Das Haus am Gordon Place (eBook)
384 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-30381-5 (ISBN)
Wien, 1948: Daphne Parson, eine britische MI6-Agentin, arbeitet in einem Abhörtunnel unterhalb der geteilten Stadt. Um unbemerkt in den sowjetischen Sektor Wiens zu gelangen, schließt sie sich einer Filmcrew an. Eine Mission, die tödliche Konsequenzen hat.
London, 2024: Der Historiker Professor Hunt lebt in Daphne Parsons ehemaliger Wohnung am Gordon Place. Als hier ein Mord geschieht, beginnt für Hunt eine verstörende Reise in die Vergangenheit.
Ein verwobenes Spiel auf mehreren Zeitebenen, basierend auf wahren Begebenheiten.
Karina Urbach ist eine habilitierte Historikerin und Autorin. Sie unterrichtete an deutschen und britischen Universitäten und forschte am Institute for Advanced Study, Princeton. Urbach war an zahlreichen historischen Dokumentationen der BBC und des ZDF beteiligt. Ihre wichtigsten Sachbücher sind Hitlers heimliche Helfer, Queen Victoria und Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten. Es wurde in sieben Sprachen übersetzt und war Grundlage einer preisgekrönten ARTE-Dokumentation. Karina Urbachs Roman über eine authentische Spionagegruppe, Cambridge 5 - Zeit der Verräter, den sie unter dem Pseudonym Hannah Coler veröffentlichte, wurde 2018 mit dem Crime Cologne Award ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie im englischen Cambridge.
4
Gordon Place
London
29. Februar
Hunt stieg mit seinem Rollkoffer an der U-Bahn-Station South Kensington aus. Seine Wohnung lag am Gordon Place, nicht weit vom Victoria and Albert Museum. Es war Donnerstagvormittag und Touristenhorden zogen an ihm vorbei in Richtung der Museumslandschaft Albertopolis. Hunt bezweifelte, dass Bildungshunger sie antrieb. Seiner Ansicht nach verbrachten diese Leute die meiste Zeit im Museumsshop und kauften scheußliche Souvenirs, mit denen sie dann ihre Wohnungen zupflasterten.
South Kensington und Chelsea gehörten zu den teuersten Gemeinden Londons. Hier lebten Leute wie die Beckhams und Elton John. Hunt hatte neulich irgendwo die Prognose gelesen, dass Kinder, die hier geboren wurden, eine Lebenserwartung von zweiundneunzig Jahren hatten. Ihre reichen Eltern konnten sich die beste Krankenversicherung und die gesündeste Ernährung für sie leisten. Anders sah die Prognose für die Kinder im Norden von Kensington aus. Dort lagen die Sozialbaublocks. Der berühmteste von ihnen, Grenfell Tower, war 2017 abgebrannt und hatte zweiundsiebzig Menschen das Leben gekostet. Hunt hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er an diesen Tag dachte. Er hatte damals die Rauchwolke gesehen und einfach nur das Fenster zugemacht.
Er überquerte die Ampel und rollte seinen Koffer Richtung Gordon Place. Sein Zuhause war Teil eines architektonischen Juwels. In den 1820er-Jahren hatte man vierzig weiße Stuckhäuser in einem Quadrat um einen Park gebaut und sie nach dem Earl von Gordon benannt.
Am oberen Ende des Quadrats prunkte eine Kirche, St. Paul’s. Sie war das einzige unattraktive Gebäude am Gordon Place. Obwohl er seit Jahren hier lebte, hatte Hunt die Kirche noch nie betreten. Das lag nicht nur an ihrer düsteren Ästhetik, sondern weil sie ihn an seine Internatszeit erinnerte. Jeden Morgen mussten sie damals zum Frühgottesdienst in der eiskalten Schulkapelle antreten, selbst wenn man sich die Seele aus dem Leib hustete. Seitdem hatte er Probleme mit der anglikanischen Kirche.
Hunt würdigte St. Paul’s keines Blickes und ging auf den kleinen Park zu. Er zog seine Chipkarte aus der Tasche und öffnete das Parktor. Nur die Bewohner von Gordon Place hatten Zugang zu dieser privaten Gartenanlage mit ihren hohen, alten Bäumen und den klassischen Holzbänken. Es war eine perfekte gepflegte Oase inmitten der hektischen Stadt. Öffentliche Gartenanlagen in London hatten endlose Müllprobleme, aber im kleinen Privatpark von Gordon Place herrschte Ordnung. Selbst wenn die reichen Teenagerkinder hier ihre Partys feierten und leere Flaschen auf dem Rasen zurückließen, musste man sich keine Sorgen machen. Am nächsten Tag brachten die Gärtner alles wieder in einen perfekten Zustand.
Hunt hatte die Wohnung 2015 von seiner Ex-Freundin Jenny Green geerbt. Zuerst hatte er die Sache für einen Scherz gehalten. Sie waren seit Jahren zerstritten gewesen und er hatte nie etwas von der Existenz dieser Wohnung gewusst. Jenny hatte genau wie er in Cambridge unterrichtet und dort nur ein paar Straßen von ihm entfernt gewohnt. Erst nach ihrem Tod hatte Hunt erfahren, dass sie ein zweites geheimes Leben in London geführt hatte.
Der Weg durch den Park war eine kleine Abkürzung für Hunt. Seine Wohnung lag im letzten Stuckhaus, der Nummer 30. Als er 2015 zum ersten Mal davorstand, erinnerte es ihn sofort an die alte Fernsehserie Das Haus am Eaton Place. Zwar befand sich das reale Eaton Place in einer völlig anderen Gegend Londons, aber die Häuser ähnelten sich vom Stil her. Die großen weißen Säulen vor den schwarzen Eingangstüren sorgten dafür, dass die Gebäude Selbstbewusstsein und Wohlstand ausstrahlten. Wenn man vor der Nr. 30 stand, erwartete man fast, dass der Fernsehbutler Hudson die Tür öffnete und den Gästen Hut und Mantel abnahm. Wahrscheinlich hatte es früher wirklich einen Butler in der Nr. 30 gegeben, aber nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Niedergang eingesetzt. In den 1920er-Jahren war das Haus in sieben Wohnungen aufgeteilt worden. South Kensington galt damals als eine heruntergekommene Gegend und erst in den 1980er-Jahren sollte sich das wieder ändern. Mittlerweile kosteten die Wohnungen am Gordon Place zwei bis drei Millionen Pfund.
Hunt zog seinen Koffer gerade die Eingangsstufen hinauf, als die schwarze Haustür von Clarissa Barclay, seiner Nachbarin aus dem ersten Stock, aufgerissen wurde. Sie versuchte, eine große Traube Luftballons mit der Aufschrift HAPPY BIRTHDAY BOYS! unbeschadet durch den Türrahmen zu manövrieren.
»Professor Hunt! Ich dachte Sie machen Amerikaurlaub! Sind Sie wegen dem armen Gerald zurückgekommen?«
Clarissas Sätze hatten immer einen leicht ironischen Unterton. Selbst jetzt, wenn es um einen Todesfall ging, klang sie amüsiert. Hunt nahm an, dass Clarissa eines dieser teuren Mädcheninternate besucht hatte, auf denen man den Schülerinnen beibrachte, nichts im Leben wirklich ernst zu nehmen.
»Ja, ich musste wegen Gerald zurückkommen. Aus irgendeinem verrückten Grund starb er in meiner Wohnung.«
»Rücksichtslos von ihm«, lachte Clarissa, »nein, im Ernst. Es ist furchtbar, furchtbar, furchtbar! All diese Leute in weißen Overalls stapften gestern durchs Haus und stellten Fragen. Meine Jungens waren gar nicht mehr zu beruhigen!«
Clarissa hatte sechsjährige Zwillinge, und Hunt war überzeugt, dass deren Hyperaktivität in erster Linie an einem schweren Zuckerüberschuss lag. Ständig sah er sie Süßigkeiten mampfen.
»Ich bin sicher, es wird sich alles schnell aufklären«, sagte Hunt.
»Glauben Sie? Also, ich habe Simon schon vorgewarnt, wenn sich hier im Haus die Mörder rumtreiben, ziehen wir SOFORT zu ihm nach Hongkong! Er war IN PANIK!«
Clarissa lachte so laut, dass sie beinahe ihre Luftballons losgelassen hätte. Hunt konnte sich nur noch dunkel an ihren Ehemann Simon erinnern. Er arbeitete für irgendeine Bank in Hongkong und besuchte die Familie nur alle paar Monate. Verübeln konnte man es ihm nicht. Mit den wilden Zwillingen eine Wohnung zu teilen war in Hunts Augen lebensverkürzend. Trotzdem verstand er Simons Abwesenheiten nicht ganz. Eine attraktive Frau wie Clarissa so lange allein zu lassen erschien ihm als ein strategischer Fehler.
»Wissen Sie, ob diese Overallmänner in meiner Wohnung schon fertig sind, Clarissa?«
»Oh ja, das ging am Ende zack, zack, zack. Jetzt wartet wohl nur noch diese Polizistin auf Sie. Emma irgendwas.«
»Spencer?«
»So was in der Art. Sie hat mich noch nicht befragt, aber ich zittere schon. Von Weitem sieht sie aus wie das head girl in meiner Schule. UNERBITTLICH STRENG.«
Hunt nickte. Emma Spencer war ein Albtraum.
»Möchten Sie einen der roten Ballons, Professor Hunt? Ihre Wohnung braucht doch jetzt dringend etwas Farbe.«
Hunt winkte ab und rollte seinen Koffer durch die Eingangshalle zum Aufzug. Jedes Mal, wenn er das Haus betrat, überkam ihn ein wohliges Gefühl von Luxus. Die große Eingangshalle erinnerte ein wenig an eine elegante Hotellobby. Sie war mit einem dicken dunkelblauen Teppich ausgelegt, der vom Hausmeister Mr. Carr zweimal am Tag gestaubsaugt wurde. Aber am meisten gefiel Hunt der alte Aufzug. Er war in den 1920er-Jahren eingebaut worden und seine Wartung kostete die Hausbewohner ein Vermögen. Damit sich die Kosten auch rentierten, nahm Hunt den Aufzug öfter. Für seine Kondition wäre es sicher besser gewesen, die Treppen zu steigen, aber nicht einmal sein Arzt hätte nach diesem anstrengenden Reisemarathon von ihm verlangen können, einen schweren Rollkoffer drei Stockwerke hochzuschleppen. Darüber hinaus musste er sich mental auf das Wiedersehen mit Emma Spencer vorbereiten. Es würde mit Sicherheit unangenehm werden.
Als die Aufzugstür im dritten Stock aufging, sah er, dass Emma Spencer gerade den Türrahmen seiner Wohnung vermaß. Hunt spürte, wie Wut in ihm aufstieg, diese Frau schien seine Wohnung so gut wie gehijackt zu haben. Bevor er etwas sagen konnte, lächelte sie ihn an.
»Eben kam ein Anruf. Ihre neue Küche wird heute noch geliefert. Ich habe es ausgemessen, der Kühlschrank wird problemlos durch die Tür passen. Und Ihr Badezimmer ist schon fertig. Der Rest der Möbel kommt morgen zurück.«
Hunt verstand nicht, warum sie auf einmal so freundlich zu ihm war. Es passte nicht zu der Emma Spencer, die er in New York erlebt hatte. Er rollte wortlos seinen Koffer an ihr vorbei in die Wohnung. Es roch anders als sonst. Nach starken Desinfektionsmitteln. Er war kein Mann, der viel Ahnung vom Putzen hatte, aber selbst ihm fiel auf, dass die Wohnung professionell gesäubert worden war.
»Ich beneide Sie um diese Wohnung!«, sagte Emma. Sie schien bester Laune zu sein. Hunt fragte sich, ob so »Tatortbegehungen« durchgeführt wurden. Er warf ihr einen sarkastischen Blick zu.
»Sie beneiden mich um eine Wohnung, in der jemand ermordet wurde? Ich glaube, der Verkaufswert ist damit drastisch gesunken.«
»Machen Sie sich da keine Sorgen. Wir halten das aus der Presse raus. Wir haben dafür eine DSMA-Notice bekommen.«
»Eine was?«, fragte Hunt irritiert.
»Früher hieß das D-Notice. Sie unterbindet die Medienberichterstattung bei Fällen, die nachrichtendienstliche Ermittlungen betreffen.«
»Das ist doch alles völlig verrückt«, murmelte Hunt. Er blickte sich um. Teile des Wohnzimmers waren mit Planen abgedeckt.
»Ich kann hier nicht wohnen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • 50er Jahre • abhörtunnel • Agententhriller • Besatzungsmächte • Britischer Geheimdienst • Cambridge • daphne park • eBooks • England • Geheimoperation • Heimatkrimi • Historische Kriminalromane • Krimi • Kriminalromane • Krimis • London • MI6 • Nachkriegszeit • Neuerscheinung • Österreich • Preisgekrönte Autorin • Spionage • Spionin • Thriller • Untergrund • Wien • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-30381-8 / 3641303818 |
ISBN-13 | 978-3-641-30381-5 / 9783641303815 |
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