er stand. Die herben Trommeln wirbelten, die süßen Flöten pfiffen und die holden Tschinellen schmetterten. Auf den Gesichtern aller Zuhörer ging ein gefälliges und versonnenes Lächeln auf, und in ihren Beinen prickelte das Blut. Während sie noch standen, glaubten sie schon zu marschieren. Die jüngeren Mädchen hielten den Atem an und öffneten die Lippen. Die reiferen Männer ließen die Köpfe hängen und gedachten ihrer Manöver. Die ältlichen Frauen saßen im benachbarten Park, und ihre kleinen, grauen Köpfchen zitterten. Und es war Sommer.

Ja, es war Sommer. Die alten Kastanien gegenüber dem Haus des Bezirkshauptmanns bewegten nur am Morgen und am Abend ihre dunkelgrünen, reich und breit belaubten Kronen. Tagsüber verharrten sie reglos, atmeten einen herben Atem aus und schickten ihre weiten kühlen Schatten bis in die Mitte der Straße. Der Himmel war ständig blau. Unaufhörlich trillerten die unsichtbaren Lerchen über der stillen Stadt. Manchmal rollte über ihr holpriges Kopfsteinpflaster ein Fiaker, in dem ein Fremder saß, vom Bahnhof zum Hotel. Manchmal trappelten die Hufe des Zweigespanns, das Herrn von Winternigg spazieren führte, durch die breite Straße, von Norden nach Süden, vom Schloss des Gutsbesitzers zu seinem immensen Jagdrevier. Klein, alt und kümmerlich, ein gelbes Greislein in einer großen gelben Decke und mit einem winzigen verdorrten Gesicht, saß Herr von Winternigg in seiner Kalesche. Wie ein kümmerliches Stückchen Winter fuhr er durch den satten Sommer. Auf elastischen und lautlosen hohen Gummirädern, deren braunlackierte zarte Speichen die Sonne spiegelten, rollte er geradewegs aus dem Bett zu seinem ländlichen Reichtum. Die großen dunklen Wälder und die blonden grünen Förster harrten schon seiner. Die Bewohner der Stadt grüßten ihn. Er antwortete nicht. Unbewegt fuhr er durch ein Meer von Grüßen. Sein schwarzer Kutscher ragte steil in die Höhe, der Zylinder streifte fast die Kronen der Kastanien, die biegsame Peitsche streichelte die braunen Rücken der Rösser, und aus dem geschlossenen Munde des Kutschers kam in ganz bestimmten regelmäßigen Abständen ein knallendes Schnalzen, lauter als das Hufgetrappel und ähnlich einem melodischen Flintenschuss.

Um diese Zeit begannen die Ferien. Der fünfzehnjährige Sohn des Bezirkshauptmanns Carl Joseph von Trotta, Schüler der Kavalleriekadettenschule in Mährisch-Weißkirchen, empfand seine Geburtsstadt als einen sommerlichen Ort; sie war die Heimat des Sommers wie seine eigene. Weihnachten und Ostern war er bei seinem Onkel eingeladen. Nach Hause kam er nur in den Sommerferien. Der Tag seiner Ankunft war immer ein Sonntag. Es geschah nach dem Willen seines Vaters, des Herrn Bezirkshauptmanns Franz Freiherrn von Trotta und Sipolje. Sommerferien hatten, mochten sie in der Anstalt an welchem Tag immer beginnen, zu Hause jedenfalls am Samstag anzubrechen. Am Sonntag hatte Herr von Trotta und Sipolje keinen Dienst. Den ganzen Vormittag von neun bis zwölf reservierte er für seinen Sohn. Pünktlich zehn Minuten vor neun, eine Viertelstunde nach der ersten Messe, stand der Junge in der Sonntagsuniform vor der Tür seines Vaters. Fünf Minuten vor neun kam Jacques in der grauen Livree die Treppe herunter und sagte: »Junger Herr, der Herr Papa kommt.« Carl Joseph zog noch einmal an seinem Rock, rückte das Koppel zurecht, nahm die Mütze in die Hand und stemmte sie, wie es Vorschrift war, gegen die Hüfte. Der Vater kam, der Sohn schlug die Hacken zusammen, es knallte durch das stille, alte Haus. Der Alte öffnete die Tür und ließ mit leichtem Gruß der Hand dem Sohn den Vortritt. Der Junge blieb stehen, er nahm die Einladung nicht zur Kenntnis. Der Vater schritt also durch die Tür, Carl Joseph folgte ihm und blieb an der Schwelle stehen. »Mach dir’s bequem!«, sagte nach einer Weile der Bezirkshauptmann. Jetzt erst trat Carl Joseph an den großen Lehnstuhl aus rotem Plüsch und setzte sich, dem Vater gegenüber, die Knie steif angezogen und die Mütze mit den weißen Handschuhen auf den Knien. Durch die dünnen Ritzen der grünen Jalousien fielen schmale Sonnenstreifen auf den dunkelroten Teppich. Eine Fliege summte, die Wanduhr begann zu schlagen. Nachdem die neun goldenen Schläge verhallt waren, begann der Bezirkshauptmann: »Was macht Herr Oberst Marek?« »Danke, Papa, es geht ihm gut!« »In der Geometrie immer noch schwach?« »Danke, Papa, etwas besser!« »Bücher gelesen?« »Jawohl, Papa!« »Wie steht’s mit dem Reiten? Voriges Jahr war’s nicht sonderlich …« »In diesem Jahr«, begann Carl Joseph, wurde aber sofort unterbrochen. Sein Vater hatte die schmale Hand ausgestreckt, die halb in der runden, glänzenden Manschette geborgen war. Golden glitzerte der viereckige mächtige Manschettenknopf. »Es war nicht sonderlich, habe ich eben gesagt. Es war« – hier machte der Bezirkshauptmann eine Pause und sagte dann mit tonloser Stimme: »eine Schande!« – Vater und Sohn schwiegen. So lautlos das Wort »Schande« auch ausgesprochen war, es wehte noch durch den Raum. Carl Joseph wusste, dass nach einer strengen Kritik seines Vaters eine Pause einzuhalten war. Man hatte das Urteil in seiner ganzen Bedeutung aufzunehmen, zu verarbeiten, sich einzuprägen, dem Herzen und dem Gehirn einzuverleiben. Die Uhr tickte, die Fliege summte. Dann begann Carl Joseph mit heller Stimme: »In diesem Jahr war’s bedeutend besser. Der Wachtmeister selbst hat’s oft gesagt. Ich habe auch vom Herrn Oberleutnant Koppel eine Belobung gekriegt.« »Es soll mich freuen«, bemerkte mit Grabesstimme der Herr Bezirkshauptmann. Er stieß am Tischrand die Manschette in den Ärmel zurück, es gab ein hartes Scheppern. »Erzähle weiter!«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. Es war das Signal für den Anbruch der Gemütlichkeit. Carl Joseph legte Mütze und Handschuhe auf ein kleines Pult, erhob sich und begann, alle Ereignisse des letzten Jahres vorzutragen. Der Alte nickte. Auf einmal sagte er: »Du bist ja ein großer Bub, mein Sohn! Du mutierst ja! Etwa verliebt?« Carl Joseph wurde rot. Sein Gesicht brannte wie ein rotes Lampion, er hielt es tapfer dem Vater entgegen. »Also noch nicht!«, sagte der Bezirkshauptmann. »Lass dich nicht stören! Erzähl nur weiter!« Carl Joseph schluckte, die Röte wich, er fror auf einmal. Langsam berichtete er und mit vielen Pausen. Dann zog er den Bücherzettel aus der Tasche und reichte ihn dem Vater. »Recht anständige Lektüre!«, sagte der Bezirkshauptmann. »Bitte die Inhaltsangabe von Zriny!« Carl Joseph erzählte das Drama Akt für Akt. Dann setzte er sich, müde, blass, mit trockener Zunge.

Er warf einen geheimen Blick nach der Uhr, es war erst halb elf. Anderthalb Stunden ging noch die Prüfung. Es konnte dem Alten einfallen, Geschichte des Altertums zu prüfen oder germanische Mythologie. Er ging rauchend durchs Zimmer, die Linke am Rücken. An der Rechten klapperte die Manschette. Immer stärker wurden die Sonnenstreifen auf dem Teppich, immer näher rückten sie zum Fenster. Die Sonne musste schon hoch stehen. Die Kirchenglocken begannen zu dröhnen, ganz nahe schlugen sie ins Zimmer, als schaukelten sie knapp hinter den dichten Jalousien. Der Alte prüfte heut lediglich Literatur. Er sprach sich ausführlich über die...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Reihe/Serie Reclam Taschenbuch
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Belletristik • Exilliteratur • Galizisches Judentum • Glaubenskrise • Heimatlosigkeit • Klassische Belletristik • Legendendichtung • Literatur • Literatur Epoche Neue Sachlichkeit • Mendel Singer • Mythen • Prosa • Roman
ISBN-10 3-15-962263-0 / 3159622630
ISBN-13 978-3-15-962263-7 / 9783159622637
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