I walk between the Raindrops. Storys (eBook)
272 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28242-1 (ISBN)
Dreizehn neue brillante Storys vom Meister des Genres, surreal und abgründig witzig: Sie handeln von sprechenden Drohnenautos, die ihre Passagiere auf algorithmischen Routen durch die Landschaft führen, von bodenständigen Müttern, die sich mit jungen Incel-Männern anlegen, aber auch von Spaziergängen durch den kalifornischen Regen, während die Küste von Sturzfluten verwüstet wird. Kein Autor versteht es so komisch und schonungslos, ins Herz unserer aus den Fugen geratenen Gegenwart zu stechen wie T. C. Boyle.
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T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Erzählungen, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017), Good Home (Stories, 2018), Das Licht (Roman, 2019), Sind wir nicht Menschen (Stories, 2020), Sprich mit mir (Roman, 2021) sowie Blue Skies (Roman, 2023).
»Keiner bringt das Talent der Menschheit, sich selbst zu versenken, so auf den Punkt wie T. C. Boyle.« — Financial Times
I Walk Between the Raindrops
Valentinstag
Den vergangenen Valentinstag habe ich mit Nola, meiner Frau, in Kingman, Arizona, verbracht. Wir waren im Motel 6, gleich an der I-40. Vielleicht kommt Ihnen Kingman, Arizona, nicht gerade wie der ideale Ort für einen romantischen Kurzurlaub vor (und wer würde Ihnen da widersprechen?), aber Nola und ich sind seit fünfzehn Jahren verheiratet, und romantische Gefühle kommen und gehen — manchmal wallen sie heiß auf, dann wieder kühlen sie etwas ab, und wir brauchen ganz bestimmt keinen besonderen Tag oder Ort dafür. Wir sind nicht sentimental. Wir schenken uns keine herzförmigen Schachteln voller Süßigkeiten oder vorgefertigte Glitzerkarten mit vorgedruckten Liebesbekundungen, wir küssen uns nicht in der Öffentlichkeit und sagen nicht zwanzigmal am Tag »Ich liebe dich«. (Mir sind Paare, die das tun, immer etwas suspekt — mal ehrlich: Wem wollen sie eigentlich was vormachen?) Außerdem wollten wir Nolas Vater besuchen, der in den Achtzigern ist und in einem Trailer Park keine zwei Kilometer vom Motel entfernt wohnt, so dass man bequem zu Fuß hingehen und dann in der sogenannten Old Town herumspazieren kann, wo es ein paar Bars und Restaurants und die Trödelläden gibt, in denen meine Frau gern nach Schnäppchen stöbert.
War es eine billige Absteige? Aber ja. Wir hätten uns auch was anderes leisten können, doch das Motel 6 gefällt uns — jedenfalls, wenn wir in Kingman sind. Es ist zwar keineswegs ideal, aber wenigstens mal was anderes. In den frühen Morgenstunden kriecht ein Streifenwagen der örtlichen Polizei über den Parkplatz. Kennzeichen werden überprüft, und hin und wieder wacht man davon auf, dass vor einem der anderen Zimmer jemandem Handschellen angelegt werden — etwas, das man in Kalifornien nicht alle Tage zu sehen bekommt. Außerdem kampieren ein paar magere weiße Penner in dem ausgetrockneten Bachbett hinter dem Motel. Manchmal erschrecke ich, wenn ich abends rausgehe, um ein bisschen frische Luft zu schnappen, und einer von ihnen aus der Dunkelheit auftaucht, aber es ist noch nie was passiert, ich bin nicht mal um eine Zigarette oder Kleingeld angehauen worden.
Nachdem wir am Valentinstag meinen Schwiegervater besucht und ihn zum Mittagessen ins Denny’s eingeladen hatten, das einzige Restaurant, in dem er etwas essen wollte, begann Nola ihre Runde durch die Trödelläden und Antiquitätengeschäfte, während ich die Bar ansteuerte. Dort wollten wir uns, wenn sie alles gesehen hatte, treffen, etwas trinken und dann auf ein paar Margaritas und Enchiladas in das mexikanische Restaurant gehen. Ich war schon einige Male in dieser Bar gewesen. Früher gehörte sie zu einem Hotel, das inzwischen geschlossen ist; es ist ein riesiger, höhlenartiger Raum mit einer hohen Weißblechdecke, einer langen, verschrammten Theke, drei Billardtischen und einer Jukebox, die in Stadionlautstärke die Hits der Sechziger und Siebziger spielt. Die Tür steht immer offen, damit der Laden ein bisschen von dem besten Licht abkriegt, das es gibt — nämlich das, was keinen irgendwas kostet —, und auf der anderen Straßenseite ist ein Gewirr aus Gleisen, auf denen endlose Güterzüge durch den Ort fahren. Wenn man den Blick von seinem Bier oder Gin Tonic hebt, sieht man meist eine Wand aus Güterwagen vorbeiziehen.
An dieser Stelle muss ich betonen, dass es kein unfreundlicher Ort ist, auch wenn über den Pinkelbecken auf der Herrentoilette steht: »Leckt mich, liberale Schlappschwänze!«, was ich allerdings als Ironie auffasse. Und ich selbst war ebenfalls nicht unfreundlich, sondern setzte mich gutgelaunt zu den Stammgästen meist mittleren Alters an die Theke und bestellte einen Jack Daniel’s mit Cola. Normalerweise — also in unserer kleinen Küstenstadt in Kalifornien — hätte ich einen Pinot Noir aus den Santa-Rita-Hügeln oder einen feinen, körperreichen Zinfandel aus Paso Robles vorgezogen, aber es war eben keine Bar für einen Pinot Noir. Ich will das nicht besonders herausstreichen — es war nur einfach offensichtlich. Davon abgesehen war ich ganz zufrieden, an der Theke zu sitzen, mich über mein Handy zu beugen (ich hatte schon den ganzen Tag immer wieder im Finanzforum einer Firma gepostet, für die ich mal gearbeitet hatte) und darauf zu warten, dass Nola müde wurde und sich auf einen Valentinsdrink zu mir gesellte. In ihrem Fall würde das wahrscheinlich ein Gin Tonic sein, ein Drink, den niemand verhunzen kann, weder in Kingman noch in Irkutsk.
Am leeren Ende der Theke, vier Hocker von mir entfernt, saß eine Frau. Beim Hereinkommen hatte mein Blick sie gestreift, aber ich hatte beschlossen, Abstand zu halten, und mich in die Nähe von ein paar bärtigen Stammgästen in Karohemden, Shorts und Arbeitsstiefeln gesetzt. Sie war Ende dreißig, mager wie die Penner im Bachbett, und trug Jeans und Joggingschuhe. Ihr Gesicht war älter als der Rest von ihr, auf dem dunklen, kurzgeschnittenen Haar saß eine kleine regenbogenfarbene Mütze, und ich hätte sie auch dann nicht attraktiv gefunden, wenn ich solo gewesen wäre, was ich nicht war. Aber ich war allein, es war Valentinstag, und mein kurzer Blick schien bei ihr anders angekommen zu sein, als er gemeint war, denn drei Minuten später, noch bevor ich einen Schluck getrunken hatte, stand sie neben mir, so dicht, dass wir einander fast berührten.
»Ich heiße Serena«, sagte sie und versuchte ein Lächeln, das ihr nicht ganz gelang.
»Brandon«, sagte ich, und weil sie mir so dicht auf den Leib gerückt war und mir nichts anderes einfiel, schüttelte ich ihr unverbindlich die Hand.
»Brandon?«, wiederholte sie. »Was für ein Name ist das?«
»Ein Name eben.« Ich zuckte die Schultern. »Haben mir meine Eltern gegeben.«
»Ich habe außersinnliche Wahrnehmungen«, sagte sie.
Ich stutzte nur kurz. »Toll«, sagte ich dann. »Tja« — ich schwenkte mein Handy — »ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe ein paar Sachen zu erledigen.«
Die Musik hämmerte auf uns ein wie die Luftwirbel eines startenden Jets. Ich sah durch die offene Tür, wo ein Güterzug lautlos vorbeirollte — das mechanische Quietschen und Rumpeln wurde von der Jukebox locker übertönt.
»Wollen Sie ein Spiel machen?«, fragte sie.
»Nein, tut mir leid.« Erst da wurde mir bewusst, dass hier noch eine ganz andere Unterhaltung im Gang war: ein Selbstgespräch. Sie murmelte vor sich hin und kommentierte, was ich oder sie gesagt hatte, womöglich fluchte sie sogar.
Sie wiederholte die Frage, und ich schüttelte den Kopf und wandte mich wieder meinem Handy zu, aber sie gab nicht auf, sondern blieb bei mir stehen und führte ihr Selbstgespräch. Ich wollte keinen Ärger, und als liberaler Schlappschwanz macht es mir kein Vergnügen, grausam zu jemandem zu sein, wie nervig oder verrückt er oder sie auch sein mag, und so hörte ich mir das noch ein, zwei Momente an, bevor ich mein Glas nahm, zum anderen Ende der Theke schlenderte und mich zwischen zwei Gruppen setzte, die offenbar Valentinstag feierten, hauptsächlich Männer, aber auch zwei Frauen, allesamt in bislang noch verhaltener Vorfreude auf den kommenden Abend. Doch schon war, wie kaum anders zu erwarten, Serena wieder da, zwängte sich zwischen mich und den Mann auf dem nächsten Hocker und rückte mir auf den Leib. »Ich habe außersinnliche Wahrnehmungen«, sagte sie, und als ich nicht antwortete, sagte sie: »Wollen Sie ein Spiel machen?«
Wütend stand ich auf, nahm mein Glas und ging quer durch den Raum zu einer der Nischen an der Rückwand hinter den Billardtischen. Wäre mir irgendein Mann auf die Nerven gegangen, dann hätte ich ihn mit einem Bluff oder einem starken Spruch loswerden oder einfach rausgehen können, um eine Konfrontation zu vermeiden, aber das hier war etwas anderes. Es war eine Frau. Eine ASW-Frau, in deren Kopf sich irgendein unergründliches Karussell drehte, und ich wollte nicht gehen. Ich wollte meinen Jack-and-Coke trinken und dann noch einen und auf meine Frau warten.
Ich kehrte der Theke den Rücken, beugte mich über das Handy und antwortete einem der ...
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2024 |
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Übersetzer | Dirk van Gunsteren, Anette Grube |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | I Walk Between the Raindrops. Stories |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 21. Jahrhundert • Amerika • Klimawandel • Stories |
ISBN-10 | 3-446-28242-4 / 3446282424 |
ISBN-13 | 978-3-446-28242-1 / 9783446282421 |
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