Ja, es ist ein Zauberort (eBook)
173 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3524-4 (ISBN)
Mit Alfred Kerr durch Italien.
Der einflussreiche Kritiker und Feuilletonist des 19. Jahrhunderts war ein leidenschaftlicher Italien-Reisender. Die Menschen, »glutvoll und fein; zart und lustig; königlich und sanft«, lassen ihn Land und Landschaft als einen magischen Ort erleben, wo er allein »des Vorrats wegen« den herrlich süßen, zerrinnenden Teig des Pomeranzenkuchens lieber gleich in rauen Mengen isst. Mehr als einmal fragt er sich: Ist dies hier ein Nachgeschmack des Paradieses - oder ein Vorgeschmack?
Eine zauberhafte Reise in ein Land, wo die Lagune perlmuttern glitzert und in den Lüften das Wunder webt.
Alfred Kerr, der einflußreichste deutsche Kritiker und Essayist, wurde 1867 in Breslau als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studierte in Breslau und Berlin, wo er seit 1887 lebte und für große Zeitungen und prominente Zeitschriften seine maßstabsetzenden Theaterkritiken schrieb: für das 'Magazin für Literatur', den 'Tag' und das 'Berliner Tagblatt' wie für die 'Neue Deutsche Rundschau'. Seine Bücher wurden 1933 von den Nazis verbrannt und er floh über die Schweiz und Paris nach London. Kerr starb 1948 in Hamburg.Von seinen Werken seien genannt: Die Welt im Drama (1917); Die Welt im Licht (1920); Es sei wie es wolle,/Es war doch so schön (1927); Die Diktatur des Hausknechts (1931).Günther Rühle, Herausgeber von Kerrs Berliner Briefen, wurde 1924 in Gießen geboren. Er arbeitet 25 Jahre als Kulturredakteur der FAZ, bevor er 1974 deren Feuilleton übernahm. 1985-1990 war er Intendant am Schauspiel Frankfurt und anschließend Feuilletonchef des Berliner 'Tagesspiegels'. Seit 1995 lebt er in Bad Soden. Günther Rühle ist Autor umfangreicher Publikationen zum deutschen Theater und Herausgeber der Gesammelten Werke von Marieluise Fleißer und Alfred Kerr.
Rakéel’
I.
Es wuchs vor meinem Fnster
Ein leuchtender Feigenbaum …
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Die weiße Etsch rauschte vorbei,
Die feuchte Erde roch nach Wein.
Die Welt mit allen Büschen
Wuchs mir ins Fenster hinein.
Wo war das gewesen? Es war … Wo die deutsche Sprache noch herrscht. Wo sie lichter blüht als im dünnen Tieflande. Das lag hinter mir.
II.
… Dann kam ich in die Stadt. Wunderstadt, verfallene; mit nächtlicher Schönheit am Meer, im Leuchten zerbröckelnder Trauer; Hochzeit von Schwermut und Anmut. Es geschah zum dritten Mal, dass ich hinkam. Wochen hatt’ ich einstens dort gelebt. Nächtlich strahlte sie; tiefer, prachtreicher, verstorbener – unsterblicher. Der Löwe von Erz schrie schlafend über die Säule hin, über die Wasser, und schlug mit den Flügeln. Schwarze Särge zogen durch die Flutgassen zu verschollenen Häusern – ihre Marmorstufen gingen in friedverstohlene Finsternis; Steinköpfe starrten vom Gesims.
III.
So will ich der Wahrheit gemäß berichten, was mir damals in Venedig zustieß. Ein Vorfall ohne Merkwürdigkeit. Vielleicht hat er nur Wert für den Mann, der ihn erfuhr: nicht für andre, die von ihm hören … Für diesen Fall bestände die Entschuldigung bloß hierin: dass wir noch am ehesten solche Dinge erzählen können, an denen wir Anteil genommen. (Und dass es am anständigsten ist, keine andren Dinge zu erzählen, als eben solche) … Es kommt nicht darauf an, dass ich, ich, ich die Dinge erlebt habe. Sondern allein: dass jemand Dinge erzählt, die er erlebt hat … Zudem ist nichts an den paar Tatsachen geeignet, ihren Erzähler in romantisches Licht, oder in heldenhaftes Licht, zu setzen. Vielmehr ließe sich vermuten, dass von dem Erzählten die meiste Helligkeit auf die Stadt und auf die Seele der Stadt fallen werde.
IV.
In einer Tasche des alten Reisebuchs steckten Gasthofs-Rechnungen aus dem Jahr 1894 … und zwei Briefe.
Die Briefe waren von einer venezianischen Bürgerstochter, im Jahr darauf, 1895, nach Deutschland gerichtet, dann dort hineingeschoben worden. Der eine begann: Gentile signor … (hier kam der Vorname), und schloss fröhlich: cordiali saluti di lei devotissima R. Es stand hierin Folgendes: Die kleine Base der Schreiberin sei heute zu ihr gekommen und habe versichert, den Empfänger auf dem Markusplatz gesehn zu haben; ob es wahr sei, dass er in Venedig oder ob er in Berlin sitze.
… Seltsam, nach Jahren so einen Brief im Reisebuch zu finden. Dieses entzückende Mädchen aus einer Kleinbürgerfamilie hatte mich damals venezianisch sprechen gelehrt. An vielen Abenden trafen wir uns, und sie brachte – weil sie auf andre Art nicht hätte fortgehn dürfen – immer die achtjährige Base mit, bei deren Mutter sie wohnte. Das Kind besorgte manchmal, an der Markuskirche nachmittags wartend, unsre Zettelchen mit Verabredungen. Alles das war wundersam heiter; doch mit jenem Ernst, wovon in dieser Stadt noch auf die herrlichste der Herrlichkeiten ein voller Abglanz fällt. Rakéele, venezianischer Rakéel’, hatte schönes schwarzes trocknes Haar und war ein großes, zartes Mädchen mit sehr dunklen Augen. Ihr Körper schien ahnungslos zu leuchten, wenn sie sich streckte, oder mit geschmeidigem Liebreiz das lange Schultertuch der Venezianerinnen halb in Gedanken zurechtschob … Noch seh’ ich ihre Gestalt im Dunkel, als wir einmal bei Regen rasch im finstren Torgang einer ausgestorbenen Kirchgasse Unterschlupf suchten. Sie stand im Dunkel neben mir, die Kleine aß abseits an ihrem Kuchen.
Auch seh ich sie, wie wir draußen bei einem Weinwirt einkehrten, in einem kaum beleuchteten entlegenen Stadtteil – unter freiem Himmel saßen wir drei an einem Tisch, der auf die alten Quadern hinausgeschoben war, und vor uns stieg aus dem weiten Wasser die Steininsel mit Zypressen: der Kirchhof. Auch damals saß sie neben mir. Und noch oft.
V.
Das war sechs Jahre her. Es trieb mich nun, eines Abends, das Haus zu suchen, welches der Schluss jenes Schreibens genannt. Ich wollte fragen, ob vielleicht jemand wisse, was aus einem Mädchen, namens Soundso, geworden, die vor sechs Jahren dort bei ihren Verwandten gewohnt. Von der Abendmusik ging ich aus dem Gewühl, kreuz und quer, durch umgitterte Ufergänge, mattfarbige Winkel mit alten Brunnen, an erleuchtet verhangenen Schänken vorbei … und fand die Gasse, nicht weit von der Kirche zur Schönen Heiligen Maria oder Santa Maria Formosa.
Als ich klingelte (diese schmalen alten Häuser werden von oben geöffnet), fragte mich eine fünfzigjährige Frau, die außen, neben dem ehernen Türlein gestanden, was ich wolle; sie rief, wie zu ihrer Unterstützung: »Rakéel’, vien’ a basso!« Und als Rakéele in dem dunklen Haustor erschien, wo ihr Gesicht nicht erkennbar war und das meine auch nicht, sprach ich mit leiser Stimme. »Ich glaube nicht zu irren …«
Sie nannte meinen Namen.
VI.
Nach einer Weile brachte sie Licht und hieß mich hinaufkommen; die Tante stieg hinter mir die steinernen Stufen empor. Wir saßen zu dritt in Rakéeles Zimmer, dem einzig bewohnten dieses mittleren Stockwerks. Bloß die Kerze brannte. Das Zimmer war geräumig, ein Fenster stand offen, das Gesumm aus den abendlichen Nachbarstraßen drang herein. Die Tante, nach den verblüffenden ersten Erkundigungen, schlug die Tür zu und stieg in ihre Wohnung. Rakéele saß neben mir.
Sie war kaum verändert. Sie hatte noch ganz das Unsagbare, den Liebreiz. Den lustigen Mund unter den melancholischen Augen. Nur dass sie damals achtzehn war und heute vierundzwanzig.
Ein Kind von weniger als einem Jahr schlief im eisernen Wiegengestell an dem zweiten, geschlossenen Fenster; ein rundes kleines Mädchen. Auf meine Frage, wem das gehöre, erwiderte sie schlicht: è mia – es ist meins.
Als ich sie anblickte, wie sie jetzt dastand, bloß ohne den Glorienschein, und als ich die Stimme hörte, mit der sie die Worte sprach, die Stimme, die mir so wohlvertraut war, da ergriff ich ihre linke Hand, welche dem Herzen am nächsten ist, und küsste sie bis zur Handwurzel. Wir traten ans Fenster, ich blies das Licht aus, und indem wir uns über die Brüstung lehnten und in die stiller werdende Gasse hinabsahen, redeten wir von der Vergänglichkeit der Zeit und von unsren einstigen Zusammenkünften vor sechs Jahren. Die Base von damals war ein großes Mädel geworden und zu Besuch in Chioggia. Jedes Wort wusste Rakéele, das wir damals gesprochen. In ihrer alten lustigen und sanften Art holte sie das hervor. Fein wie eine Prinzessin; lustig wie Colombine; schön wie eine Heilige; still wie eine Venezianerin.
Sie fragte nach meinem Leben in Berlin, nach den Gewohnheiten dieser Stadt. Dann, als wir vom Fenster in das Zimmer zurückgetreten waren und im Dunkel nebeneinanderstanden, erzählte sie vom Vater des Kindes, einem Sizilianer, den sie drei Jahre kannte – Schiffsingenieur auf der Strecke nach Alessandria in Ägypten. Sie hoffte, dass er sie heiraten...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Reisen ► Reiseberichte ► Europa | |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Alfred Kerr • Italien • Kerr • Neapel • Reiseerinnerungen • Reiseliteratur • Rom • Sardinien • Theaterkritiker • Venedig |
ISBN-10 | 3-8412-3524-7 / 3841235247 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3524-4 / 9783841235244 |
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Größe: 438 KB
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