9mm Cut (eBook)

Roman | Der neue Thriller der Krimipreis-Trägerin

(Autor)

Thomas Wörtche (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
232 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77894-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

9mm Cut -  Sybille Ruge
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Ein Kopf in einer Plastiktüte vor dem Büro, dazu ein erschossener Geschäftsführer. Mit der NGO »Interni« stimmt deutlich etwas nicht. Und nichts ist lästiger für eine wohltätige Stiftung als schlechte Presse. Fürchtet der Lebensmittel- und Fleisch-Tycoon Wellinghofen, der Hauptmäzen der »Interni«, und schickt seine Mitarbeiterin für besondere Fälle, die sich gerade Eve Klein nennt, nach Zürich zum Stiftungssitz. Nebenbei soll sie auch noch Geld für ihn auf dem Kunstmarkt waschen, mit Hilfe der mehr als undurchsichtigen Mascha Harvensteen, die als Guru der Kunstwelt gilt. Neben dem sichtlich überforderten Stiftungsvorstand Max Karnofsky bekommt es Eve zudem mit dessen eisiger Gattin Helena zu tun, mit den Töchtern der Familie - Zwillinge, die glatt aus Shining stammen könnten -, und einem ruppigen Berater aus London mit unguten Verbindungen. Eine Welt der Reichen und Superreichen, in der alles funktional ist. Einschließlich der Kinder. Aber das Einzige, was wirklich zu funktionieren scheint, ist der Rasenmähroboter. In dieser Welt sind Big Business, Gier und Organisiertes Verbrechen eng miteinander verzahnt. Wenn auch anders, als Eve sich das zunächst denkt ...



Sybille Ruge, geboren in der DDR, absolvierte die Schauspielschule &raquo;Hans Otto&laquo;, Leipzig, mit Diplom und die Meisterklasse f&uuml;r Schauspiel, Palast der Republik, Ost-Berlin, arbeitete dann als Kost&uuml;mbildnerin f&uuml;r B&uuml;hne und TV und ab 1997 bis heute als Entwicklerin in der Textilindustrie. 2022 erschien ihr Deb&uuml;troman <em>Davenport 160x90</em> bei Suhrkamp. Lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und Z&uuml;rich.

»Warum hast du dich nicht an die zuständigen Behörden gewandt und den Vorfall gemeldet?«

»Warum ich mich nicht an die Behörden gewandt habe? Sag mal, bist du wahnsinnig? Die Integrität der Organisation muss gewahrt bleiben. Keiner will einen Medienskandal. Dann ist es vorbei mit der Hilfe. Was die Presse betrifft, spreche ich mit Karl von Wellinghofen sicher eine Sprache.«

»Eine Knarre ist auch eine Sprache. War das die Entschädigung, von der Sanjay sprach?«

Karnofsky sah mich an, als wäre gerade eine Fledermaus aus seiner Kuckucksuhr geflogen.

»Mascha Harvensteen hat mir erzählt, dass Tadić erschossen wurde. Läuft Tod durch Erschießen bei dir unter Vollkontaktsport?«

Die Selbstmordversion hatte mich von Anfang an stutzig gemacht, aber hinterher ist es immer leicht, von Vorahnung zu sprechen. Tadić hatte auf dem Foto in seinem Lebenslauf nicht nach einem schluffigen Selbstmörder ausgesehen, eher nach einem, der anderen zu dieser Entscheidung verhalf.

Karnofsky fiel in sich zusammen wie ein Soufflé. Er schüttelte seinen Kopf und atmete tief.

»Es ist nicht einfach gerade, wir sind alle nervös. Ich sag dir jetzt was, ich war bei der Polizei. Ich wurde vernommen, ich bin eine sogenannte Auskunftsperson, mehr nicht. Richtig, Tadić hat sich nicht umgebracht, er ist erschossen worden. Ich habe es für vernünftiger gehalten, die Wahrheit für mich zu behalten. Hell dreht durch, wenn sie das hört, sie hat Angst wegen der Kinder, sie würde sofort denken, dass irgendwelche Fanatiker es auf unsere Familie abgesehen haben. Vielleicht als Nächstes die Kinder entführen, um Geld zu erpressen. Wir haben viele Neider. Wir sind eh und je potentiell gefährdet, was Kidnapping betrifft. Du als Angestellte kennst nicht das Ressentiment der Leute, die wenig verdienen. Und noch was. Die Polizei vermutet, dass die organisierte Kriminalität dahintersteckt. Jawohl, ein Bandenkrieg. Ja, richtig, Tadić hat seinen eigenen Drogenring eröffnet, falsche Reinigungskosten veranschlagt und damit das Geld gewaschen. Ich bitte dich, in Helenas Gegenwart nichts davon zu erwähnen.«

»Weiß sie, dass du kokst?«

»Blödsinn. Ich will nicht, dass meine Familie an einer lächerlichen Banalität zerbricht.«

»Kann ich dir noch mit ein paar Adjektiven dienen? Deine Erzählung klingt recht trocken. Was ist mit Jaco Balushi?«

»Sag mal, soll das ein Verhör werden? Willst du mir irgendwelche Zwielichtigkeiten nachweisen? Ich habe keine Ahnung, verdammt nochmal. Die Einstellung von Balushi war eine Gefälligkeit für Tadić und Gefälligkeiten rächen sich.«

Karnofsky hatte seine Stimme erhoben, lenkte aber schnell wieder ein.

»Hör mal, ich bitte dich nur um Ruhe hier im Haus. Ich habe eine Verantwortung meinen Kindern gegenüber. Du weißt nicht, was hier los ist. Ich kann es dir auch gerade nicht erklären. Helena ist mit Sicherheit wegen Nick abgereist. Sie hasst Nick. Sie hält ihn für einen überheblichen Aufsteiger mit undurchsichtigen Kontakten. Wir müssen Ruhe bewahren.«

»War das deine letzte Fassung oder kommt noch was Unerwartetes?«

Karnofsky schwieg. In einen Bandenkrieg verwickelt zu werden, schien mich mehr zu beunruhigen als ihn. Die Bezahlung von K2 verlor umgehend an Wert. In dem Glashaus herrschte eine muffige Stimmung wie in einem ungelüfteten Schlafzimmer. Karnofsky hatte alle Schnittigkeit verloren. Übriggeblieben war ein schlecht ausgewrungener Waschlappen.

»Ich halte mich an die Gesetze, okay?«

»Macht ihr eure Gesetze auf der Riffelalp? Berg hochsteigen und dann auf die Welt hinuntersehen?«

»Was soll das mit der Riffelalp? Hast du was gegen Berge?«

»Die Romantik der Berge stößt bei mir auf Unverständnis.«

Er sah auf seine Uhr.

»Glück gehabt, ich schaffe gerade noch den Nachmittagsgottesdienst mit den Kindern, und danach fahren wir in den Golfclub. Es gibt eine exzellente Kinderbetreuung und ein gutes Restaurant mit Blick auf den See. Kommst du mit?«

Irgendwie schockte mich die Bestätigung, dass wir allein mit Sanjay und den Zwillingen waren. Karnofsky muss mein Gesicht wohl als Ablehnung seiner Einladung gelesen haben, denn er argumentierte weiter, um mich zu überzeugen.

»Die Kinder freuen sich, wenn du mitkommst.«

Ich stellte mir den Golfclub vor wie eine Netflix-Serie. Gleichmäßige Menschen mit gebleichten Zähnen, gechlorte Sauberkeit, stimmige Farben und zusammengeschusterte Dialoge. Es ist völlig gleichgültig, ob es sich um Terroristen, Hausfrauen oder Serienmörder dreht, spätestens nach der dritten Folge fragt man sich, wer mit wem vögelt. Fernsehen geht behutsam mit den Erkenntnisschranken des Publikums um.

»Ich freue mich auch, wenn du mitkommst«, sagte Karnofsky.

Er blinzelte mich verführerisch an. Jede Entscheidung hat Nebeneffekte, die wir nicht entscheiden. Ich ging mit.

Die reformierte Kirche hätte auch ein Eventcenter sein können. Man konnte gut sehen, wie die Institution Kirche einen Niedergang erlebt hatte und in Form von Unterhaltungskultur übriggeblieben war. Im Gang gab es eine Kaffeemaschine. Ich nahm die Rede des Pfarrers an, wie man im Fahrstuhl Musik hört. Sie ähnelte einem Schulaufsatz zum Thema frei gewähltes Zitat und Interpretation. Ich versuchte an Sex mit Ricky zu denken, aber die Lieder der drei Gitarrenspieler und der unkoordinierte Gesang der Gläubigen machten es unmöglich. Dem Raum fehlte jegliche Heiterkeit.

»Gott schuf den Menschen«, sagte der Prediger, »das sollten wir nie vergessen.«

Wenn ich mir Gott verdeutlichen will, dachte ich, muss ich mir nicht den Menschen vor Augen führen, ein Tintenfisch täte es auch. Wesen, die immer einen Ausgang finden. Bewundernswert.

Die Frau neben mir hatte ein Scharnier statt eines Rundgelenks an ihrem Hals. Sie nickte mir vogelartig zu und drückte mich abrupt an ihren Busen.

»Vor dem Hilfswerk lag ein abgetrennter Kopf. Gott sieht alles«, flüsterte sie mir ins Ohr und sah dabei ängstlich zu Karnofsky rüber. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Die Leute um mich herum sahen sich mit fanatischer Herzlichkeit an. Herzlichkeit, die mit der Knarre in der Hand verteidigt wird. Genau dort, wo der Zaun des Nachbarn beginnt.

Im Golfclub wurde Karnofsky mit Blick auf mich von allen mit der Frage begrüßt, wo Helena sei. Mir kam es so vor, als bemühe er sich daraufhin, so geschäftlich wie möglich zu klingen, als er mich vorstellte. Besuch aus Deutschland. Wir führten kurze Gespräche, die den Sprechblasen von Micky-Maus-Comics glichen. Kurz, knapp, unverfänglich.

Die Kinder bestrichen sich mit Lichtschutzfaktor 50, bis sie wie Geister aussahen, und gingen mit der Kinderbetreuung zum Minigolfplatz; wir setzten uns auf die Clubterrasse zu einem befreundeten Ehepaar, das uns übertrieben begrüßte, wie es sich für Leute mit einem Ziel vor Augen geziemt.

»Bist du das neue Au-pair?«

»Sie arbeitet für Wellinghofen. Darf ich euch vorstellen – Eve Klein. Das sind René und Gabrielle Axhauser.«

Bei K2s Namen veränderten die beiden ihre saloppe Haltung und setzten sich gerade hin, als wäre ich ihnen unheimlich.

»Eve ist für die Begabtenförderung bei den Interni zuständig.«

Das Ehepaar fixierte mich, als erklärte man ihnen ein abartiges Hobby. Es entstand eine befremdliche Pause.

Der Kellner servierte einen Brut Rosé aus der Franciacorta. Wir erhoben die Gläser und prosteten uns verkrampft zu. Gabrielle Axhauser war eine exaltierte Blondine mit spitzer Nase, an der nur die weißen Dior-Slingpumps unschuldig wirkten. Sie trug so enge Klamotten, dass man sie für eine Skulptur halten konnte. Sie war es, die sich als Erste aus ihrer angespannten Haltung löste, um mir die Speisekarte zu erklären. Ihr Mann sah mich weiter mit toten Augen an. Gabrielle Axhauser harkte mit ihrem gut manikürten Finger auf der Speisekarte herum und gab ernährungswissenschaftliche Erklärungen. Als sie durch war, machte sie sich über ihren Mann her. Ihr Empfehlungsexorzismus und die damit verbundene konstante Evaluierung seines Verhaltens hatten bei ihm zu einer Art Bewegungsstarre geführt. Selbst sein Gesicht war unter der Last der konstanten Anschuldigungen zu einem dümmlichen Grinsen verkümmert. Ich wunderte mich, wie weit ...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
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ISBN-10 3-518-77894-3 / 3518778943
ISBN-13 978-3-518-77894-4 / 9783518778944
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