Dunkeldorf (eBook)
448 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-28411-4 (ISBN)
Der bekannte Autor Niklas Westphal kehrt aus einem traurigen Anlass an den Ort seiner Kindheit zurück: die Beerdigung seiner kürzlich verstorbenen Mutter. Kaum im einstigen Elternhaus angekommen suchen Niklas beunruhigende Träume heim. Die Bilder scheinen mit einem ähnlich heißen Sommer in der Vergangenheit zusammenzuhängen, an dessen Ende nicht nur drei Menschen sterben, sondern auch eine geheimnisvolle junge Frau verschwindet. Als dann die Leiche eines seit langer Zeit vermissten Mädchens entdeckt wird, ahnt Niklas, dass sich hinter seinen Traumgespinsten eine dunkle Geschichte verbirgt. Auf eigene Faust beginnt er, Ermittlungen anzustellen - doch die Dorfbewohner schweigen hartnäckig. Einzig seine frühere Schulfreundin Tessa steht ihm bei.
Liliane Skalecki ist Kunsthistorikerin und Archäologin und widmet sich in ihren Kriminalromanen gerne Themen aus diesen spannenden Bereichen. Beim Stöbern in Antiquariaten und dem Eintauchen in die Vergangenheit entdeckt sie so manches Rätsel, das sie, auch unter Pseudonym, mithilfe ihrer Figuren in packenden Fällen löst. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen und Südfrankreich. Ihre Homepage: www.liliane.skalecki.info
Kapitel 1
Der Bus hielt mit quietschenden Bremsen. Ein ähnlich armseliges Geräusch gab die Tür von sich, als sie sich gemächlich öffnete. Als würde das Fahrzeug unter der Hitze, die wie ein dampfendes Tuch über den Dörfern, Feldern und Wegen lag, stöhnen.
Er stellte seinen Rollkoffer in den Gang, sehr zum Missfallen der Fahrgäste, die nach ihm einstiegen, sich die Schienbeine daran stießen oder fast darüber stolperten. Als wären die Bewohner der umliegenden Dörfer mit Blindheit oder zumindest einer ausgeprägten Kurzsichtigkeit geschlagen. Er entschuldigte sich immer wieder, nahm die missbilligenden Blicke in Kauf und ließ den Koffer stehen. Gepäcknetze gab es keine, und das Ungetüm auf den Sitz neben sich zu stellen, wäre ihm äußerst unhöflich erschienen.
Der Bus musste uralt sein. Die Sitze waren zum Teil zerschlissen und die Haltegriffe an den Stangen unter dem Dach dunkel und speckig. Konnte das immer noch das Fahrzeug sein, das zwischen den Ortschaften hin und her pendelte, als er noch ein Jugendlicher gewesen war, der zur Disco in das fünfzehn Kilometer entfernte Städtchen fuhr? Er reckte den Hals, um auf das zweite Fenster vorne links zu spähen. Mit einem Taschenmesser hatte er vor ewigen Zeiten versucht, ein Herz hineinzuritzen. Die Schandtat war ihm nicht gut bekommen. Er erinnerte sich noch lebhaft an die Ohrfeige, die seine Mutter ihm verpasst hatte. Weniger an den Schmerz als an das Geräusch, als ihre Hand mit Wucht seine Wange traf. Doch es war kein Herz auszumachen. Entweder hatte man die Scheibe ausgetauscht, oder, was eher zu vermuten war, es war doch nicht sein alter Bus, sondern ein neueres Modell.
Neuer, aber noch längst nicht modern. Es gab keine Anzeige, die ankündigte, wann er sein Ziel denn nun erreichen würde. Alles kam ihm fremd vor. Die Landschaft hatte sich verändert. Wo noch vor Jahren Vieh weidete und Weizenfelder golden im Schein der Sommersonne glänzten, hatte die Monokultur ihren Siegeszug angetreten. So weit seine Augen blickten, wuchs nur Mais, uniforme Anbauflächen, die ihm keinerlei Anhaltspunkt dafür gaben, wo er sich befand. Früher führte der Weg zwischen den Schwarzbunten von Bauer Dietrich ins Dorf. Kühe als Landmarke. Wann hatte dieser Wandel stattgefunden?
Er tippte einer jungen Frau, die vor ihm saß und keinen unangenehmen Zusammenstoß mit dem Corpus Delicti, sprich Rollkoffer, gehabt hatte, auf die Schulter. Sie drehte sich um, zog die Stöpsel, die ihr Handy mit den Ohren verbanden, aus denselben und schaute ihn fragend an.
»Die nächste Haltestelle ist doch Thöninghausen?«
Sie nickte und gab sich wieder der Musik hin, die für einen Moment auch für ihn hörbar aus dem Handy drang. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. Er hatte alles erwartet, nur nicht Mahlers Auferstehungssinfonie.
Erneut tippte er ihr auf die Schulter, nickte anerkennend, als sie sich umdrehte, und hob seinen Daumen. Alle Achtung, hätte nie gedacht, dass die Jugend von heute Mahler hört, sollte das bedeuten. Sie quittierte seine Anerkennung mit einem genervten Augenrollen. Erst da entdeckte er den Geigenkasten, der neben ihr auf dem Sitz lag. Peinlich berührt lehnte er sich zurück und starrte aus dem Fenster, bis unvermittelt in der Ferne die Turmspitze der Martinskirche von Thöninghausen hinter einem Maisfeld auftauchte. Hatte man die schon immer von der Straße aus gesehen? Oder lag es daran, dass er im Bus einfach nur sehr viel höher saß als im Auto oder auf dem Fahrrad? Oder hatte er es einfach nur vergessen?
Wenige Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Das alte Wartehäuschen war fast gänzlich verschwunden. Nur noch der Mülleimer, der an einem Mauerrest hing und wohl kürzlich einem Brandanschlag zum Opfer gefallen war, zeugte zusammen mit den bröckelnden Steinen von ehemals besseren Zeiten.
Er stieg aus und setzte seinen Koffer auf dem staubigen Boden ab. Die Hitze, die ihn außerhalb des Vehikels erwartete, raubte ihm fast den Atem. Wie eine Wand stand sie vor ihm. Wenn er jetzt einen Schritt machte, würde er entweder an dieser Wand abprallen, oder, wenn er die Wand durchdringen würde, wie eine Motte, die einer Kerzenflamme zu nahe gekommen war, verglühen.
Das brummende Motorengeräusch des anfahrenden Busses riss ihn aus seinen Fantastereien. Der Fahrer hatte noch kurz an der Haltestelle gewartet, da er eine Minute zu früh angekommen war. Allerdings fand sich niemand ein, um zuzusteigen, und so fuhr der Bus pünktlich wieder ab, bereit, seine Fahrgäste im sechs Kilometer entfernten Butzigheim auszuspucken oder Butzigheimer, die nach Trutstadt oder noch weiter wollten, aufzunehmen. Er stieß als Abschiedsgruß eine dunkle Rußwolke aus dem Auspuff und verschwand hinter der nächsten Kurve.
Kein Lüftchen regte sich, und die Blätter der dicht nebeneinanderstehenden, hoch aufgeschossenen Maisstauden hingen schlapp herab. Er zog sein Jackett aus, quetschte es in seinen Rollkoffer und krempelte die Ärmel hoch. Lautlos schwirrte eine Pferdebremse auf ihn zu, setzte sich auf seinen linken Unterarm und stach gnadenlos zu.
»Mistvieh.« Er war eben dabei, seine Sonnenbrille aus einem Etui zu kramen, das in der Außentasche des Trolleys steckte, hielt in seiner Bewegung inne und schlug zu. Hämisch grinsend, da war er sich sicher, düste das große Insekt davon, verschwand im Schutz der Maisstauden, die fast bis zum Straßenrand wuchsen und dabei den Wegweiser, der die Richtung nach Thöninghausen zeigte, fast gänzlich verbargen. Der Arm juckte bereits und schwoll an, eine zentimetergroße Quaddel bildete sich. Als Kind hatte er immer Spucke darauf gerieben. Es hatte nie etwas genutzt, aber ihm das Gefühl gegeben, etwas gegen das Gift unternommen zu haben. Walter hatte sogar einmal eine solche Stelle mit dem Taschenmesser angeritzt und ausgesaugt. Hatte aber auch nicht gegen den Juckreiz geholfen.
Er setzte die Brille auf und machte sich mit seinem Rollkoffer, den er wie ein trotziges Kind, das keine Lust zum Laufen hatte, hinter sich her zerrte, auf den Weg zum Ort seiner Kindheit und Jugendjahre. Von der Landstraße aus hatte er einen knapp zwei Kilometer langen Fußmarsch auf dem unbefestigten landwirtschaftlichen Fahrweg vor sich. Er war ihn wohl schon tausendmal gelaufen. Wenn er Glück hatte, fuhr vielleicht ein Auto oder ein Traktor in seine Richtung. Er lauschte, doch das Fahrzeuggeräusch, das er gehört hatte, kam von der Landstraße und blieb auf der Landstraße.
Es war Ende Juni, der offizielle Sommer war schon ein paar Tage alt und bot bereits alles auf, was einen echten Sommer ausmachte. Höchsttemperaturen von fünfunddreißig Grad, Schlagzeilen in der Tagespresse, die verkündeten, das Mineralwasser in den Getränkemärkten werde bereits knapp, Empfehlungen, vor allem an alte Menschen, genügend zu trinken – Dehydrierung war das Gefahrenwort.
Nach kaum hundert Metern brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Er war einundvierzig Jahre alt, hatte eine sportliche Figur und eine gute Kondition, joggte bei Wind und Wetter, bei Minusgraden und rekordverdächtigen Temperaturen, die ihm eigentlich nie zu schaffen machten. Doch diese Hitze war eine andere, eine seltene, eine, die es nur in diesen Gefilden gab. Thöninghausen lag, wie seine Nachbardörfer, in einem Talkessel, in dem sich hohe Luftfeuchtigkeit breitmachte und nicht mehr weichen wollte.
Das Geräusch knirschender Steine hinter ihm ließ ihn anhalten und sich umdrehen. Auf einem schwarzen Fahrrad näherte sich in gemächlichem Tempo eine alte Frau mit einem geblümten altmodischen Kopftuch, eine Kopfbedeckung, gleichermaßen Sonnen-, Regen- und Windschutz, wie er sie noch von seiner Großmutter Emilie kannte. Auf dem Gepäckträger war ein Korb befestigt, in dem eine prall gefüllte Plastiktüte lag. Die Frau verlangsamte ihre Fahrt, als sie ihn passierte, warf ihm einen kurzen Blick zu, nickte und strampelte weiter. Kein Gruß, keine Frage, keine Neugierde. So waren die Menschen in Thöninghausen. Eher wortkarg, was Fremde betraf, dabei jedoch nicht unhöflich, aber reserviert. Nur war er kein Fremder.
Hätte Elisabeth Tümmler ihn erkannt, immerhin war ihre Schwiegertochter eine entfernte Cousine seiner Mutter, hätte sie ganz sicher haltgemacht und das Wort an ihn gerichtet. Trotz der Hitze lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken. Er hatte sich als kleiner Knirps vor der Frau furchtbar gegruselt.
Zuletzt war er vor mehr als elf Jahren in seinem Heimatdorf gewesen. Sein bester Freund aus der Jugendzeit Hartwig hatte geheiratet und ihn gebeten, Trauzeuge zu sein. Er hatte die Feier über sich ergehen lassen, ebenso wie die vielen Fragen, die ihm gestellt wurden, und war froh gewesen, als er wieder in sein Auto hatte steigen und Thöninghausen den Rücken kehren können.
Apropos Auto. In vier Wochen würde er seinen Führerschein wiederhaben. Der Lappen war für zwei Monate weg. Plus zweihundertvierzig Euro weniger auf dem Konto und zwei Punkte mehr in Flensburg. Ein Abstandsmesser auf einer Autobahnbrücke zwischen Mannheim und Stuttgart war ihm kurz hinter Heilbronn zum Verhängnis geworden. Eigentlich war es kein großes Drama, die meisten Reisen erledigte er sowieso mit dem Zug. So wie diese. Doch nach der recht angenehmen Bahnreise hatte er in die Straßenbahn wechseln müssen, dann in den Bus und zuletzt dieser Fußweg. Ein echter Bequemlichkeitsabstieg. Natürlich hätte er auch mit dem Taxi fahren können. Er hätte sein Ziel eindeutig komfortabler und vor allem schneller erreicht. Aber wollte er es überhaupt schnell erreichen? Und da war auch noch dieser Hauch eines Gefühls von Nostalgie gewesen, als er sich entschieden hatte, den Überlandbus zu nehmen.
Er fuhr sich mit der...
Erscheint lt. Verlag | 1.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Cold Case • Dorfgemeinschaft • dunkles familiengeheimnis • eBooks • Neuerscheinung • Spannung • Thriller • vermisste Frauen |
ISBN-10 | 3-641-28411-2 / 3641284112 |
ISBN-13 | 978-3-641-28411-4 / 9783641284114 |
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