Unter Frauen (eBook)

Geschichten vom Lesen und Verehren | Mit einem Vorwort von Maria-Christina Piwowarski

Anna Humbert, Linda Vogt (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02010-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unter Frauen -
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«So eine Sammlung habe ich mir immer gewünscht. Ich freue mich auf jede Entdeckung! Was für ein herausragendes und sinnstiftendes Buch!» Maria-Christina Piwowarski Welches Buch liebt unsere Lieblingsschriftstellerin, welche Autorin hat ihr eigenes Schreiben begleitet, geformt, verändert? Diese Anthologie tut das, was Männer schon immer, vielleicht auch einmal zu oft gemacht haben: literarische Vorbilder feiern. In Unter Frauen werden jedoch ausnahmslos Autorinnen zelebriert. Schriftstellerinnen schreiben über Schriftstellerinnen, die prägend für ihr eigenes Werk sind, über Bücher, die wir alle lieben, und über welche, die kaum eine von uns in ihrem Bücherregal stehen hat. Ein kleiner Kanon von großen Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ein Manifest der weiblichen Solidarität, Bewunderung und Inspiration. A book of one'sown. Mit Beiträgen von Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovana Reisinger, Ruth-Maria Thomas, Kathrin Weßling und einem Vorwort von Maria-Christina Piwowarski.

Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovanna Reisinger, Ruth-Maria Thomas, Kathrin Weßling

Gabriele von Arnim, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Mareike Fallwickl, Yael Inokai, Rasha Khayat, Mirrianne Mahn, Daria Kinga Majewski, Jacinta Nandi, Deniz Ohde, Jovanna Reisinger, Ruth-Maria Thomas, Kathrin Weßling

Die brüchige Existenz mit Worten leimen


Gabriele von Arnim über Elizabeth Strout und andere

Wo lesen Sie, fragen mich manchmal Menschen, wenn sie sich umschauen in meiner Wohnung.

Sehr gern im Zug, sage ich dann. Habe es jedenfalls gesagt in Zeiten, als die Bundesbahn einen noch ziemlich zuverlässig und pünktlich von einem Ort zum nächsten brachte.

Ich mag es, im Zug zu lesen. Wenn die Landschaft wie ein bewegtes Bild am Fenster vorbeizieht, ich das Telefon ausgestellt, Franzbrötchen und Tee griffbereit in der Tasche habe, wenn kein Schreibtisch darauf wartet, aufgeräumt zu werden, ich keine Termine habe beim Arzt oder Verabredungen im Cafè, sondern einfach nur Zeit vor mir liegt wie eine große, sanfte Wiese. LeseZeit. Wenn ich aus dem Fenster schaue, erwartungsvoll das Buch aufschlage und allmählich die Menschen neben mir verschwinden und Platz machen für die anderen, für die aus dem Roman.

Die nun einziehen bei mir – in allen möglichen Gestalten, aus allen möglichen Epochen. Alkoholisierte Mütter aus dem 21., Kriegsversehrte aus dem 20. oder herrliche Nonnen aus dem 12. Jahrhundert. Ich lese über Krankheit und Niedertracht, Liebe und Verrat, Freundschaft und Trost. Darf und kann mein Leben verlassen und andere Wirklichkeiten spüren, kann mich grämen und freuen für die Figuren und mit ihnen, darf eklatantes Misstrauen leben und naive Hingabe, darf alles glauben und alles in Frage stellen. Und während ich mich scheinbar aus meiner Welt entferne, fange ich tatsächlich an, schreckverstört oder zärtlichkeitsbetört in mir lebendig zu werden und auch mein eigenes Sein immer wieder ein bisschen mehr zu begreifen.

Lesen ist existentiell für unsere Seelenerkundung. Und in grausamen und zerbrechlichen Zeiten wie diesen erst recht, damit wir den Menschen in seiner Härte und Wut, seiner Verwirrtheit und auch in seiner Liebe und Güte nicht aus dem Blick verlieren.

 

Wenn Züge sich durch die Landschaft bewegen, reise ich in ihnen und in den Büchern. Bin zweigeteilt und glücklich in der Doppelung. Lebe mal hier, mal dort. Manchmal kann das Wetter sich nicht entscheiden zwischen Sonne und Regen. Dann schwimmen auf blauen Himmelsflecken zerzupfte weiße Gebilde – wie ausgehaucht von ihren großen Schwestern, den dickbäuchigen Wolken.

 

Und so habe ich die Frage nach Schriftstellerinnen, die ich besonders gern lese, mitgenommen in die Bahn von Berlin nach Kassel und Kassel nach Köln und Köln nach Basel und …

Joan Didion fiel mir auf jeder Fahrt ein. The year of magical thinking hat mir damals, als ich es las, noch einmal anders als ihre früheren Bücher Augen, Hirn und Herz geöffnet, weil ich diese Mischung aus Emotionalität und Analyse, aus überwältigender Trauer und sezierendem Verstand unwiderstehlich fand und finde. Wie hier das vor Traurigkeit hilflose Individuum ganz selbstverständlich in die Gesellschaft eingebettet und mit kühlem, ja politischem Kopf betrachtet wird, das macht für mich die große Kunst der Joan Didion aus.

 

In Kassel taucht Janet Frame auf. Vielleicht weil der Blick in eine ländliche Idylle aus Gärten, Blumen, Schafen und Wald mich erinnert an den wunderbaren Roman Dem neuen Sommer entgegen, in dem Frame von einem Besuch bei Freunden auf dem Land erzählt – aus zweigeteilter Perspektive. Sie schreibt von sich als der Frau, die sie war, und von sich als der Frau, die sie hätte sein können. Da ist auf der einen Seite die ungelenke, fast abweisende Person, die es kaum schafft, einen lockeren Satz zu sagen, während ihr imaginiertes Selbst ideenreich plaudert, witzig und geistreich sinniert und ihre Gastgeber amüsiert. Die es nur in ihrer Fantasie schafft, dazuzugehören, Teil der Wochenendgesellschaft zu werden – während die Wirklichkeit ganz anders aussieht. Frame interessiert sich für genau diesen Raum zwischen Sein und Wollen, zwischen Ereignis und Trugbild. Sie selbst musste immer wieder die Flucht in erfundene Welten antreten, um der seelenkargen und für sie gefährlichen Lebenswirklichkeit zu entkommen – denn Fantasie galt dort, wo sie herkam, als Krankheit. Und so wurde sie immer wieder in psychiatrische Anstalten gesteckt und grausamen Behandlungen unterzogen.

Janet Frame ist eine Schriftstellerin, die überlebt, weil sie schreibt. Die ihre brüchige Existenz mit Worten leimt, im Schreiben zusammenfügt, was im Leben zersplittert.

 

In Köln, am breiten Rhein, verlangt Elizabeth Taylor genannt zu werden. Nicht die Schauspielerin, sondern die Schriftstellerin, eine Meisterin der eleganten Sottisen, die von vielen als eine der besten englischen Autorinnen des letzten Jahrhunderts genannt wird. Zwölf Romane hat sie geschrieben und zahlreiche Kurzgeschichten. Mrs Palfrey at the Claremont stand auf der Guardian-Liste der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts,

Auch Taylor beschreibt in ihren Romanen immer wieder den Versuch ihrer Heldinnen, sich aus dem eigenen Leben wegzuschreiben, auszubrechen aus bürgerlicher Langeweile oder kleinstädtischer Enge, weil man manchmal eben nur dort, wo man sich hinschreibt, so sein kann, wie man sein möchte, nur das erlebt, was man erleben möchte. Also erfindet man Abenteuer, ist Schurke oder Heldin, rettet, verrät oder tötet; liebt, ludert oder dämmert dahin in ermüdeter Ehe.

Wie hat Martin Walser – ein Mann, er sei trotzdem zitiert – es einmal so schön gesagt: «Der Anlass zum Schreiben war immer ein Mangel. Mir fällt ein, was mir fehlt.»[1]

Immer wieder beneide ich Schriftsteller:innen darum, beim Schreiben mehrere Leben führen zu können. Das eigene und das ihrer Figuren. Aber Lesen ist immerhin, wie gesagt, der zweitbeste Weg zum DoppelLeben.

 

Auch die von mir so sehr bewunderte Elizabeth Strout hat sich schon als Kind aus ihrer Einsamkeit heraus- und in andere Leben hineinfantasiert.

Viele Stunden, so hat sie es einmal in einem Interview erzählt, habe sie allein auf den Felsen am Meer oder auch im Wald verbracht und sich ein NebenLeben vorgestellt. Das Hinsehen und Hindenken zu anderen habe sie von ihrer Mutter gelernt, die eine ungemein genaue Beobachterin gewesen sei. Manchmal saßen die beiden im Auto in dem kleinen Städtchen, in dem sie wohnten, und haben Menschen angeschaut. Und ihre Mutter hat etwa gesagt:

Oh, die Frau hat es nicht eilig, nach Hause zu kommen.

Wie, wieso, warum, woher weißt du das, fragt ihre Tochter Elizabeth begierig.

Na ja, sagt die Mutter, schau doch mal, der hängende Saum ihres Mantels ist schon lange nicht umgenäht worden.

Es waren die Details, sagt Elizabeth Strout. Und schon wollte das Mädchen, das sie war, mit der fremden Frau nach Hause gehen, wollte herausfinden, wie ihre anderen Kleider und Jacken aussehen, wie das Wohnzimmer, die Küche.

Schon damals wollte Strout unbedingt wissen, wie es ist, ein anderer Mensch zu sein. «Ich habe nie ein besonders starkes Ich-Gefühl gehabt», sagt sie in einem Interview mit Susanne Kippenberger, «mich interessiert es mehr, auf andere zu gucken, ihre Erlebnisse aufzusaugen. Ich bin sehr porös.»[2] Diese Neugier, dieses wachsame Ausspähen und Erkennen von Menschen in ihrem DaSein, hat die Autorin sich bewahrt. Sie achtet auf alles, Gesichter, Blätter, Wolkenbilder, ausgelatschte Schuhe, verschattete Augen, hängende Säume. Vor allem achtet sie auf Gesten, auf kleine Gesten, kleine Blicke, kleine Szenen.

 

Hinsehen. Zuhören.

 

Strout hat ihre Kunst, Menschen zuzuhören und sie zu erspüren, schreibend zur Vollendung gebracht.

Und so ist die 1956 in Portland, Maine, geborene Autorin zu einer Meisterin der Ausmessung der Räume zwischen Wirklichkeit und Erwartung, zwischen Erinnerung und Hoffnung geworden.

 

«Wer so gut schreibt», hat Hilary Mantel einmal über Strout gesagt, «und die Welt so genau beobachtet, hat mehr als nur Talent: das ist eine Tugend.»

Elizabeth Strout habe, so noch einmal Mantel: «the perfect attunement to the human condition.»

 

Und der Mensch an sich ist ja wahrlich ein weites Feld. Aber ein nicht zu weites Feld für Strout, die sich couragiert hineinwirft in die Freudenräume und Seelenkerker ihrer Figuren, egal ob sie Banker oder Hausmeister sind, Näherinnen oder aus sogenanntem gutem Hause.

Die große Kunst der Elizabeth Strout ist es, nicht nur KrimsKramsErlebnisse des Alltags, sondern auch Traumatisierendes aus der Kindheit – oder auch dem späteren Leben – in einem so selbstverständlichen, beinahe leichthändigen Ton zu erzählen, dass man fast die Härte der Wirklichkeit überlesen könnte – wenn man sie überlesen will, weil man Angst hat, weil das Leben wehtut, weil man nicht hinsehen will.

Nie urteilt Strout oder verurteilt. Sie erzählt. Alles. Auch das elende, das gewalttätige, das schmuddelige Leid des Lebens. Erzählt es so zupackend und genau, so leise wie leidenschaftlich. Und wenn die Spannung, die Anspannung, im Text zu zerreißen droht wie ein zu fest gezogener Faden, dann kommen die besänftigenden, die poetischen Betrachtungen. Dann schreibt sie über polierte Mahagoniknöpfe am alten Bett, den Blick durch ein Bogenfenster auf eine Steinmauer im Abendlicht oder über weite Sojabohnenfelder; malt eine Vase mit Pfingstrosen ins Geschehen, führt uns in die lichtgetüpfelte Welt des Waldes oder lässt einen Kolibri an die Pergola schwirren – und dann eine Meise.

 

Wir Leserinnen und Leser folgen der...

Erscheint lt. Verlag 14.5.2024
Co-Autor Gabriele von Arnim, Mareike Fallwickl, Mirrianne Mahn, Kathrin Weßling, Ruth-Maria Thomas, Simone Buchholz, Ulrike Draesner, Yael Inokai, Deniz Ohde, Jacinta Nandi, Jovana Reisinger
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Anthologie • Autorinnen • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Deutsche Literatur • Essayband • Feminismus • Feministische Literatur • Gegenwartsliteratur • Geschenkbuch • Geschenkbuch für Frauen • Geschenke für Frauen • Kultur • kurze Texte • Literarisches Schreiben • Literarisches Vorbild • Literatur • Schreibtisch mit Aussicht • Schriftstellerin • Selma Lagerlöf • Textsammlung • Unlearn Patriarchy • weibliche Solidarität • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-02010-8 / 3644020108
ISBN-13 978-3-644-02010-8 / 9783644020108
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