Lauter -  Stephan Roiss

Lauter (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Jung und Jung Verlag
978-3-99027-306-7 (ISBN)
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Leon lebt wie im Rausch, Rausch, sucht Entgrenzung in der Fremde und probt den Aufstand daheim. Bis er von weither zu spät zurückkommt, als seine Mutter stirbt. Selbstvorwürfe quälen ihn, Erinnerungen suchen ihn heim, verbittert zieht er sich zurück. Selbst Vio und Milena, die beiden ungleichen Freundinnen, können daran nichts ändern, und auch nicht, dass ihre gemeinsame Punkband vor einem Durchbruch steht. Als Leon erfährt, dass er Krebs hat, folgt er einer Einladung nach Venedig, wo ihn ein alter Freund in die Kunst der Meditation einführt. Doch die Reise, auf die Leon sich begibt, endet nicht dort, sondern geht weiter, quer durch Italien, bevor er schließlich auf der Vulkaninsel Stromboli landet. Unverhofft findet er sich in einer Welt wieder, in der die Liebe schamlos ist, die Gitarren wieder fiepen und dröhnen und eine Versöhnung mit dem Leben möglich scheint.Lauter ist voller Wut und Hoffnung. Lauter feiert das Leben in Versenkung und Ekstase. Lauter ist der Ruf nach mehr, immer noch mehr, und endlich nach Stille.

1983 in Linz geboren, lebt als freier Autor und Musiker (Äffchen & Craigs, Fang den Berg, MULM, Kassa 4) in Ottensheim und unterwegs. Seine Hörspiele wurden u.a. im SWR, MDR und Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt. Mit seinem ersten Roman Triceratops war Stephan Roiss 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

1983 in Linz geboren, lebt als freier Autor und Musiker (Äffchen & Craigs, Fang den Berg, MULM, Kassa 4) in Ottensheim und unterwegs. Seine Hörspiele wurden u.a. im SWR, MDR und Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt. Mit seinem ersten Roman Triceratops war Stephan Roiss 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 

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Ich sah das leichte Blau des Himmels und das schwere Blau der See, aufgeknöpfte Hemden und hautenge Röcke, balancierte auf dem Malecón zwischen gischtumspülten Felsen und einer vierspurigen Straße, während hoch über mir ein Pelikan in der Luft zu stehen schien, hörte das dumpfe Tuten eines Frachters, das die ganze Bucht erfüllte – und für einen Moment verstummten die kläffenden Hunde.

So lange hatte ich über den Begriff der Seele gelacht, bis in meiner Hand die Hand meiner toten Mutter lag, noch nicht kalt, doch schon zu kühl. Ich strich mit meinem Daumen über ein Netz aus feinen Falten, über das Relief der Venen, die Fingerknöchel, vergilbte Nägel. Die Heizung klackte. Irgendwo knisterte ein Radio. Ich saß an einem weißen Bett, übernächtigt und verschwitzt, drückte diese reglose Hand und bat jemanden um Verzeihung, der nicht mehr da war.

Mein Vater stand am Fenster, mit dem Rücken zu mir. Ich hoffte, dass er weinte, doch ich glaubte es nicht. Nach seinem Anruf hatte ich meine Reise sofort abgebrochen, den Fahrer eines ausgebuchten Busses bestochen, damit er mich im Gang kauern ließ, um so schnell wie möglich von der Schweinebucht zurück nach Havanna zu gelangen, war in Madrid in eine andere Maschine umgestiegen, nach der Landung zum Zug gerannt, ohne auf meinen Koffer zu warten, und hätten nicht an diesem Tag tausende Menschen in der Innenstadt protestiert und das Taxi zu einem Umweg gezwungen, wäre ich vermutlich rechtzeitig gekommen.

Mit sonnengeröteten Schultern stand ich auf dem Platz der Revolution, der riesig war und schattenlos und menschenleer, schloss die Augen und summte eine Melodie in das Diktiergerät. Westlich des Prado zerstampfte man mit Mörser und Schale Malanga für die Säuglinge, knatterte auf blank polierten Mopeds durch schmutzige Straßen, verkaufte den Touristen Eintrittskarten für ein Salsa-Festival, das niemals stattfinden würde. Ein Song von Sepultura lockte mich in eine Bar, ich trank Daiquiri nach Daiquiri auf der Dachterrasse, nichts ahnend vom Durchfall am nächsten Tag, sah den Kleinen Wagen steil gekippt und das W der Kassiopeia als M.

Ich hätte daran denken können, wer mich gelehrt hatte, diese Sternbilder zu sehen. Wer mir gezeigt hatte, wo links ist und wo rechts. Wer mir beigebracht hatte, meinen Namen zu schreiben, die Uhr zu lesen, eine Terz zu treffen. Wer mir mein erstes Instrument geschenkt hatte: ein Glockenspiel mit Klangstäben in den Farben des Regenbogens. Wer mir nach dem Adventkranzsingen demonstriert hatte, dass man mit dem Finger durch die Flamme fahren kann, ohne Schaden zu nehmen. Wer mir geholfen hatte, jedem Stofftier ein Löwenzahnblatt als Krawatte an die Brust zu heften. Wer mir Ronja Räubertochter vorgelesen hatte, bis Wilddruden in den Zimmerecken hockten. Auf der anderen Seite des Atlantiks hatte ich selten an meine Mutter gedacht.

Umschwirrt von Bienen stieg ich hinab in eine Höhle und entdeckte im Schein der Taschenlampe ein Pferdeskelett, ein unterirdisches Rinnsal und Blumen, die kein Sonnenlicht zu brauchen schienen. Ich tagträumte von Ogriden, ebenso schwachsinnigen wie boshaften Kreaturen, die in dieser Dunkelheit hausten, keine Lieder kannten. Als ich wieder ins Freie kletterte, sah ich drei Männer mit ausgefransten Strohhüten ein Ochsengespann antreiben. Sie schrien heisere Befehle und schlugen mit der flachen Hand gegen die Flanken weißer Rinder, die mühten sich über ein Zuckerrohrfeld.

Für mich war der Findling im Pfarrgarten ein Ei gewesen, so alt wie die Welt, und irgendwann würde ein Drache daraus schlüpfen. In meiner Vorstellung brauchte es zwei kräftige Feen, um eine Tafelkreide hochzuheben. Gäbe es keinen Regen, dachte ich, hätten die Fische das Meer längst ausgetrunken. Meine Mutter trocknete mir die Tränen, die ich über die Nüchternheit der Welt vergoss.

Ich sah Steinbrocken aus ziegelroten Äckern ragen und eine Mülldeponie, die kein Ende nehmen wollte. Neben der Fahrbahn brannte das Gras. Der Buslenker wich einer herrenlosen Schafherde aus und den Kratern im Asphalt. Ich fotografierte die fettigen Flecken auf dem Fenster neben mir, Hinterlassenschaften von Reisenden, die ihre Köpfe an das Glas gelehnt hatten, um zu schlafen oder sich mit offenen Augen in die vorbeirauschenden Bambuswälder zu träumen. An der Innenseite der Frontscheibe klebten durchsichtige Saugnäpfe, daran hingen drei verschiedene Wunderbäume und ein Wimpel mit der kubanischen Flagge und eine Miniatur von Ganesha und ein Medaillon mit dem Bildnis der Gottesmutter und purpurrote Bänder mit chinesischen Schriftzeichen. Von den glimmenden Wiesenhängen stiegen Rauchschwaden auf. Über der Mülldeponie kreisten Geier und Krähen.

Der Stern, der mich zum Jesuskind leiten hätte sollen, erlosch. Meine Freunde und ich liefen den Glühwürmchen nach. Wir gerieten zu tief in den Wald und kamen zu spät nach Hause, spielten mit Messer, Gabel, Schere, Feuer, pressten unsere Ohren gegen die Bahnschienen, fanden ein Loch im Zaun des Sägewerks. Die Zeit in der Kirchenbank nutzte ich für rhythmische Übungen, klopfte mit den Fingerspitzen im Sieben-Achtel-Takt gegen meine Kniescheiben, während der Pfarrer hinter dem Altar die Schauhostie zerbrach. Mutter ermahnte mich zu mehr Aufmerksamkeit in der Messe und rügte Vater immer wieder wegen seiner Völlerei, die sich zunehmend in Beschwerden niederschlug. Er wurde von Sodbrennen geplagt, seine Gelenke schmerzten, beim Treppensteigen fehlte ihm die Luft. Eines Tages setzte er sich an den Frühstückstisch, schnaubte belustigt und meinte, er müsse die ganze Nacht auf seinem Arm geschlafen haben, so taub fühle er sich an.

Morgens weckten mich die singenden Händler, die auf Lastenrädern durch die Straßen fuhren und dabei lauthals ihre Waren anpriesen, jeder in seiner eigenen Melodie. Ich trank starken Kaffee auf brüchigen Balkonen, stieg hoch in den Glockenturm, wanderte zur Radiostation am Cerro de la Vigía. Auf den Dächern der Stadt standen bauchige Wasserspeicher, türmten sich Eichhörnchengehege und Terrarien, griffen Bäume ineinander und bildeten schattige Lauben, verwoben sich Kabel und Drähte zu einem chaotischen Gespinst. Während der nächtlichen Stromausfälle lauschte ich dem Donner und den jammernden Katzen, dem Klicken, wenn meine Gastgeberin durch den Perlenvorhang trat.

Als mich Vater zum Umzugswagen trug, plärrte ich so fürchterlich, dass die Nachbarin aus dem Haus gerannt kam. Ich verstand die Welt nicht mehr. Mutter wollte sie mir schönreden. Sie erklärte mir, welche Möglichkeiten uns das Leben in der Stadt bieten würde. Doch von meinem neuen Zimmer aus konnte ich kaum mehr sehen als eine graue Mauer und eine grell erleuchtete Tankstelle, die Leute grüßten nicht, und der Park war kein Wald. Ich wollte weder in einen anderen Fußballverein noch aufs Gymnasium, sondern der linke Flügelflitzer mit der Nummer siebzehn bleiben und mit meinen Freunden in die Hauptschule gehen. Vater versuchte mich mit Geschenken aufzuheitern. Seine dumme Modelleisenbahn konnte er behalten.

Das Blätterdach flimmerte, der Kühlschrank sirrte, ein Eichhörnchen huschte über das Geländer der Veranda. Zwei Ventilatoren halfen die Hitze zu bewältigen und scheuchten die Insekten auf. Ich trank Mineralwasser und Guavensaft, notierte hin und wieder einen Reim, eine Wendung, einen klangvollen Satz, sammelte Material für den Text eines neuen Liedes. Zwei Tische weiter bemühte sich ein Österreicher um eine Kubanerin. Sein Englisch war so tollpatschig, dass ich mehrmals versucht war, ihm das passende Vokabel einzusagen. Sie war eloquent und höflich, stellte gelegentlich eine simple Frage und aß schwarze Bohnen und gelben Reis, während er eine Antwort stammelte. Auf der anderen Straßenseite warteten Menschen in einer langen Schlange neben der Bäckerei, fächelten einander Luft zu, mit Papptellern und bloßen Händen, zeigten beim Lachen weiße Zähne. Die beiden Wachposten vor dem benachbarten Regierungsgebäude trugen Tarnanzüge, schwere Stiefel, goldene Uhren, und schienen bemüht zu sein, gleichermaßen grimmig und lässig dreinzuschauen. It was a pleasure speaking with you, sagte die Frau und schlürfte ihren Mojito aus: Thanks for paying the bill. Die Antwort meines Landsmannes lautete: Please, please, please, lucky you, lucky me, und wurde mir zum Auftaktvers der letzten Strophe.

Vater fluchte über die Borniertheit der Kommission, das feige Kollegium und die generelle Misere der Wissenschaft, als er bei der Vergabe des Lehrstuhls erneut übergangen worden war. Er verließ die Universität, noch bevor sein Vertrag als Assistent ausgelaufen war. Immer öfter entzog er sich Mutters Umarmungen, immer seltener aß er mit uns gemeinsam. Ich stocherte im Gemüsereis, während über die Kellertreppe das Surren der Modelleisenbahn heraufdrang. Allmählich versteiften seine...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Verlagsort Salzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Band • Ekstase • Geschlechterrollen • Gitarre • Graógraman • Italien • Krebs • Männlichkeit • Meditation • Musik • Mutter • Punk • Stille • Stromboli • Tod • Triceratops • Venedig
ISBN-10 3-99027-306-X / 399027306X
ISBN-13 978-3-99027-306-7 / 9783990273067
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