Der Bürgermeister von Casterbridge. Leben und Tod eines Mannes von Charakter -  THOMAS HARDY

Der Bürgermeister von Casterbridge. Leben und Tod eines Mannes von Charakter (eBook)

Reclam Taschenbuch

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962260-6 (ISBN)
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Er zählt zu den unvergänglichen Romanfiguren der britischen Literatur: Mr. Henchard, der Bürgermeister mit dunkler Vergangenheit. In trunkenem Zustand verkaufte er Frau und Tochter auf dem Jahrmarkt. Diese Wahrheit versucht er zu verdrängen, doch sein früheres Leben droht ihn einzuholen ...

II


Die Morgensonne flutete durch die Ritzen der Leinwand, als der Mann erwachte. Ein warmer Glanz durchdrang die gesamte Atmosphäre des Jahrmarktszeltes, und eine einzelne große blaue Fliege summte musikalisch im Kreis herum. Außer dem Summen der Fliege war nicht ein Laut zu hören. Er blickte umher – auf die Bänke – auf den von Holzböcken gestützten Tisch – auf seinen Werkzeugkorb – auf den Ofen, wo die Weizengrütze gekocht hatte – auf die leeren Schalen – auf ein paar verschüttete Weizenkörner – auf die Korken, die den grasbewachsenen Boden übersäten. Unter diesem Allerlei entdeckte er einen kleinen, glänzenden Gegenstand und hob ihn auf. Es war der Ring seiner Frau.

Ein verworrenes Bild der Ereignisse des vorherigen Abends schien ihm wieder zu kommen, und er schob seine Hand in seine Brusttasche. Ein Rascheln offenbarte die Geldscheine des Matrosen, die er achtlos hineingeschoben hatte.

Diese zweite Bestätigung seiner getrübten Erinnerungen war genug; er wusste jetzt, dass es keine Träume waren. Er blieb sitzen und blickte einige Zeit zu Boden. »Ich muss hier raus, so schnell ich kann«, sagte er endlich bedächtig wie einer, der seine Gedanken nicht zu fassen kriegen konnte, ohne sie auszusprechen. »Sie ist fort – das ist sie bestimmt – fort mit dem Matrosen, der sie gekauft hat, und der kleinen Elizabeth-Jane. Wir sind hierher gewandert, und ich hatte die Weizengrütze und Rum darin – und habe sie verkauft. Ja, so ist’s geschehen, und da bin ich nun. Was soll ich also tun – bin ich wohl nüchtern genug, um zu gehen?« Er stand auf und befand, dass er in einer recht guten Verfassung war, um sich ungehindert fortzubewegen. Als Nächstes schulterte er seinen Werkzeugkorb und fand, dass er ihn tragen konnte. Dann hob er die Tür des Zeltes an und trat hinaus ins Freie.

Hier sah sich der Mann mit düsterer Neugier um. Die Frische des Septembermorgens belebte und kräftigte ihn, wie er dastand. Er und seine Familie waren bei ihrer Ankunft am Vorabend müde gewesen, und sie hatten nur wenig von dem Platz wahrgenommen, so dass er ihn jetzt mit neuen Augen betrachtete. Er stellte sich als der höchste Teil einer offenen Ebene dar, die an einem Ende durch eine Anpflanzung begrenzt wurde und über eine gewundene Straße zu erreichen war. Am Fuße befand sich das Dorf, das der Hochebene und dem alljährlichen Markt, der darauf abgehalten wurde, seinen Namen gab. Der Flecken erstreckte sich in Täler hinunter und weiter auf andere Hochflächen, die von Hügelgräbern übersät und von den Überresten prähistorischer Befestigungsanlagen durchzogen waren. Die ganze Szene lag unter den Strahlen einer soeben aufgegangenen Sonne, die noch keinen einzigen Halm des tauschweren Grases getrocknet hatte, auf das die gelben und roten Wagen weite Schatten warfen, wobei die der Felgen eines jeden Rades zur Form von Kometenbahnen verlängert wurden. All die Zigeuner und Schausteller, die auf dem Platz geblieben waren, lagen wohlig in ihren Karren oder Zelten oder in Pferdedecken gewickelt darunter und waren still und starr wie der Tod, abgesehen von einem gelegentlichen Schnarchen, das ihre Anwesenheit verriet. Doch die Siebenschläfer hatten einen Hund, und Hunde von mysteriöser Rasse, wie sie fahrendem Volk gehören, ebensosehr Katzen wie Hunde und ebensosehr Füchse wie Katzen, lagen auch dort herum. Ein kleiner fuhr unter einem der Karren auf, bellte aus Prinzip und legte sich schnell wieder hin. Er war der einzige nachweisliche Zuschauer beim Weggang des Heubinders vom Weydoner Jahrmarktsplatz.

Dies schien seinem Wunsch zu entsprechen. Er ging gedankenverloren weiter, ohne auf die Goldammern, die mit Strohhalmen in den Schnäbeln um die Hecken flatterten, zu achten, auf die Hüte der Pilze und das Klingeln der heimischen Schafsglocken, deren Träger das Glück gehabt hatten, nicht auf den Jahrmarkt gekommen zu sein. Als er eine gute Meile vom Schauplatz des vorherigen Abends entfernt einen Feldweg erreichte, setzte der Mann seinen Korb ab und lehnte sich an ein Tor. Ein paar schwierige Probleme beschäftigten ihn. »Hab ich gestern Abend jemandem meinen Namen genannt, oder hab ich meinen Namen nicht genannt?«, sagte er zu sich und kam endlich zu dem Schluss, er habe es nicht getan. Sein gesamtes Verhalten zeigte hinreichend, wie überrascht und gereizt er war, dass seine Frau ihn so wörtlich genommen hatte – so viel konnte man seinem Gesicht entnehmen und der Art, wie er an einem Strohhalm kaute, den er aus der Hecke gezogen hatte. Er wusste, dass sie einigermaßen erregt gewesen sein musste, um dies zu tun; außerdem musste sie geglaubt haben, das Geschäft besäße auf irgendeine Art bindende Kraft. In letzterer Hinsicht war er sich beinahe sicher, da er ihren von Leichtfertigkeit freien Charakter und die außerordentliche Schlichtheit ihres Verstandes kannte. Es mochten auch genügend Groll und wilde Entschlossenheit unter ihrer gewöhnlichen Sanftmut gewesen sein, die sie alle augenblicklichen Zweifel ersticken ließen. Als er bei einer früheren Gelegenheit im Rausch erklärt hatte, er würde sich ihrer entledigen, wie er es jetzt getan hatte, hatte sie im resignierten Ton eines Fatalisten erwidert, sie würde ihn dies nicht mehr viele Male sagen hören, bevor es geschähe … »Und doch weiß sie, dass ich nicht bei Sinnen bin, wenn ich das tue!«, rief er aus. »Nun, ich muss umherwandern, bis ich sie finde … Zum Kuckuck mit ihr, warum hat sie’s nicht besser gewusst, als mich in diese Schande zu bringen!«, brüllte er los. »Sie war doch nicht bezecht, wenn ich es auch war. Das sieht Susan ähnlich, so eine idiotische Einfalt. Fügsam! – Diese Fügsamkeit hat mir Schlimmeres angetan als die bitterste Wut!«

Als er ruhiger war, kehrte er zu seiner ursprünglichen Überzeugung zurück, dass er sie und seine kleine Elizabeth-Jane irgendwie finden musste und mit der Schande fertigwerden, so gut er konnte. Er hatte sie selbst verursacht und sollte sie auch ertragen. Doch zunächst beschloss er, einen Eid abzulegen, einen bedeutenderen Eid, als er je geschworen hatte: und um es recht zu tun, brauchte er einen angemessenen Ort und eine geeignete Szenerie, denn es war etwas Fetischistisches in den Glaubensüberzeugungen dieses Mannes. Er schulterte seinen Korb und ging weiter und warf seine Blicke forschend auf die Landschaft ringsum, während er einherging, bis er in einer Entfernung von drei oder vier Meilen die Dächer eines Dorfes und den Turm einer Kirche sah. Er ging sofort auf Letztere zu. Das Dorf lag ganz still, da es die reglose Stunde im bäuerlichen Alltagsleben war, die die Zeitspanne zwischen dem Aufbrechen der Feldarbeiter zu ihrer Arbeit und dem Aufstehen ihrer Frauen und Töchter zur Bereitung des Frühstücks für ihre Rückkehr ausfüllt.

Er erreichte daher die Kirche unbeobachtet, und da die Tür nur zugeklinkt war, trat er ein. Der Heubinder setzte seinen Korb beim Taufstein ab, durchquerte das Kirchenschiff, bis er zur Chorschranke gelangte, öffnete das Türchen und betrat den Chorraum, wo er einen Augenblick lang ein Gefühl des Sonderbaren zu verspüren schien, dann kniete er oben auf den Stufen nieder. Er senkte seinen Kopf auf das mit Schließen versehene Buch, das auf dem Altartisch lag und sagte laut: »Ich, Michael Henchard, lege an diesem Morgen des sechzehnten September hier an diesem feierlichen Ort vor Gott einen Eid ab, dass ich für die kommenden einundzwanzig Jahre alle starken Getränke meiden will, ein Jahr nämlich für jedes Jahr, das ich gelebt habe. Und dies schwöre ich auf dem Buche vor mir, und mögen mich Taubheit, Blindheit und Hilflosigkeit schlagen, wenn ich diesen meinen Eid breche!«

Als er es gesagt und das große Buch geküsst hatte, erhob sich der Heubinder und schien erleichtert, einen Anfang in eine neue Richtung gemacht zu haben. Während er noch für einen Augenblick im Eingang stand, sah er eine dicke Rauchwolke plötzlich aus dem roten Schornstein eines nahen Häuschens dringen und wusste, dass die Bewohnerin soeben ihr Holzfeuer angezündet hatte. Er ging zur Tür hinüber, und die Hausfrau willigte ein, ihm für geringes Entgelt ein Frühstück zu bereiten, was auch geschah. Dann machte er sich auf die Suche nach Frau und Kind. Wie verzwickt dieses Unterfangen war, wurde bald genug deutlich. Obwohl er nachforschte und sich erkundigte und hierhin und dorthin wanderte, Tag für Tag, waren keine Personen, wie er sie beschrieb, seit dem Abend des Jahrmarktes irgendwo gesehen worden. Und es erschwerte die Suche noch, dass er keinen Ton über den Namen des Matrosen erfahren konnte. Da ihm das Geld knapp wurde, beschloss er nach einigem Zögern, das Geld des Matrosen auf die Fortsetzung der Suche zu verwenden, doch es war gleichermaßen vergebens. In Wahrheit hinderte eine gewisse Scheu, sein Tun zu offenbaren, Michael Henchard daran, die Nachforschung mit dem lauten Jagdgeheul zu betreiben, das eine solche Verfolgung erfordert, um sie wirksam zu machen; und aus diesem Grund erhielt er wahrscheinlich keinen Hinweis, obwohl er alles tat, was keine Erklärung der Umstände erforderte, unter denen er sie verloren hatte.

Wochen wurden zu Monaten, und noch immer suchte er und schlug sich in der Zwischenzeit mit Gelegenheitsarbeiten durch. Mittlerweile war er in einem Hafenort angelangt, und dort brachte er in Erfahrung, dass Personen, die in etwa seiner Beschreibung entsprachen, kurze Zeit zuvor ausgewandert seien. Da sagte er sich, dass er nicht länger suchen wolle, sondern hingehen und sich in der Gegend niederlassen, die er schon seit einiger Zeit im Sinn hatte. Am nächsten Tag machte er sich auf und reiste gen Südwesten und...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Reihe/Serie Reclam Taschenbuch
Nachwort Eva-Maria König
Übersetzer Eva-Maria König
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte britische Literatur • England • Erzählung • Eustacia Vye • Familie • Geschichte • Gewissen • Handel • Roman • Tess von den dUrbervilles • Vergangenheit • Verkauf Familie
ISBN-10 3-15-962260-6 / 3159622606
ISBN-13 978-3-15-962260-6 / 9783159622606
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