Marconi und der tote Krabbenfischer (eBook)
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01702-3 (ISBN)
Daniele Palu schreibt als Journalist für viele große Magazine und Zeitschriften sowie als leitender Autor für den erfolgreichen True-Crime-Podcast «Hollywood Crime». Wann immer er kann, fährt er an die Nordsee, wo ihm die Idee zur Krimi-Reihe um Massimo Marconi kam. Im Sommer 2023 residierte Daniele Palu zudem als Stadtschreiber in Otterndorf, wo er viel über die Eigenheiten der Nordlichter erfahren hat.
Daniele Palu schreibt als Journalist für viele große Magazine und Zeitschriften sowie als leitender Autor für den erfolgreichen True-Crime-Podcast «Hollywood Crime». Wann immer er kann, fährt er an die Nordsee, wo ihm die Idee zur Krimi-Reihe um Massimo Marconi kam. Im Sommer 2023 residierte Daniele Palu zudem als Stadtschreiber in Otterndorf, wo er viel über die Eigenheiten der Nordlichter erfahren hat.
2 Marconi ernt eine bittere Lektion
Marconi fand den Lichtschalter nicht und tastete sich im Dunkeln durch das fremde Haus. Sein Fuß stieß an einen Gegenstand. Obwohl das Hindernis leicht nachgab, konnte Marconi einen Sturz nicht verhindern. Als er fiel, hallte ein lautes Scheppern durch die obere Etage. Kurz darauf wurden fast zeitgleich zwei nebeneinanderliegende Türen geöffnet und zwei kleine Köpfe kamen zum Vorschein. Stefano rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Klara sah Marconi mit gerunzelter Stirn an.
«Tut mir leid», brachte er kleinlaut hervor. «Ich wollte euch gerade wecken kommen, allerdings nicht so.»
Augenrollend schaltete Klara das Flurlicht an, und Marconis Blick fiel auf die Umzugskiste, auf der er kniete. Er würde später nachsehen, was darin zu Bruch gegangen war, stand auf und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.
«Wer hat Lust auf ein Piratenfrühstück?» Er klatschte in die Hände.
«Brot mit Marmelade», entgegnete Klara kurz angebunden und schlurfte ins Bad. Stefano nickte zustimmend und ging zurück in sein Zimmer.
Fünfundzwanzig Minuten und zwei Marmeladenbrote später saßen sie zu dritt im Mini von Marconis verstorbenem Bruder Nevio. Marconi hatte mehrere Anläufe gebraucht, um den Fahrersitz bis zum Anschlag nach hinten zu verstellen und seine ein Meter dreiundneunzig hinter dem Lenkrad zusammenzufalten. Weil er seine neue Uniform erst bei Dienstantritt erhalten würde, trug er eine bequeme graue Stoffhose, dazu halbhohe hellbraune Lederstiefel und ein hellblaues, tailliert geschnittenes Hemd. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel bestätigte seine Vermutung, dass er mit etwas gutem Willen als italienischer Gigolo durchging. Sein Haar lockte sich mittlerweile fast bis zum Kinn, weil sein Friseurbesuch aufgrund der Umzugsvorbereitungen mehrere Wochen überfällig war. Nur mit einer mangogroßen Portion Schaumfestiger war es ihm an diesem Morgen gelungen, seine Mähne ein wenig zu bändigen. Aber darum würde er sich kümmern, sobald er diesen akuten Ausnahmezustand hinter sich gelassen hatte. Es gab in seinen ersten Tagen hier an der Küste Wichtigeres, als Eitelkeiten zu pflegen. Allem voran Schulbrote schmieren und eine Lösung dafür finden, wer die Nachmittagsbetreuung für die Kinder übernahm, während er seinen neuen Job antrat. Beim Gedanken daran entfuhr ihm ein Seufzer.
«Turnbeutel fürs Fußballtraining nach der Schule hast du dabei?» Marconi war stolz auf sich, weil er sich die beiden Stundenpläne am Kühlschrank eingeprägt hatte. Statt eine Antwort zu geben, sah Stefano regungslos aus dem Seitenfenster. Stellvertretend für ihren kleinen Bruder hielt Klara die Trainingstasche in die Höhe.
«Und die belegten Brote für die Frühstückspause?» Marconi registrierte, dass Klara mit den Augen rollte. Er hatte schon davon gehört, dass Teenager das gern taten, war aber selbst noch nicht in den Genuss gekommen und beschloss, es zu ignorieren. Als ihr Blick den seinen im Rückspiegel traf, nickte sie kurz und sah dann wieder aus dem Seitenfenster. Mit aufgesetzter Fröhlichkeit plauderte er weiter: «Eure Nonna hat noch Brot und Käse gekauft, bevor sie gestern zurück nach München gefahren ist. Falls es euch nicht schmeckt, gehen wir gemeinsam einkaufen, okay?» Keine Reaktion.
Sie fuhren an zweigeschossigen Ein- und Zweifamilienhäusern vorbei. An vielen Fahnenmasten wehten blaue Fahnen mit gelbem und rotem Streifen am Rand, auf denen drei goldene Schiffe prangten. Die Sankt Peteraner schienen Lokalpatrioten zu sein. Das hatten sie immerhin mit vielen Italienern gemeinsam, die vor allem deshalb überzeugt waren, dass Gott existierte, weil nur eine göttliche Macht in der Lage sein konnte, etwas so Schönes wie Italien zu erschaffen. Zum zweiten Mal an diesem Tag dachte Marconi wehmütig an seine Heimat – und ihren deutschen Ableger. München war als italienischste Stadt Deutschlands, wie er fand, der Perfektion am nächsten gekommen.
«Was liegt in der Schule an?», unternahm Marconi einen neuen Versuch, die beiden Kinder – und sich selbst – aufzumuntern. Im Rückspiegel sah er, wie Klara und Stefano sich einen Blick zuwarfen, den er nicht deuten konnte. Da Stefano beharrlich schwieg, ließ sich Klara wenigstens zu einem «nix Aufregendes» herab.
«Kein Test, kein Ausflug?», bohrte Marconi nach.
Klara brummte etwas, das wie «Referat» klang.
«Ach, spannend», rief Marconi etwas zu euphorisch. «Und worüber?»
Während er auf eine Antwort wartete, fiel ihm auf, dass an nahezu jedem zweiten Hauseingang ein Schild befestigt war, das auf eine Ferienvermietung hinwies. Wohnte hier auch jemand, oder war seine neue Heimat fest in Touristenhand?
«Queller», bedachte Klara ihn mit der nächsten knappen Entgegnung.
«Ist das ein Fisch? Ein Fluss? Eine Quallenart?»
Er hörte Stefano prusten und im Spiegel sah er, wie Klaras Mundwinkel zuckten. Hohn und Spott sind besser als gar keine Reaktion, dachte er.
«Pflanze», sagte sie, offensichtlich darum bemüht, nicht versehentlich allzu freundlich zu erscheinen.
«Ist das alles? Das wird aber ein ziemlich kurzes Referat!»
«Der Queller ist der Kaktus der Nordsee. Er wird auch Meeresspargel genannt, weil man ihn essen kann. Wenn’s bei uns Fisch gab, hat Papa öfter Queller dazu gekocht.» Marconi konnte sehen, wie sich ihr Blick bei der Erinnerung verfinsterte. Marconi verspürte selbst einen Stich. Einige Sekunden sagte niemand etwas.
«Aber weißt du, was lustig ist?»
Marconi schüttelte den Kopf. Allerdings bemerkte er, dass Klara die Frage an ihren Bruder gerichtet hatte, der sie nun gespannt ansah.
«Der Queller braucht eigentlich fast gar kein Wasser zum Überleben. Nur das Salz. Aber weil es auch nicht zu viel Salz sein darf, muss er immer mehr Wasser speichern und quillt deshalb auf.»
«Deswegen Queller!», rief Stefano, offenbar zufrieden mit seinem kombinatorischen Talent. Er strahlte seine große Schwester an, und Klara nickte begeistert.
Marconi fühlte eine seltsame Verbundenheit zu der Pflanze. Auch er hätte auf die Wassernähe gut verzichten können, wären da nicht die äußeren Umstände. Es war überhaupt erst sein dritter Besuch an der Küste, seitdem sein Bruder vor fünfzehn Jahren von München hierhergezogen war. Wegen der Liebe. Und damit hatte ihr Zerwürfnis begonnen. Seitdem hatten sie sich selten gesehen und meist nur flüchtig, wenn Nevio und seine Familie die Eltern in München besucht hatten.
Er hielt am Gymnasium, ließ Klara aussteigen und wünschte ihr viel Glück fürs Referat, was sie gleichgültig zur Kenntnis nahm.
Das Navi führte ihn in eine Zwanzigerzone im Ortsteil Dorf. In Schrittgeschwindigkeit passierten sie das bayerische Bräuhuus – ein freundlicher Gruß in feindseligem Gebiet – , die Bernsteinschleiferei Boy Jöns mit angeschlossenem Museum und den Souvenirshop St. Peter-Laden.
Ihm entging nicht, dass die schicke Dorfstraße zu neunzig Prozent aus Rotklinker bestand. Trotzdem unterschieden sich die Häuser im Detail deutlich voneinander. Neben wirklich historischen Gebäuden, wie dem reetgedeckten Wanlik-Hüs, vor dem eine Plakette darauf hinwies, dass es das älteste Haus von Sankt Peter-Ording und zudem denkmalgeschützt sei, gab es viele noble auf alt gemachte Häuser. Am Ende der Straße schmiegte sich das Deicheck Café mit seinen Strandkörben auf der Terrasse an einen mannshohen Deich. Marconi wunderte sich, dass es hier überall Dämme gab, sogar im Ortskern. Nicht gerade die optimale Strecke, wenn man es eilig hatte. Er beschloss, die Empfehlung seiner Navi-App in Zukunft zu ignorieren.
Endlich erreichte er die Utholm-Grundschule.
«So, da sind wir. Schultaxi für Stefano Marconi. Alle mit diesem Namen bitte aussteigen!»
Wortlos öffnete Stefano die Wagentür und ließ sich vom Rücksitz rutschen.
«Hab einen schönen Tag, bis …» heute Abend wollte er noch ergänzen, doch da hatte Stefano schon die Tür zugeworfen. Mit hängenden Schultern schleppte er sich zum Eingangstor, was Marconi Sorgenfalten auf die Stirn trieb. Der Junge würde viel Zuwendung brauchen, und er fragte sich, wie ausgerechnet er die aufbringen sollte. Marconis Mutter erklärte ihm bei jedem Anruf, er solle den Kindern klare Regeln setzen und Strukturen einführen, um ihnen Sicherheit, Halt und Orientierung zu geben. Drei Dinge, die er selbst gerade ganz gut gebrauchen konnte. Wenn sein Vater nicht kurz vor einer Herz-OP gestanden hätte, hätten seine Eltern sicher angeboten, zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern. Aber es half ja nichts. Marconi fuhr los und stellte mit einem Blick aufs Navi fest, dass es von der Schule keine vierhundert Meter zur Polizeistation waren. Immerhin.
Als Marconi auf das Haus zufuhr, in dem sich angeblich die Polizeistation befand, glaubte er zunächst an einen Eingabefehler im Navi, dann an einen schlechten Scherz. Das zweigeschossige Backsteinhaus mit dem schlammbraunen Schrägdach sah aus wie eine in die Jahre gekommene Dorfkneipe oder eine Massagepraxis aus den Achtzigern. Jedenfalls nicht ansatzweise wie das Landeskriminalamt in Flensburg, in dem er sein Vorstellungsgespräch gehabt hatte und erst recht nicht wie das Polizeipräsidium in München, das zu einem der imposantesten Gebäude der Stadt gehörte. Ihn würde es nicht wundern, wenn sich regelmäßig ein Tourist in seine neue Arbeitsstätte verirrte und um eine Fangopackung oder ein Herrengedeck bat.
Ehe er noch tiefer in düsteren...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Ein Italiener ermittelt an der Nordsee |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Cosy Krimi • cosy krimi deutsch • Destinationskrimi • deutsche Kriminalromane • Ermittlerkrimi • Ermittlerteam • humorvolle Krimis • Krimi • Krimi Deutschland • Krimi lokal • Kriminalgeschichten • Kriminalliteratur • Kriminalroman • Krimi Neuerscheinung 2024 • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Krimi Nordsee • krimis bücher • Krimis Nordsee • Krimis und Thriller • Krimi Thriller • Küstenkrimi • Nordseekrimi • Nordsee Krimi • Regionalkrimi • Romane Krimis • spannende Bücher • St. Peter Ording • Thriller und Krimis deutsch • Umweltkrimi |
ISBN-10 | 3-644-01702-6 / 3644017026 |
ISBN-13 | 978-3-644-01702-3 / 9783644017023 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 8,2 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich