Was der Morgen bringt (eBook)
464 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70466-9 (ISBN)
Eva Ibbotson, 1925 als Maria Charlotte Michelle Wiesner in Wien geboren, 2010 in Newcastle upon Tyne, England gestorben, floh 1933 vor den Nazis aus Österreich. Nach der Trennung ihrer Eltern - ihre Mutter war die Schriftstellerin Anna Gmeyner, ihr Vater der Physiologe Berthold P. Wiesner - wuchs sie in einem Kinderheim auf. Nach Kriegsende studierte sie zunächst Physiologie, später Erziehungswissenschaften und arbeitete dann als Lehrerin. Sie heiratete ihren Kollegen Alan Ibbotson und bekam vier Kinder mit ihm - als das jüngste in die Schule kam, schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. In Das Geheimnis von Bahnsteig 13 erfand sie ein geheimes Gleis im Londoner Bahnhof King's Cross, das J. K. Rowling zu Gleis neundreiviertel inspirierte. Viele von Ibbotsons Romanen, darunter auch mehrere für Erwachsene, waren Bestseller.
Eva Ibbotson, 1925 als Maria Charlotte Michelle Wiesner in Wien geboren, 2010 in Newcastle upon Tyne, England gestorben, floh 1933 vor den Nazis aus Österreich. Nach der Trennung ihrer Eltern – ihre Mutter war die Schriftstellerin Anna Gmeyner, ihr Vater der Physiologe Berthold P. Wiesner – wuchs sie in einem Kinderheim auf. Nach Kriegsende studierte sie zunächst Physiologie, später Erziehungswissenschaften und arbeitete dann als Lehrerin. Sie heiratete ihren Kollegen Alan Ibbotson und bekam vier Kinder mit ihm – als das jüngste in die Schule kam, schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. In Das Geheimnis von Bahnsteig 13 erfand sie ein geheimes Gleis im Londoner Bahnhof King's Cross, das J. K. Rowling zu Gleis neundreiviertel inspirierte. Viele von Ibbotsons Romanen, darunter auch mehrere für Erwachsene, waren Bestseller.
Prolog
Wien war schon immer eine Stadt der Mythen gewesen. Da gab es vor dem Ersten Weltkrieg den alten Kaiser Franz Joseph, der in einer eisernen Bettstatt schlief, nie ein Buch las und jeden Gründonnerstag, einem kirchlichen Ritual folgend, zwölf alten Männern die Füße wusch.
Es bleibe ihm auch nichts erspart, hatte der Kaiser geseufzt – und so war es wahrhaftig. Seine unstet umherreisende neurotische Gattin wurde auf der Uferpromenade in Genf von einem wahnsinnigen Anarchisten niedergestochen und getötet; sein Sohn, Kronprinz Rudolf, erschoss sich und seine Geliebte im Jagdschloss von Mayerling. Lauter tragische Geschehnisse – aber eben der Stoff, aus dem Legenden entstehen, und dem Fremdenverkehr ungeheuer förderlich.
Dies war das Wien, von dem aus die Geschicke des Vielvölkerstaats gelenkt wurden; eine Stadt der Paraden und festlichen Umzüge, in der man jeden Abend im Parkett des Opernhauses die feschesten blau-weiß-silbernen Uniformen sehen konnte, da jeder Offizier im Dienst das Recht hatte, die Aufführungen kostenlos zu besuchen. Es war das Wien der Lipizzaner, der Lieblinge der Stadt, deren Stallungen sich in einem Palais mit einem herrlichen Arkadenhof befanden und die aus dem Totentanz des Krieges ein Pferdeballett machten, während ihnen Männer mit feierlichen Gesichtern und goldenen Schaufeln folgten, um ihre edlen Exkremente aus dem tadellos gerechten Sand zu entfernen.
Diese Ära versank im Blutvergießen und Elend des Ersten Weltkriegs. Doch die Stadt überlebte irgendwie den Tod Franz Josephs, die Abdankung seines Neffen Karl, Österreichs vernichtende Niederlage, den Untergang des Kaiserreichs. Und für die Fremden wurden neue Mythen geboren. An schönen Tagen konnte man ihnen Professor Freud zeigen, der auf der Terrasse des Café Landtmann sein Bier trank. Arnold Schönberg, der Begründer der atonalen Musik, gab Konzerte, die vielleicht nicht verständlich waren, aber zweifellos von Bedeutung, und wenn auch keiner genau wusste, was logischer Positivismus war, so war doch klar, dass die Philosophen, die ihn vertraten, der Stadt Ruhm und Ansehen brachten.
Leonie Bergers Familie lebte seit hundert Jahren in Wien, und sie hatte ihre eigenen Mythen.
»Ich selber bin Professor Freud noch nie im Landtmann begegnet«, sagte sie zu einem interessierten Besucher. »Ich begegne dort immer nur meiner Cousine Fritzi mit ihren verwöhnten Kindern, die zwischen den Tischen herumturnen.«
Leonies Vater, Nachkomme wohlhabender Wollhändler aus dem Mährischen, besaß in der Mariahilfer Straße ein großes Warenhaus, seine Tochter aber hatte einen Akademiker geheiratet. Kurt Berger war schon in den Dreißigern, Dozent an der Universität, als er eines Tages beim Überqueren des Stephansplatzes unter einer Meute gefräßiger Tauben die Verzweiflungsschreie eines jungen Mädchens hörte. Er verscheuchte die gierigen Vögel und stieß auf eine zerkratzte und sehr hübsche Blondine, die sich ihm weinend in die Arme warf.
»Ich wollte es dem heiligen Franz von Assisi nachmachen«, jammerte Leonie, die dem alten Mann, der das Taubenfutter verkaufte, gleich sechs Päckchen Körner abgenommen hatte.
Kurt Berger hatte eigentlich nicht vorgehabt zu heiraten, aber nun heiratete er doch und konnte keinem außer sich selbst einen Vorwurf machen, als er entdeckte, dass Leonie sich sozusagen niemals mit einem Tütchen Körner zufriedengeben würde, wenn es auch sechs sein konnten.
Leonie vergötterte ihren Mann, der erst eine Professur für Wirbeltierkunde erhielt, dann Direktor des Naturhistorischen Museums und schließlich Hofrat wurde. Mit der Präzision eines Toscanini dirigierte sie seinen Tagesablauf, reichte ihm, wenn er morgens um acht aus dem Haus ging, eigenhändig seine Aktentasche und den Schirm mit dem silbernen Griff, ließ ihm innerhalb von fünf Minuten nach seiner Rückkehr das Mittagessen servieren und ermahnte die Angestellten zur Ruhe, während er sein Mittagsschläfchen hielt. Sie wusste über die Menge an Stärke in seinen Hemdkrägen so genau Bescheid wie über seinen täglichen Stuhlgang; sie wimmelte aufdringliche Studenten ab und brachte ihm in einer silbernen Flasche sein bevorzugtes Mineralwasser in ihre Opernloge. Und das alles hinderte sie nicht daran, auch noch an den Krankheiten, Geburtstagen und Liebesgeschichten unzähliger Verwandter Anteil zu nehmen, sie zu bewirten, zu besuchen, ihnen unter die Arme zu greifen.
Die Bergers wohnten in der Innenstadt, in der Beletage eines großen Mietshauses mit einem Hof, in dessen Mitte eine Kastanie stand. Die betagte Mutter des Professors war in zwei der zwölf Zimmer untergebracht; und auch seine unverheiratete Schwester Hilda, eine Anthropologin, deren Spezialgebiet die Verwandtschaftssysteme der Mi-Mi in Betschuanaland waren, hatte ihre eigenen Räume. Leonies Onkel Mishak, ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einer romantischen Vergangenheit, wohnte im Mezzanin. Aber sie wären natürlich keine echten Wiener gewesen, wären sie nicht am letzten Tag des Semesters in die Berge gereist. Die Kronländer des alten Habsburgerreichs hatte man den Österreichern ja gelassen: Tirol, Kärnten, die Steiermark – und das regenreiche Salzkammergut, wo die Bergers an einem tiefen grünen See, dem Grundlsee, ein Holzhaus besaßen.
Die Vorbereitungen für das »einfache Leben«, das man dort führte, kosteten Leonie wochenlange Planung. Schließkörbe wurden aus dem Keller heraufgeschleppt und mit Steingut und Porzellan, mit Federbetten und Wäsche gefüllt. Stadtkleidung wurde eingemottet; Dirndlkleider wurden gewaschen, Lodenmäntel und Tirolerhüte herausgeholt und die Dienstmädchen mit dem Zug vorausgeschickt.
Dort, auf der Veranda am Wasser, schrieb der Professor an seinem Buch Die Evolution des fossilen Gehirns, Hilda verfasste ihre Aufsätze für die Anthropologische Gesellschaft, und Onkel Mishak angelte. An den Nachmittagen jedoch kam das Vergnügen zu seinem Recht. Von Freunden, Verwandten und Studenten begleitet, die zu Besuch kamen, unternahm man Ruderausflüge zu unwirtlichen Inseln oder wanderte unter ekstatischen Ausrufen wie »Oh! Alpenrosen!« und »Ah! Enzian!« durch Blumenwiesen. Da am See auch jede Menge Ärzte, Juristen, Theologen und Streichquartette ihre Häuser hatten, ergaben sich von Blumengruppe zu Blumengruppe oft hochgeistige Gespräche. Man wurde von Mücken gestochen, zog sich an den Badehütten Splitter in die nackten Füße, färbte sich mit Heidelbeeren die Zähne blau, und jeden Abend versammelte man sich, um behaglich zuzusehen, wie die Sonne hinter den schneebedeckten Gipfeln versank.
Am letzten Augusttag wurden dann die Dirndl weggehängt, die Körbe wieder gepackt – und man kehrte pünktlich zur neuen Spielzeit des Burgtheaters und der Oper und zum Beginn des Wintersemesters nach Wien zurück.
In diese vom Glück gesegnete Familie wurde – als der Professor bereits auf die vierzig zuging und seine Frau alle Hoffnung auf ein Kind aufgegeben hatte – eine Tochter geboren, die man Ruth taufte.
Das Kind, das von Wiens renommiertestem Gynäkologen zur Welt gebracht wurde, zog Scharen von Doktoren, Professoren, Universitätshonoratioren und Laureaten an, die ihm ihre Aufwartung machten, mit Gelehrtenfingern sein Köpfchen streichelten und nicht selten Goethe deklamierten.
Trotz dieses Aufmarschs an Intelligenz ließ Leonie ihre alte Kinderfrau aus Vorarlberg rufen. Sie kam mit der hölzernen Wiege, die schon seit Generationen in der Familie war, und der Säugling lag nun im Hof unter dem Kastanienbaum, eingelullt vom Klang der süßen und albernen Liedchen von Rosen und Nelken und Schäfern, die die Kinder vom Land mit der Muttermilch einsaugen. Anfangs schien es, als würde sich Ruth zu genau so einer kleinen Gänseliesel entwickeln. Ihr Haar, als es endlich zu wachsen begann, hatte die Farbe des Sonnenlichts; ihre Stupsnase zog Sommersprossen an; ihr Lächeln war strahlend und süß. Aber keine Gänsemagd umklammerte je die Seiten ihres Bettchens mit solch energischer Entschlossenheit; keine Gänseliesel hatte so wissbegierige, lebenshungrige dunkelbraune Augen.
»Ein Milchmädchen mit den Augen der Nofretete«, sagte ein angesehener Ägyptologe, der zum Abendessen kam.
Sie unterhielt sich für ihr Leben gern, sie musste alles wissen; sie war ein kleiner Tausendsassa und überzeugt, sie könnte die ganze Welt in Ordnung bringen.
»Solche Wörter sollte sie aber noch nicht kennen!«, sagten Leonies Freundinnen schockiert.
Doch die Wörter hatten es Ruth angetan. Und das Wissen.
Der Professor, ein großer, patriarchalisch wirkender Mann mit grauem Bart, an die Bewunderung seiner Studenten gewöhnt, führte sie selbst durch das Naturhistorische Museum, wo er seine eigenen Räume hatte. Mit sechs war sie mit den Mühen und Komplikationen, die mit der Paarung einhergehen, bereits bestens vertraut.
»Ein bisschen traurig ist das schon, oder?«, sagte sie, während sie an der Hand ihres Vaters die eingeglasten Spinnen betrachtete, die ihren Männchen die Köpfe abbissen, um die Befruchtung zu beschleunigen.
Von der weltfremden Tante Hilda, die es fertigbrachte, morgens ihren Rock verkehrt herum anzuziehen und so in die Universität zu gehen, lernte Ruth den Wert der Toleranz.
»Man darf fremde Kulturen nicht an den Maßstäben der eigenen Kultur messen«, sagte Tante Hilda, die an einer Monographie über ihre geliebten Mi-Mi schrieb – und Ruth akzeptierte schnell, dass es bei gewissen Stämmen eben zum Ritual gehörte, die Großmutter zu verspeisen.
Die Forschungsassistenten und Hilfskräfte der Universität kannten sie so gut wie die Präparatoren im...
Erscheint lt. Verlag | 25.1.2024 |
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Übersetzer | Mechtild Ciletti |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Drittes Reich • England • Exil • Flucht • Großbritannien • Hitler • Judentum • London • Nationalsozialismus • Österreich • Scheinehe • Wien • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-311-70466-5 / 3311704665 |
ISBN-13 | 978-3-311-70466-9 / 9783311704669 |
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