Die Farbe des Feuers (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3504-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Farbe des Feuers -  Jakob Augstein
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»Jakob Augstein ist angekommen in der Literatur.« Die Zeit.

Ein vornehmes Haus im Süden, zwei Frauen, die sich lieben und ein Fest, auf dem kein Segen liegt: Auf dem Anwesen einer Industriellenfamilie in der Provence wird die Hochzeit der Tochter Rebecca vorbereitet. Wehmütig macht sich ihre Freundin Swann auf den Weg nach Südfrankreich. Swann liebt Rebecca, die Gabriel heiratet, der wiederum nur seine Kunst liebt, aber immerhin adelig ist. Und dann ist da noch Sami. Auch er liebt Rebecca. Aber er ist nur der Gärtner und ein Muslim. Ausgerechnet jetzt hat es ihn nach Paris verschlagen, und während sein Orangengarten zur Bühne einer Hochzeit wird, die nicht sein sollte, blickt er vom Dach der Kathedrale Notre-Dame hinab auf eine Welt der Sünde.

In seinem neuen Roman erzählt Jakob Augstein von der Liebe in Zeiten der Ungewissheit, der Wut der Unsichtbaren und der Schönheit der Natur als letzter Zuflucht. Ein großer Familien- und Gesellschaftsroman vor dem Hintergrund der lichten Landschaft der südlichen Provence.



Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. 2022 erschien sein Romandebüt, »Strömung«, über den die ZEIT schrieb: »Jakob Augstein ist angekommen in der Literatur.«

Paris


Es war am frühen Morgen des elften Aprils im Jahr des Herrn 2019, als sie eilig die Treppen hinuntersprang. Sie warf das rote Tor hinter sich zu, wich geschickt der grünen Abfalltonne aus, die links neben dem Eingang stand, und rannte die schmale Straße hinunter. Sie befand sich mitten in Paris, aber um diese Zeit waren nur wenige Menschen unterwegs. Das Pflaster war noch nass. Zwei alte Leute blieben stehen und blickten ihr nach, so wie alte Leute einem Schulkind hinterherblicken, vielleicht, um sich zu ärgern, vielleicht, um sich zu erinnern.

Sie bog nach rechts in die Rue Saint-Bon ab, die sie mochte, weil sie so schmal war, eigentlich keine richtige Straße, sondern eine Gasse. Wie jeden Morgen streckte sie ihre Arme nach rechts und links und prüfte, ob sie so schon die Wände der gegenüberliegenden Fassaden berühren konnte. Noch fehlte ein kleines Stück. Nach dem Sommer, dachte sie, spätestens im nächsten Jahr! Dann kam sie zu der Treppe mit den sieben Stufen, die sie mit einem Satz hinunterzuspringen pflegte, wobei die siebte Stufe nicht richtig zählte, weil sie nur halb so hoch war wie die anderen. Sie nahm ihren üblichen Anlauf, schaffte heute aber nur sechs Stufen, landete auf der siebten, rutschte ab und verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte und blieb einen Moment atemlos auf dem Rücken liegen. Der Himmel über der Stadt war heute von einem besonders strahlenden Blau.

Sie raffte sich wieder auf und lief weiter zu den Brücken, die auf die Île de la Cité führen. Victor Hugo schreibt über diese Insel, sie habe die Form einer Wiege, aber eigentlich wird sie von zwei Armen der Seine gehalten, als sei sie das Kind. Entlang der westlichen Seite der Rue d’Arcole erstrecken sich die hohen Mauern, die vergitterten Fenster und die blauen Stahltore des Hôpital Hôtel-Dieu.

Die östliche Seite der Straße gehört seit jeher den kleinen Andenkenläden und den schlichten Restaurants, die hier dicht an dicht liegen. Nicht selten geht so ein Etablissement vom Vater auf die Tochter über und von der Mutter auf den Sohn und befindet sich darum seit Generationen im Besitz ein und derselben Familie. Die Rue d’Arcole wird beherrscht von einer wahren Aristokratie der Wirte und Andenkenverkäufer.

Er war in eine solche Familie hineingeboren. Seit hundertfünfzig Jahren lebten sie auf der Insel, und genauso lange betrieben sie das kleine Geschäft, das in dieser Zeit weder Phasen besonderen Wachstums erlebt hatte noch solche des bedrohlichen Niedergangs. Als er die Boutique von seinem Vater übernommen hatte, vor vierzig Jahren, war gerade die Belle Époque groß in Mode: Moulin Rouge, Chat Noir, Aristide Bruant, Toulouse-Lautrec. Aber er hatte die Beobachtung gemacht, dass sich das Andenkengeschäft in den vergangenen Jahren immer mehr auf den Eiffelturm konzentriert hatte. Ja, der Laden hatte sich von einem Geschäft für Pariser Souvenirs in ein reines Eiffelturmgeschäft verwandelt: Eiffelturm, überall nur Eiffelturm. Außerdem zeigten die Kunden ein anderes Kaufverhalten als früher. Sie gaben zwar nicht weniger Geld aus, verwendeten es aber anders. Sie kauften lieber ein paar billige Gegenstände als einen teuren.

Er bedauerte diese Entwicklung, aber er konnte sie im Interesse des Überlebens seines Geschäfts nicht ignorieren. Also passte er sein Angebot dem schlichter werdenden Geschmack seiner Kunden an, für die er eine mit den Jahren zunehmende Verachtung empfand.

Die jüngste Etappe auf dem Weg dieses Niedergangs – so empfand er das, obwohl Umsatz und Gewinn keinen Grund zur Klage boten – bestand darin, dass die kleinen aufklappbaren Spiegel nicht mehr im Sortiment zu halten waren. Es gab sie in eckiger, ovaler oder runder Ausführung, und ihre Oberseite war mit hinter Glas gelegten Motiven der Stadt verziert. Er mochte diese Spiegel, aber im Verkauf musste er mindestens elf Euro neunzig dafür nehmen. Das war zu teuer. Was noch im Lager war, wollte er darum für einen Sonderpreis veräußern. Er räumte gerade das Regal ein, als ihm ein länglich-schmales Exemplar auffiel. Er hielt inne und holte die Brille aus der Brusttasche des Kittels, den er jeden Morgen über die Strickjacke zog, wenn er das Geschäft öffnete und die Stellagen besetzte. Er hielt sich den flachen Gegenstand, der kühl in seiner Hand lag, vors Gesicht wie ein Buch, er drehte und wendete ihn und studierte ihn so aufmerksam, als könne er daraus etwas über die Zukunft des Andenkenhandels erfahren. Die Rückseite war glatt und glänzend, und in der leicht nach außen gewölbten Oberfläche spiegelte sich sein runder Kopf mit der Halbglatze wie eine kleine haarige Rosine. Auf der anderen Seite war das Abbild der Kirche von Sacré-Cœur zu sehen. Er schob sich die Brille in die Stirn und stellte fest, dass der Himmel über ihm jetzt gerade ganz genauso blau war. Das gefiel ihm. Dann machte er sich daran, den Aufsteller mit den Postkarten auf den Bürgersteig zu schieben.

Dabei achtete er darauf, den beiden Männern von der Straßenreinigung nicht in den Weg zu kommen. Sie trugen grüne Overalls und gelbe Warnwesten und sahen mit ihren langen Besen wie Papageien aus, die sich über den Schmutz der Straße hermachten. Ihre Schicht hatte vor zwei Stunden am Depot der Stadtreinigung bei der Gare de l’Est begonnen und endete am frühen Nachmittag unten am Port-Royal. Sie stammten aus Burundi, aus der Gegend der heißen Quellen von Mugara. Während sie die Steine der Pariser Trottoirs fegten, sehnten sie sich nach den schattigen Wäldern der Karyambuto-Hügel. Und wenn ihnen einmal, wie an diesem Tag, das Blau des Himmels über Paris auffiel und sie blinzelnd den Kopf in den Nacken legten, dann dachten sie an das leuchtende Wasser des Tanganjikasees, an dessen Ufer sie früher Barsche geangelt hatten.

Den ganzen Weg hinüber sprachen sie leise und ernst in der weichen Sprache ihrer Heimat, die niemand, an dem sie vorbeikamen, verstehen konnte, und darum wusste auch niemand, worüber sie sprachen. Sie blickten nur auf den Weg vor sich, weil das ihre Arbeit so mit sich brachte und weil das gleißende Licht des Pariser Kalksteins ihre Augen blendete. Sie bemerkten die alte Dame an der Ecke der Rue Chanoinesse nicht, die ihnen im Vorübergehen aus Gewohnheit einen aufmunternden Blick zuwarf.

Sie war einmal Schauspielerin gewesen und immer noch eine auffallende Erscheinung. Sie trug den Gürtel um ihren langen, hellen Mantel locker geknotet, und ihr buntes Tuch hing ihr nachlässig über die Schultern. Wenn sie in ihrer Jugend um diese Uhrzeit in den Straßen unterwegs war, war sie noch nicht im Bett gewesen, so viel ist sicher. Damals galten die Quartiers am rechten Ufer noch als verrufene Gegend, Saint-Merri, Enfants Rouges und natürlich die Hallen, dieser Umschlagplatz des Lebens, auf dem alles käuflich war, damals, als die Rue Antoine Carême, die seit dem Neubau des Viertels in keinem Pariser Stadtplan mehr zu finden ist, noch mitten durch Austern, Fisch und Langusten führte, durch Gemüse, Geflügel und Fleisch, tot und lebendig.

Neben der alten Schauspielerin ging sehr langsam und vorsichtig die Witwe eines Leiters der Unterabteilung Steuer, Finanz- und Wirtschaftsberatung in der Abteilung für Kommunalverwaltung in der Generaldirektion der Öffentlichen Finanzen. Sie war kleiner und unscheinbarer, allerdings auch eleganter als ihre flamboyante Freundin, von der sie sich, wie an jedem Donnerstag, auf ihrem Weg zum Augenarzt begleiten ließ, dessen Praxis sich am unteren Ende des Boulevard Saint-Germain befand. Denn vor einigen Jahren, als ihr Mann schon tot war, hatten ihre Augen plötzlich die graugrüne Farbe des Atlantiks angenommen, an dessen bretonischen Stränden sie mit ihm die Sommer verbracht hatte, und sie begann zu erblinden. Sie hatte festgestellt, dass mit dem langsamen Verlöschen ihres Augenlichts auch ihre Erinnerungen verblassten, aber weil sie ohnehin nie so farbig gewesen waren wie die ihrer Freundin, trauerte sie ihnen nicht hinterher, sondern amüsierte sich stattdessen über die Erzählungen von den Nächten im »Gravillons«, im »Belle de Nuit«, im »Caveau« und im »Les Miroirs« am Boulevard de Sébastopol, wo früher die Schwarzen ihren Jazz spielten.

Sie lebten im selben Haus und kannten sich schon lange. Im Erdgeschoss war das Geschäft eines Buchbinders, das auf Schnittverzierungen spezialisiert war. Die Witwe des Finanzbeamten lebte im ersten Stock und hatte einen Balkon, die Schauspielerin lebte im Stockwerk darüber und hatte...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Attentat • Benlieue • Brand • Brandanschlag • Camargue • Frankreich • Frauenfreundschaft • Freundschaft • Freundschaft Frauen • Garrigue • Hochzeit • Immigration • Islam • Jakob Augstein • Notre-Dame • Provence • Südfrankreich
ISBN-10 3-8412-3504-2 / 3841235042
ISBN-13 978-3-8412-3504-6 / 9783841235046
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