Lass uns noch mal los (eBook)

Roman | Susanne Matthiessen erzählt von den Frauen ihrer Generation - rasant, rebellisch und tiefschwarz komisch.
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2024 | 1. Auflage
336 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3169-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lass uns noch mal los -  Susanne Matthiessen
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»Zusammen wohnen, zusammen leben, zusammen feiern. Jetzt sind wir sogar zusammen alt geworden!«  In den Achtzigern flohen Susanne und ihre Freundinnen nach Berlin Kreuzberg, um dem spießigen Westdeutschland mit seinen Kleinfamilien und Kiesauffahrten zu entkommen. Vierzig Jahre später sitzen sie in der Abendsonne bei einem Glas Wein zusammen und erkennen ihr Viertel kaum wieder. Ihr buntes Leben wird von Reichtum, Müll und Touristenströmen erdrückt. Entschlossen starten die Heldinnen von damals eine neue Revolution. Ganz wörtlich 'von unten'. Ein aufrüttelnder Roman über Mut, Zuversicht und Zusammenhalt in einer sich verändernden Welt. 'Susanne Matthiessen ist die geborene Erzählerin. Man könnte ihr einfach ewig zuhören.' WDR5

Susanne Matthiessen, Jahrgang 1963, ist gebürtige Sylterin. Als Journalistin verarbeitet sie gesellschaftspolitische Entwicklungen zu Programmideen für Radio, Fernsehen und Internet. 15 Jahre lang war sie Kolumnenschreiberin für die Sylter Rundschau. Ihr Debüt Ozelot und Friesennerz. Roman einer Sylter Kindheit wurde auf Anhieb ein Bestseller. Susanne Matthiessen lebt gern in Berlin, lebt aber nur am Meer richtig auf.

Susanne Matthiessen, Jahrgang 1963, lebt schon lange in Berlin. Sie verarbeitet gesellschaftspolitische Entwicklungen zu Programmideen für Radio, Fernsehen und Internet. Ihre Romane Ozelot und Friesennerz und Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehn sind Bestseller. Als gebürtige Sylterin hat sich Susanne Matthiessen in Berlin-Kreuzberg auf Anhieb wohlgefühlt – verhaltensauffällige Charaktere auf umgrenztem Platz kannte sie schließlich schon von zu Hause.

prolog


zufall

Die Fahrt auf der Transitstrecke durch die DDR war öde. Alles grau in grau. Der Himmel voller Asche. Die Straßendecke sah aus wie alter Senf. Die paar Häuser und Gehöfte in weiter Ferne machten den Eindruck, als hätte man sie einfach nur mit Schlamm verputzt. Auf den Feldern lag Staub. Ganz so eintönig hatte ich mir die DDR nicht vorgestellt. Aber man hatte wohl kaum extra für meine Durchfahrt die Szenerie eingerußt. Die einzigen Farbtupfer hingen an den Brücken, die wir in regelmäßigen Abständen in unserem Auto passierten. Es waren Werbeschilder wie aus einer Filmkulisse. »Freiheit und Sozialismus« stand da. Und »Je stärker der Sozialismus, desto stärker der Frieden«. »Textilkombinat« irgendwas. Der Rest war nicht mehr lesbar. Der Rest war ein Festival aus Grautönen.

Guido und ich waren relativ spät losgekommen in Kiel. Erst gegen fünf am Abend hielt sein Golf GTI mit Krawall vor der Haustür. Er war der Sohn meiner Nachbarin, wohnte immer noch in seinem Kinderzimmer und arbeitete in einer Autowerkstatt. Seine Mutter hatte ihn dazu überredet, mich durch die Zone zu eskortieren und nach West-Berlin mitzunehmen. Ich wollte erst nicht, weil mir dieser Mann in seinem ölverschmierten Blaumann, den er niemals auszuziehen schien, schon immer unheimlich war. Er war viel älter als ich, bestimmt schon dreißig. Guido war eine massige Erscheinung mit eng stehenden Augen und enorm großen Zähnen wie weiße Legosteine. Er bekam deshalb seinen Mund nicht zu und sah immer so aus, als wollte er etwas sagen. Doch da war nie ein Wort.

»Nimm doch die liebe Susanne bitte mit«, setzte sich seine Mutter für mich ein. »Hörst du? Nimm sie bitte in deinem Wagen mit.« Ich zweifelte kurz daran, ob ich mich in ein Auto setzen sollte, das jemand fuhr, der von seiner Mutter wie ein Kleinkind behandelt wurde. Aber für mich bot sich eine kostenlose Mitfahrgelegenheit.

»Guido«, sagte seine Mutter mit warnender Stimme, »muss ich erst …« Guido sah uns beide an, die Augen voller Schrecken. Er hob seine schmutzigen Hände, als würde er beten, und trat zwei Schritte zurück. Seine Mutter und ich werteten das als Zustimmung. Guido wollte nach West-Berlin, um sich Ersatzteile für seinen alten Käfer Baujahr 65 zu besorgen, und ich hatte dort einen Job zu erledigen, einen Spezialauftrag, ich hatte einen Test zu bestehen. Man konnte es auch meine letzte Chance nennen.

Ich hatte vor ein paar Wochen vor der Auswahlkommission des Norddeutschen Rundfunks versagt. Die letzte Möglichkeit, noch einen Ausbildungsplatz als Volontärin beim NDR zu ergattern, um Radiojournalistin zu werden, war diese Berlinreise. Ich sollte zeigen, dass ich als Reporterin etwas besonders Eindrucksvolles zuwege brachte. Ich sollte Talent beweisen und so den schlechten Eindruck, den die Kommission von mir gewonnen hatte, korrigieren.

Das lange Wochenende zum 1. Mai stand bevor. Außerdem fanden dieses Jahr anlässlich des glanzvollen Stadtjubiläums »750 Jahre Berlin« viele verschiedene Festivitäten und unterschiedliche Veranstaltungen statt, und der NDR schickte mich in die Frontstadt, genauer in die Messehallen am Funkturm, um von einem ganz besonderen Ereignis zu berichten: der Internationalen Rassehundeschau, der größten ihrer Art. Da auch viele norddeutsche Züchter dabei waren, galt es für mich jetzt, sie – und ihre Hunde – zu porträtieren.

Der Auftrag war, wie gesagt, meine letzte Chance. Mein Bewerbungsgespräch für den Ausbildungsplatz war schiefgegangen. Hunderte hatten sich beworben, ich gehörte zu den wenigen Prozent, die es bis in die letzte Runde geschafft hatten. Aber dann … Jedes Mal, wenn ich an dieses Tribunal dachte, kamen mir die Tränen. Tränen der Scham.

»Junge Dame, setzen Sie sich doch«, hatte der Ausschussvorsitzende gesagt. Mit blonder Föhnwelle frisch vom Friseur grüßte ich höflich und nahm den einzigen leeren Stuhl. Vor mir ein Resopaltisch. Mir gegenüber in einiger Entfernung drei Männer in dunklen Anzügen an einer langen Tafel. Sie blätterten in Unterlagen. Der Raum war rundum mit schwarzem Holz vertäfelt. Wäre keine Klinke an der Tür gewesen, man hätte nie wieder herausgefunden.

»Soso. Sie wollen also eine Redakteursausbildung durchlaufen beim Norddeutschen Rundfunk.«

»Ja, sehr gerne«, sagte ich. »Das ist auf jeden Fall, was ich will.« Seitdem ich mich als Zwölfjährige für Wolf-Dieter Stubels »NDR 2 Plattenkiste« beworben hatte und dann auch eingeladen worden war und ganz Norddeutschland eine Stunde lang meine Musik vorspielen durfte, wollte ich zum Radio, unbedingt. Einfach alles hatte mir gefallen. Die Technik, die Leute, die Büros, die Kantine, die lockere Atmosphäre, das Studio …

Doch das Gespräch mit den Männern in der Kommission fühlte sich alles andere als locker an. Nach den üblichen Fragen zu Schulausbildung, Studienabschluss, praktischen Erfahrungen, Elternhaus und Lebenszielen folgten »ein paar Fragen zur Persönlichkeitsstruktur«, wie der Vorsitzende ankündigte.

»Sie sind jetzt vierundzwanzig. Wollen Sie Kinder?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Leben Sie in einer festen Beziehung?«

»Nein.«

»Wo müssen wir Sie politisch einordnen?«

»Ich bin in keiner Partei, wenn Sie das meinen.«

Der Mann ganz links mit der dicken Brille schaltete sich ein. »Sie treten hier sehr burschikos auf, junge Dame. Als Hobby geben Sie Motorradfahren an. Tragen Sie eigentlich auch mal Kleider und Röcke? Sie haben doch eine ganz passable Figur. Nagellack? Lippenstift?«

Und der Vorsitzende ergänzte: »Als NDR-Mitarbeiterin sind Sie immerhin ein Aushängeschild des Senders.«

Ich fühlte mich unwohl und starrte auf meine Hände, die vor mir auf dem Tisch lagen. Wie könnte ich jetzt noch den Eindruck verwischen, ich sei keine richtige Frau? Mein grauer Hosenanzug war wohl nicht die beste Wahl.

»Manchmal trage ich ein Kleid«, sagte ich nicht wahrheitsgemäß.

»Keine Sorge, wir sind pluralistisch«, sagte dann der Vorsitzende, lachte laut auf und nickte links und rechts den anderen Herren zu, »wir haben hier auch ein paar Paradiesvögel im Haus, nicht wahr?« Die Männer schnarrten amüsiert, und einer kicherte sogar.

»Aber zurück zu Ihnen, junge Dame. Wir machen hier natürlich auch Frauenförderung. Wir sind fortschrittlich.« Die anderen nickten beflissen.

Der mit der dicken Brille hielt eine Arbeitsprobe hoch, die ich vorher eingereicht hatte, einen Artikel in einem Stadtmagazin über Bodybuilderinnen. »Sie suchen sich ja merkwürdige Themen aus. Haben Sie den Artikel selbst geschrieben?«

»Ja, natürlich. Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte ich verunsichert. Ich fühlte mich zunehmend unwohl. »Machen Sie sich über mich lustig?«

»Oh nein, natürlich nicht«, sagte der Ausschussvorsitzende. »Sind Sie etwa empfindlich? Sie wirken so selbstbewusst.«

Dann wurde mir ein Leserbrief der linksalternativen Zeitung taz aus dem November 1986 vorgelesen. Das war drei, vier Monate her. Darin schrieb jemand, dass der Mord an Gerold von Braunmühl konsequent gewesen sei. Im Sinne des Systemwiderstands. Der Schlusssatz lautete: »Die Jagdsaison ist noch nicht vorbei.«

Der Vorsitzende räusperte sich und wurde ernst: »Was sagen Sie dazu? Darf man so etwas veröffentlichen?«

Darauf wusste ich erst mal keine Antwort. Gerold von Braunmühl, ein enger Berater von Außenminister Genscher, war beim Aussteigen aus seinem Auto erschossen worden. Dazu bekannt hatte sich das »Kommando Ingrid Schubert«, offenbar aus dem Umfeld der RAF. Die Zeitungen waren immer noch voll davon.

Ich kniff die Augen zusammen, und mir wurde heiß. Vollkommen klar, dass hier meine Staatstreue abgefragt werden sollte. Aber so simpel konnte es ja nicht sein. Ich dachte an meine Politikkurse in der Uni, erinnerte mich an mein Seminar in Medientheorie.

»Das berührt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit«, sagte ich dann leicht stotternd, »und die Informationsfreiheit, also dass man sich von überallher informieren darf«, hängte ich noch schnell dran. Dann versuchte ich, alles in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. »Und andererseits gilt bei uns die Pressefreiheit wegen des Pluralismus. Sie erwähnten es bereits«, bemühte ich mich um eine einigermaßen stabile Einordnung. »Also kurz gesagt: Auch extremere Ansichten sind von Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gedeckt. Und die taz ist ja nun extra dafür gegründet worden, auch extremere Meinungen zu veröffentlichen, die nicht so auf Linie liegen.«

Es war auf einmal sehr still im Raum. Die Männer wirkten, als hätte das »Kommando Ingrid Schubert« soeben höchstpersönlich den Raum gestürmt, sie saßen schockiert auf ihren Sesseln, und ich wusste sofort, dass das mit meiner Bewerbung schiefgegangen war. Mir wurde schlecht. In beiden Ohren setzte ein Pfeifton ein, den ich vom Fernsehen her kannte: Sendeschluss. Ich bildete mir sogar ein, das dadaistische Testbild zu sehen. Es...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 80er • Achtzigerjahre • Babyboomer • Berlin • Boomer • Bude • Demo • Emanzipation • Feminismus • Frau • Frauen • Freundin • Freundinnen • Friedensbewegung • Generation • Geschenk • Geschlechterverhältnis • Gesellschaftsroman • Humoristisch • Klimawandel • Kreuzberg • Rechte • Rente
ISBN-10 3-8437-3169-1 / 3843731691
ISBN-13 978-3-8437-3169-0 / 9783843731690
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