Xerox (eBook)
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28238-4 (ISBN)
Eigentlich hat sie es geschafft. Wo sie herkommt, studieren die Menschen nicht, und sie arbeiten auch nicht in einem Amsterdamer Start-up. Doch während der Xerox die Kundenbriefe druckt, wächst ihre Wut: auf die Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt, ihren Bullshit-Job und die jovialen Phrasen der Kollegen. Doch wie einen Platz finden, wenn alle die Regeln kennen, außer man selbst? Und nur der Drucker einem zuhört? Fien Veldmans gefeiertes Debüt entlarvt die Leere der modernen Arbeitswelt und erzählt die Geschichte einer eigenwilligen jungen Frau, deren verletzlich-bissige Stimme niemand vergisst. Ein Roman über das fragile Gefühl der Zugehörigkeit, der 'glasklar und voll trockenem Humor' (Het Parool) den Finger ans offene Herz der Gegenwart legt.
Fien Veldman, 1990 in Leeuwarden (Friesland) geboren, studierte Literaturwissenschaft und arbeitete als Journalistin und Theaterkritikerin. Für ihre Essays wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Xerox ist ihr erster Roman.
Der Zettel ist hellblau, man kann die winzigen blauen Fasern im Papier erkennen. Der Zettel hat ungefähr das Format einer Postkarte. Stehe ich vor der falschen Tür? Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Tür mit Zettel doch als meine eigene. Der Zettel ist an mich gerichtet. Jemand hat mit dunkelblauer Tinte eine Botschaft draufgeschrieben. Die Botschaft klingt wie eine Drohung. Zwischen dem Wegbringen des Mülls und meiner Rückkehr lag höchstens eine Minute, doch in dieser einzigen Minute hat meine Wirklichkeit sich gewandelt. So schnell kann’s gehen.
Ich wohne in einem Wohnblock, der früher anders genutzt wurde, ich weiß nicht mehr genau, wie, als Seniorenheim oder so, jedenfalls hat das Gebäude lange Flure, ein Treppenhaus aus Beton, einen Lift, viele kleine, identische Studios mit derselben Spanplattenküchenzeile, und es riecht komisch. Man kann das Gebäude nicht einfach so betreten, das dachte ich zumindest. Es gibt einen Hausmeister, der über blaue Zettel kommuniziert. Er hinterlässt sie auf Möbeln und anderen Gegenständen, die im Flur herumstehen. Alles unter dem Vorwand der Sicherheit. Der Hausmeister hat irgendwann einmal über ein anderes Gebäude, für das er zuständig war, gesagt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis es abbrennen werde, und letzten Endes ist es tatsächlich in Flammen aufgegangen.
»Bis auf die Grundmauern abgebrannt!« So tönt es mit Donnerstimme, während er einem in die Augen sieht. Dann macht er eine kurze Kunstpause. »Ohne Tote oder Verletzte«, heißt es dann, aber erst ganz am Ende der Geschichte, wenn man sich vom Schock des Bis-auf-die-Grundmauern-abgebrannt-Seins noch nicht erholt hat. Wie dem auch sei: Der Hausmeister hat immer recht. Er spielt häufig auf seinen beruflichen Hintergrund bei der Feuerwehr an, aber wie sich das genau verhält, weiß niemand. Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst, von daher die Zettel. Wenn er dir begegnet, spricht er dich auf die Zettel an, die dein Eigentum oder deine Wohnung betreffen, und er wird nicht ruhen, bis du seinen Aufforderungen nachgekommen bist. Er identifiziert sich so stark mit dem Gebäude, dass sich jede Übertretung der Hausregeln für ihn wie ein persönlicher Affront anfühlt, als hättest du die Kommode nur deshalb vor deine Tür gestellt, um sein Leben in Gefahr zu bringen. Er ist alt, es ist also zu spät, um an dieser zutiefst egozentrischen Überzeugung noch etwas zu ändern. Er wäre ein tyrannischer Hausmeister, wenn das alles nicht so mitleiderregend wäre. Aber jetzt hängt an meiner Tür ein Zettel, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass er ihn beschrieben hat. Die Handschrift ist anders, obwohl die mit den Jahren auch immer zittriger geworden ist, und die Worte klingen nicht nach etwas, das mein Hausmeister sagen würde. Er hat einen seltsamen Humor, so einen richtigen Altherrenhumor, aber er droht einem nicht. Es ist exakt so ein Zettel, wie er sie benutzt, himmelblau mit dunkelblauen Sprenkeln von den Papierfasern, und der Stift, der verwendet wurde, ähnelt seinem Stift, aber das hat nicht mein Hausmeister geschrieben. Ich habe keine Ahnung, wer diese Notiz sonst verfasst haben könnte, und ich weiß auch nicht genau, was mit dem Geschriebenen genau gemeint ist, aber es scheint mich jemand zu beobachten, und das hat mir gerade noch gefehlt. Erst recht jetzt, wo ich allein bin.
Ich spreche noch immer mit meinem Drucker, das schon, ihm kann ich das hier erzählen, aber nur noch in meinem Kopf. Es ist ein imaginäres Gespräch geworden. Einseitig. Ich kann nicht sehen, wie er da steht, kann seine Geräusche nicht hören und seine Reaktionen nicht lesen. Es ist anders. Wir haben unsere Verbindung verloren, aber so ist es nun mal. Ich rede zwar noch, aber niemand hört zu.
Wir wussten Dinge, die der Rest der Nachbarschaft, der Stadt, der Welt nicht wusste, Dinge, über die wir nicht sprechen konnten. Manchmal aus rein praktischen Gründen: Manche Worte kamen uns einfach nicht über die Lippen, Worte, die die Dinge am besten beschrieben hätten, aber wir schämten uns schon bei dem Gedanken allein, diese Worte aussprechen zu müssen, und das nicht nur unter uns, sondern Erwachsenen gegenüber, die wegen des Geringsten und Lächerlichsten schockiert sind (Empörung hatte uns gerade noch gefehlt, wir wollten, dass jemand eingreift). Statt die Dinge beim Namen zu nennen, wählten wir deshalb eine andere Strategie. Nicht nur, weil wir bestimmte Worte nicht auszusprechen wagten aus Angst, dass sie an uns kleben bleiben würden (wie die Männer uns am Arsch), sondern auch, weil wir wussten, was dann auf uns zukommen würde. Es hätte einen Haufen schwieriger Fragen nach sich gezogen. Hätten wir verraten sollen, wie wir an diese Informationen gekommen sind, und das Vertrauen, das man in uns gesetzt hat, schänden? Besser wäre es, wenn ein paar Leute, Erwachsene, denen man Glauben schenkte (auch wenn es davon in unserer Nachbarschaft nur wenige gab), es durch eigene Nachforschungen selbst herausfänden. Ihnen fehlte bloß noch ein eindeutiger Anlass.
Mein betrachtendes Auge müsste mich jetzt eigentlich beruhigen, wenn ich es nicht längst geblendet und begraben hätte. Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Es ist bloß ein Zettel, was kann daran schon so schlimm sein? Er ist höchstwahrscheinlich doch vom Hausmeister. Du interpretierst ihn bloß falsch, das ist alles. Vielleicht hängt er an der verkehrten Tür, oder der Verfasser hatte etwas völlig Unschuldiges im Sinn. Das betrachtende Auge würde jetzt sagen: Bleib mal auf dem Teppich und mach dir keinen Kopf. Es gibt für alles eine Erklärung, kein Grund für existenzielle Panik. Denk an die Welt, in der du lebst. An greifbare Dinge. An die wahrnehmbare Wirklichkeit. Die Welt der IKEA-Möbel, der Fernsehserien, die du seit Jahren guckst, der Supermarktkette, bei der gerade Himbeeren im Angebot sind. Denk an die Himbeeren, an die Karte, die du scannen musst, damit du das Sonderangebot in Anspruch nehmen kannst. Denk an dein kleines Büro mit dem Holzboden, auf dem die Rollen deines Schreibtischstuhls Kratzer hinterlassen haben. Denk an das Geräusch, wenn man eine dieser hohen, schmalen Cola-light-Dosen öffnet. Denk an gelbe Bleistifte mit einem dieser rosa Radiergummis dran, die nie gut radieren. Denk an kleine, überschaubare Dinge. Glaub nicht an Geister oder Horoskope oder Dinge zwischen Himmel und Erde, glaub nicht an außerirdisches Leben, glaub nicht an Intuition, glaub nicht an Geheimgesellschaften, glaub nicht an die grauenvollsten Formen von Gefahr, Gewalt ist die Ausnahme und wird dich sicher nicht treffen. Denk nicht zu oft über das Universum als Ganzes nach, dafür ist es nicht gemacht. Wenn du den Sternenhimmel ansiehst, denk an das Gemälde von Vincent van Gogh, stell dir vor, der Himmel sei ein Panorama, speziell für dich. Denk nicht darüber nach, dass die Sonne auch ein Stern ist und jeder Stern der Mittelpunkt eines Sternensystems. Dass es dutzende, wenn nicht gar tausende Planeten wie die Erde gibt. Denk nicht an Unendlichkeit. Das betrachtende Auge brüllt: »ES IST ALLES IN ORDNUNG!« Bei den meisten Menschen ist das betrachtende Auge viel stärker als die beiden primären Augen. Stärker als alle anderen Sinnesorgane. Stärker als Bauchschmerzen, weil irgendetwas nicht stimmt, weil ein komischer blauer Zettel an deiner Tür hängt.
Als ich in diese Stadt zog, dachte ich, neu anfangen zu können. Ich hatte schließlich alles richtig gemacht. Ich dachte, ich könnte die Dinge hinter mir lassen. Ich hatte sie sogar schon fast vergessen. Nicht wirklich vergessen, das ist unmöglich, aber ich hatte sie so weit von mir geschoben, dass es sich wie vergessen anfühlte. Es gelang mir zu glauben, dass mein Bruch definitiv und erfolgreich gewesen war. Wenn ich gelegentlich dorthin zurückfuhr, denn das war manchmal notwendig wegen irgendwelcher Familienangelegenheiten, betrachtete man mich mehr oder weniger als Fremde, mit einem fremden Äußeren und einer fremden Sprechweise, und das empfand ich als Bestätigung meines erfolgreichen Bruchs. Doch Hochmut ist die erste der sieben Todsünden, und du weißt, was sie darüber sagen. Mir war nicht klar, dass es überhaupt nicht möglich ist, sich loszumachen. Wie weit man auch wegzieht, selbst wenn man nach Kanada auswandert. Du kannst jahrelang so tun, als ob, du kannst darin immer besser werden, die meisten Menschen, die du kennenlernst, werden dir glauben, aber du bleibst immer dieselbe. Es ist nichts Äußerliches, es ist verinnerlicht. Du...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2024 |
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Übersetzer | Christina Brunnenkamp |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Xerox |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Allergie • Amsterdam • Arbeiterbiographie • Burnout • Büro • Debüt • Drucker • Entfremdung • Frau • Freundschaft • Gastland • Gegenwart • Gewalt • Hipster • Humor • Jobpräkariat • Liebesgeschichte • Neuanfang • Niederlande • Oblomow • Office • Präkariat • Schock • Sozialer Aufstieg • Startup • Veränderung • Weltschmerz • Zeitgeist • Zukunft |
ISBN-10 | 3-446-28238-6 / 3446282386 |
ISBN-13 | 978-3-446-28238-4 / 9783446282384 |
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