Töchter des Nordmeeres - Lucias Entscheidung (eBook)
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01557-9 (ISBN)
Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Nordhessen und schreibt seit Langem erfolgreich historische Romane.
Ines Thorn wurde 1964 in Leipzig geboren. Nach einer Lehre als Buchhändlerin studierte sie Germanistik, Slawistik und Kulturphilosophie. Sie lebt und arbeitet in Nordhessen und schreibt seit Langem erfolgreich historische Romane.
Kapitel 1
Lucia hatte geliebt und verloren.
Lasse hatte die Scheidung beantragt und durchgesetzt, weil sie angeblich ihren Ehemann und ihre Tochter vernachlässigt hatte. Doch das hatte sie nicht. Niemals würde sie die kleine Marie vernachlässigen. Sie hatte doch nur mit ihrer Schwester Liv deren Abschluss als Zoologin an der Universität gefeiert. Wenn das kein Grund zum Feiern war! In einem Café auf der Karl Johans gate in Norwegens Hauptstadt Christiania.
Liv hatte als erste junge Frau der Insel Smøla das Examen artium bestanden, war eine der ganz wenigen Frauen gewesen, die an der Universität studierten, und hatte deshalb sogar Edvard abgewiesen, den reichsten Junggesellen Christianias. Liv hatte gekämpft und mit Unterstützung der Leute auf der Insel ihr Studium zu einem grandiosen Abschluss gebracht, und sie hatte sogar eine Anstellung erhalten.
Keine zwei Stunden war Lucia in dem Café gewesen. Ein einziges Glas Wein hatte sie getrunken. Doch Lasse hatte sie gesehen, hatte alles ins Gegenteil verkehrt und so einen Grund für die von ihm angestrebte Scheidung gefunden.
Dabei hatte zwischen ihnen einst alles so romantisch begonnen. Lasse war vor einigen Jahren mit einem Forschungsauftrag nach Smøla gekommen. Sie verliebten sich, sie verlobten sich, sie heirateten und gingen nach Christiania, um dort zu leben. Und alles, was auf der Insel schön gewesen war, kehrte sich in der großen Stadt ins Gegenteil. Ihre Kleider waren provinziell und nicht mehr inseltypisch, ihr Dialekt bäurisch und nicht mehr charmant, ihre Manieren ungeschliffen und nicht mehr bodenständig, ihre Herkunft eine Katastrophe. Lasse entfernte sich immer weiter von ihr. Er schämte sich mit ihr und für sie und suchte sich eine Geliebte, die er vorzeigen konnte. Und schon bald würden sie geschieden sein.
Jetzt befand sich Lucia mit Marie wieder zu Hause, auf Smøla. Sie hatte Lasse verlassen müssen. Er hatte schon seit Monaten nicht mehr bei ihr gelebt, hatte sich ein Zimmer in der Hauptstadt genommen und sie ganz ohne Geld gelassen. Wäre Liv nicht gewesen, die sie finanziell unterstützt hatte, hätten Lucia und Marie hungern müssen. Und schließlich war sie auf die Insel zurückgekehrt. Was hätte sie denn sonst tun sollen?
Ihre Familie lebte hier. Hier bekam sie Unterstützung. Hier konnte sie in Bjarnis Fischfabrik arbeiten, und Marie blieb derweil bei Lucias Ziehmutter Runi. Hier konnte sie für ihre Tochter sorgen. Nur hier. Nirgends sonst. Sie lebte im Haus der alten Merette, die vor Kurzem gestorben war. Hier hatten sie Betten, eine Kochmaschine und einen Backofen, Teller, Töpfe, einen Tisch und ein paar Stühle. Teppiche auf dem Boden, Wäsche im Schrank und ein paar Vorräte im Keller. Hier hatte sie ein Zuhause gefunden. Merette hatte Lucia das Häuschen, in dem es noch immer so wunderbar nach Kräutern roch, vererbt, als sie von ihren Schwierigkeiten erfahren hatte.
Lucia hatte gehofft, Lasse würde sie vermissen. Oder wenigstens Marie, seine Tochter. Doch das tat er nicht. Stattdessen hatte er die Scheidungsunterlagen geschickt. Und Gunhild von der Handelsstation hatte herausgefunden, was es mit dem großen Umschlag auf sich hatte, und es allen auf der Insel erzählt, die ihr zuhören wollten. Und nun war Lucia gebrandmarkt. Da half es nicht, dass alle sie seit Kindertagen kannten. Nein, es wurde geflüstert und getuschelt, wenn sie zum Einkauf unterwegs war oder in der Fischfabrik arbeitete. Es hieß, sie tauge nicht zur Ehefrau. Ihr Mann habe sich eine andere suchen müssen, so wenig tauge sie. Plötzlich schauten die Männer sie ganz anders an, starrten ihr auf die Brüste, glotzten auf ihren Hintern. Und die Frauen verzogen verächtlich den Mund, wenn sie sie sonntags in der Kirche antrafen, und packten ihre Ehemänner fest am Arm, damit sie nicht abhandenkamen.
Es traf sogar Marie, ihre dreijährige Tochter. Marie durfte nicht mehr mit den anderen Kindern spielen. Nie hätte Lucia gedacht, dass man sie und Marie ausschließen würde. Wo man sie doch hier kannte, von ihrer Herkunft wusste. Immer hatte sie sich wohlgefühlt auf Smøla. Nie hatte es etwas ausgemacht, dass sie als Säugling auf der Kirchenschwelle gefunden worden war und ihre Schwester Liv zur gleichen Zeit auf der Schwelle des Guesthuset. Auf einmal spielte ihre Herkunft eine Rolle. Sie war das Findelkind, das Gott weiß woher kam. Dessen Eltern so schlecht waren, dass sie die eigenen Kinder ausgesetzt hatten.
Gerade hatte sie ihre Tochter bei Runi, Pfarrersfrau und Ziehmutter, abgegeben. Runi hatte tief geseufzt und Marie ins Wohnzimmer geführt. Fenris, ihr Ehemann und Pfarrer, hatte letzten Sonntag von der Kanzel gepredigt, dass keiner den ersten Stein werfen, dass ein jeder sich um den Splitter im eigenen Auge kümmern sollte, doch das hatte nicht viel genutzt. Lucia zuckte unwillkürlich die Schultern – und lief hinunter zur Fischfabrik, die beim Fischereihafen lag. Am Tor wurde sie von Bürgermeister Bjarni, der zugleich Besitzer der Fischfabrik war und einer der wenigen, der sich nicht das Maul über sie zerriss, aufgehalten.
«Komm mal mit», sagte er, und Lucias Herzschlag begann zu rasen. Sie arbeitete in der Halle, in der die frischen Fangfische eingesalzen und zum Trocknen aufgehängt wurden, ehe sie am Ende der Trocknungszeit aufgeschichtet wurden wie Brennholz. Sie arbeitete gern an einem der langen Holztische. Nur das Salz biss ihr in die Haut, machte, dass ihre Hände rot und aufgesprungen waren. Und der Geruch. Ganz gleich, wie oft sie sich wusch, er klebte an ihrer Haut, an den Haaren, an ihrer Kleidung, ja sogar an der Bettwäsche.
Wollte Bjarni sie nun doch entlassen, weil sie geschieden war? Die erste und einzige Geschiedene auf der ganzen Insel. Er musste sie entlassen, wegen der anderen und wegen seines Amtes. Aber dann hätte sie kein Geld mehr und könnte nicht für Marie sorgen. Was sollte sie dann tun? Ihre Knie wurden weich, und sie war froh, dass Bjarni in seinem Büro auf den Stuhl deutete, der vor dem Schreibtisch stand.
«Willst du einen Aquavit?», fragte er, und Lucias Angst verstärkte sich. Er glaubte, sie bräuchte einen Schnaps. Eine Stärkung, weil er ihr gleich ihre Papiere geben würde.
Lucia holte ganz tief Luft, kippte den Schnaps runter, sah Bjarni fest in die Augen. «Mach schon», sagte sie. «Du musst uns nicht länger quälen.»
Bjarni runzelte die Stirn. «Quälen? Wozu sollte ich dich quälen wollen?»
«Du wirfst mich raus. Deshalb sitzen wir doch hier.»
Bjarni lachte auf. «Nein, ich werfe dich nicht raus. Es gibt keinen Grund dafür.»
«Ich bin eine Geschiedene.»
«Das weiß ich. Das weiß jeder. Aber ich kenne dich dein ganzes Leben lang. Ich weiß, dass du eine ordentliche Frau bist, und ehrlich gesagt konnte ich deinen Lasse nie leiden.»
«Und was tue ich dann hier?»
«Ich wollte dich fragen, ob du mir im Büro helfen magst. So eine Vorzimmerdame sein möchtest.»
«Wie … wie kommst du denn darauf?»
«Ich vergrößere die Fabrik. Nächste Woche geht es los. Eine neue Halle wird gebaut und eine Trockenhalle für den Klippfisch dazu. Ich muss mich kümmern, sonst machen die Männer, was sie wollen. So ein Bau braucht Aufsicht. Na ja, und da brauche ich jemanden, der auf das Büro achtgibt.» Er deutete auf seinen Schreibtisch, der von Papieren übersät war. Nicht nur der Schreibtisch. Auf jeder freien Stelle lagerten Ordner oder Papierberge. Sogar auf dem Fensterbrett.
«Und da hast du an mich gedacht?»
«Ja. Du bist klug, du warst länger auf der Schule als alle anderen Frauen auf Smøla. Liv natürlich ausgenommen. Du lernst schnell, ich kann mich auf dich verlassen.»
«Und was wäre meine Aufgabe?»
«Ordnung schaffen. Die Bücher auf den neuesten Stand bringen. Ein paar Briefe schreiben. Besucher abwimmeln. Mir den Rücken freihalten.» Er blickte zu Lucia, die auf ihrer Unterlippe herumbiss. «Und? Was sagst du?»
Lucia hob den Kopf, begegnete seinem Blick. «Ich weiß nicht.» Sie schaute auf das Chaos, auf die offen stehenden Schränke, die aufgeklappten Ordner, das dicke Kontorbuch, das neben ihrem Stuhl auf dem Boden lag.
«Na gut, du bekommst auch mehr Geld. Ist es das, was du wolltest?»
Lucia schüttelte den Kopf. «Denkst du, die Leute werden mich in deinem Vorzimmer akzeptieren?»
Jetzt lächelte Bjarni. «Wenn der Bürgermeister dir vertraut, warum sollten die anderen es dann nicht tun?»
«Deshalb bin ich hier?»
Bjarni goss erneut Aquavit in die Gläser. «Lass die Leute reden. Es gibt bald etwas Neues, über das sie sich die Mäuler zerreißen werden. Du hattest es nicht leicht in den letzten Jahren, aber du hast hier dein Zuhause.»
Lucia wusste, dass er recht hatte. Sie würde immer die Geschiedene bleiben, würde immer diesen Makel mit sich herumtragen, doch die Leute würden sich gewöhnen.
Am Abend ging sie mit Marie hinüber zum Guesthuset, das nahe am Meer lag. Von hier aus konnte sie beinahe den ganzen Ort überblicken. Wenn sie geradeaus schaute, sah sie die Handelsstation, die fünf Minuten entfernt lag. Links davon stand die Kirche, daneben die Schule, und dahinter erstreckte sich das kleine Birkenwäldchen. Die Fischfabrik lag noch etwas weiter links davon, direkt am Meer. Und rechts sah sie die Klippen, auf denen auch ihr gemütliches, rot angestrichenes Häuschen stand. Die ersten Herbststürme kündigten sich an, das Meer rauschte, bald würde es rasen. Und dann würde der erste Schnee kommen und sich meterhoch auftürmen und bis zum Frühjahr bleiben.
Ihre Schwester Liv lebte im ersten Stock des Guesthuset. Sie hatte bei Professor Fridtjof Nansen...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2024 |
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Reihe/Serie | Die Nordmeer-Saga | Die Nordmeer-Saga |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • Deutsche Romane • Emanzipation • Familiensaga • Fischerdorf • Forscher • Forscherinnen • Fridtjof Nansen • historienromane • Historische Bücher • historische familiensaga • historische Romane Neuerscheinungen 2024 • Historischer Roman • Lappland • Naturforschung • Norwegen • Norwegen Roman • norwegische Bücher • norwegische Romane • Rätselhafte Herkunft • romane neuerscheinungen 2024 • Roman historisch • Roman historisch Frauen • Samen • samisches Volk • Schwestern • Skandinavien |
ISBN-10 | 3-644-01557-0 / 3644015570 |
ISBN-13 | 978-3-644-01557-9 / 9783644015579 |
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