Das Baumhaus (eBook)
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01403-9 (ISBN)
Als Henrik und Nora mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn ins schwedische Västernorrland fahren, erwarten sie einen idyllischen Urlaub. Doch bereits bei ihrer Ankunft spüren sie, dass die verlassene Ferienhütte etwas Bedrohliches umgibt. Der Eindruck bestätigt sich, als im angrenzenden Wald ein jahrzehntealtes Kinderskelett gefunden wird. Dann verschwindet Fynn. Während seine Eltern sich in ihrer eigenen Schuld verstricken, kommt die Ermittlerin Rosa Lundqvist in den Tiefen des Waldes einem düsteren Geheimnis auf die Spur. Denn sie hat allen anderen etwas voraus: ein außergewöhnliches Gespür für den Tod. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Fynns Verschwinden und dem toten Kind? Und was hat es mit dem längst verfallenen Baumhaus in der alten Esche auf sich? Ein Baumhaus, in dem noch immer jemand zu wohnen scheint ...
Vera Buck, geboren in Nordrhein-Westfalen, hat Journalistik, Europäische Literaturwissenschaft und Drehbuchschreiben quer durch Europa und auf Hawaii studiert. Für ihr Schreiben erhielt sie Stipendien und Auszeichnungen im In- und Ausland. Sowohl ihr Debütroman «Runa» als auch ihr erster Thriller «Wolfskinder» erhielten eine Nominierung für den renommierten Friedrich-Glauser-Preis. Heute lebt Vera Buck in der Schweiz, wo sie als freie Schriftstellerin tätig ist. In den Bergen und auf Reisen findet sie bei mitunter halsbrecherischen Touren die Inspiration für ihre packenden Thriller.
Henrik
Ich frage mich, warum ich sie nicht einfach angelogen habe. Ihr nicht einfach erzählt habe, dass sich kurzfristig, direkt vor unserer Abreise, doch noch ein Käufer für das Haus gefunden hat. Nicht, dass ich nicht darüber nachgedacht hätte. Ich bin gut darin, die Wahrheit zurechtzubiegen, wenn es mir nützt.
Ich lehne meinen Kopf ans Autofenster. Überall kann ich hier meinen Opa sehen. Er steht am Straßenrand und zwinkert mir zu, in dieser Landschaft, die vorbeifliegt, als spule man einen Astrid-Lindgren-Film vor. Er tritt zwischen den hohen, schmalen Bäumen hervor und legt einen Finger an die Lippen, damit ich ihn nicht an meine Frau verrate, die das Lenkrad hält wie das Steuerrad eines Schiffs und mich nach Bullerbü entführt.
«Das wird super, wenn wir das Haus erst mal hergerichtet haben», sagt Nora jetzt. «Wenn Fynn dann in die Schule kommt, sind wir nicht auf die überteuerten Ferienwohnungen während der Schulferien angewiesen. Und du kannst dich hierher zum Schreiben zurückziehen, wann immer dir danach ist! Ich meine, welcher Ort würde sich wohl besser anbieten als Schweden, um den nächsten Kinderbuch-Bestseller zu schreiben?» Sie dreht sich lachend zu Fynn um, der auf der Rückbank hinter mir sitzt und einen Seufzer von sich gibt, der mir aus der Seele spricht.
Die Wahrheit – und es ist ironisch, dass ausgerechnet ich das sage – die Wahrheit ist, dass meine Kinderbücher wenig mit denen von Astrid Lindgren gemein haben. Die meisten meiner Bücher spielen in fantastischen Welten. Es gibt darin alle möglichen Kreaturen und Wesen, die ich zusammen mit Fynn erfinde, und viel Düsterkeit. Keine Idylle wie hier. Es sind Welten, die nur Kindern zugänglich sind und sich Erwachsenen verschließen, weil dieses Maß an Fantasie ihnen längst abhandengekommen ist.
Fynn rutscht halb unter dem Anschnallgurt durch und tritt mit der Fußspitze gegen meinen Sitz. Ihm ist langweilig, und das lässt er mich spüren. Von Greifswald bis zu unserem Ferienhaus in Norrland sind es insgesamt fünfzehn Stunden Autofahrt, und das Buch mit den Astrid-Lindgren-Geschichten hat er schon nach zehn Minuten in den Fußraum rutschen lassen. «Können wir Feuerwehrmann Sam hören? Oder Paw Patrol?», mault er. Småland kennt er nur aus dem IKEA.
Ich überlasse Nora die Antwort, wende mich wieder dem Seitenfenster zu, suche meinen Großvater zwischen den endlosen Baumreihen und finde ihn am Ufer des nächsten Sees. Er steht von mir abgewandt, die faltigen Hände auf dem Rücken verschränkt, und schaut ins Wasser. Früher, kurz nach seinem Verschwinden aus dem Krankenhaus, habe ich oft geträumt, wie er am Rand irgendeines Gewässers steht. Jedes Mal wollte er ins Wasser waten, und ich habe geschrien, um ihn aufzuhalten und meine Eltern damit zu Tode erschreckt. Jetzt aber sitze ich ganz still und ruhig. Ich bin älter geworden, und es ist lange her, dass ich mit seinem Tod gehadert habe.
Mein Großvater ist in Schweden ertrunken. Kein schöner Tod, und ich nehme es meinem Vater noch immer übel, dass es dazu gekommen ist. Aber mittlerweile denke ich auch, es war besser für meinen Opa, an einem Ort zu sterben, den er sich ausgesucht hat: mitten in der Natur statt in einem Pflegeheim in Deutschland, in das er gesteckt worden wäre, nachdem weder mein Vater noch meine Tante bereit waren, sich um ihn zu kümmern.
Das Navigationssystem weist Nora an, links zu fahren, und obwohl außer uns niemand auf der Straße ist, setzt sie den Blinker, bevor sie abbiegt. Zwischen den Bäumen tauchen verstreute rot-weiße Holzhäuschen auf. Eine Siedlung, die mich an Kindheit erinnert, weil auch ich hier früher mal über Bäche gesprungen bin und mit Stöckchen gespielt habe, wie ein Bullerbü-Kind. Mein Gott, wie lange ist das jetzt schon her?
Das letzte Mal, als ich hier durchgefahren bin, saß ich auf dem Rücksitz im Auto meiner Eltern, und wir folgten dem Krankenwagen, in dem mein Opa lag. Ich erinnere mich noch, dass es regnete, dass ich meinen Eltern irgendwas erzählen wollte. Etwas, das mit der Dunkelheit der Tannen draußen zu tun hatte. Aber meine Eltern hatten sich in den Haaren, sie hörten mir nicht zu.
Es waren keine schönen Umstände, unter denen wir Schweden verlassen haben. Vielleicht hatte deshalb keiner von uns das Bedürfnis, hierher zurückzukehren, in das kleine Haus, das meinem Opa gehört hat. Jetzt gehört es uns.
Wir kommen an einer Insel vorbei, die auf einem glitzernden See liegt. Und plötzlich kommt mir eine der vielen Geschichten in den Sinn, die diesen Ort einspinnen und die viel älter als Michel aus Lönneberga oder Pippi Langstrumpf sind. Ich tippe gegen das Fenster, sage: «Fynn! Schnell! Siehst du da? Den Wolf?»
Fynn hört augenblicklich auf, gegen meinen Sitz zu treten, und richtet sich auf dem Kindersitz auf, klebt Stirn und Hände ans Seitenfenster, hinter dem die Insel bereits vorbeigeflogen ist.
«Wo?», fragt er und quetscht seine Nase gegen die Scheibe.
«Auf der Insel», erkläre ich. «Das war Fenrir, der Riesenwolf.» Ich rolle das «r», um den Namen noch schrecklicher klingen zu lassen, und es verfehlt seine Wirkung nicht.
«Ein Riesenwolf?!»
«Der hat hier vor vielen Hundert Jahren die Wälder unsicher gemacht. Keine Kette konnte ihn halten, also haben die Götter ihn auf die Insel gebracht.»
«Wieso?», fragt Fynn und dreht sich jetzt zur Heckscheibe um, wo der See hinter uns zurückbleibt.
«Weil er die Menschen gefressen hat. Und die Götter.»
Nora zieht die Augenbrauen hoch. Das ist nicht die Art von Geschichte, die ihren pädagogischen Vorstellungen entspricht.
«Ich meine, warum haben sie ihn auf die Insel gebracht?», sagt Fynn. «Kann er nicht schwimmen?»
«Natürlich nicht, er war ja ein Wolf. Die können nicht schwimmen.»
Nora runzelt die Stirn und mischt sich nun doch ein: «Also das stimmt so nicht ganz! Wölfe können sogar sehr gut schwimmen. Ich habe erst kürzlich einen Artikel in der «National Geographic» gelesen, in dem es um Wölfe an der Küste in British Columbia ging. Die Tiere leben dort auf winzigen Inseln und nutzen den Ozean als Nahrungsquelle. Sie knacken Krabben und Muscheln und Walkadaver und schwimmen auf ihrer Futtersuche viele Kilometer weit.»
Ich wende mich zum Fenster, damit Nora mich nicht grinsen sieht. Es ist typisch für sie, Fynn mit Wissen ködern zu wollen. Sie hat schon versucht, an seinen Verstand zu appellieren, als er gerade mal einen Löffel greifen konnte. Wenn er nachts vor unserem Bett steht, Angst vor Monstern und Ungeheuern hat, dann schlägt sie nicht einladend die Decke zurück, sondern lässt sich von ihm den genauen Unterschied zwischen Monstern und Ungeheuern erklären. Aber jetzt will Fynn wissen, was ein Walkadaver ist und warum dieser Riesenwolf nicht weiß, dass er schwimmen kann. Schmunzelnd überlasse ich es Nora, ihm all das zu erklären. Wenn er heute Nacht im Schlafzimmer steht und Angst hat, der Wolf könne den See überquert haben, dann werde ich sie daran erinnern, dass das der Teil der Geschichte war, den sie erzählt hat.
Das Navigationssystem weist uns noch einmal an abzubiegen. Doch der Pfad ist so schmal und zugewachsen, dass wir ihn zunächst verpassen und wenden müssen.
«Da rein?», fragt Nora fassungslos, bevor sie den Wagen vorsichtig von der Straße lenkt. Wir holpern über ungeteerten Untergrund. Tannenäste streifen das Auto wie blinde Riesen, die befühlen, wer sich nach so langer Zeit hierher verirrt.
«Da werden wir wohl jemanden beauftragen müssen, der die Schneise frei schlägt», murmelt Nora und beugt sich konzentriert nach vorn, der Lichtung entgegen, die sich jetzt vor uns eröffnet. Ich höre die Unsicherheit in ihrer Stimme, sage jedoch nichts. Das Sommerhaus wiederherzurichten, war ihre Idee, nicht meine. Irgendwie ist das Gespräch zwischen ihr und meiner Mutter über die Osterfeiertage auf dieses Häuschen in Schweden gekommen, und von dort aus haben sich Noras Pläne verselbstständigt. Ich habe lediglich den verstorbenen Großvater beigesteuert, dem all das früher einmal gehört hat.
Nora parkt das Auto im kniehohen Gras und stellt den Motor ab. Und dann sind die Erinnerungen mit einem Schlag wieder da. In diesem kleinen roten Holzhaus am See habe ich die schönsten Sommer meines Lebens verbracht. Ich kann den Rand des alten Ruderboots erkennen, das neben dem Steg im Wasser versunken ist. Hier hat mein Opa mir das Angeln beigebracht. Hier hat er mit einem Handtuch gestanden, wenn ich prustend aus dem Wasser aufgetaucht bin, und mich eingewickelt, kaum dass ich bibbernd im taunassen Gras stand. Bei dem Gedanken daran geht mir das Herz auf.
«Sind wir da?» Fynn lehnt sich zwischen unseren Sitzen durch. Er will endlich aus dem Auto, und auch wir sind steif und verspannt von der langen Fahrt. Wir steigen aus, und ich öffne die kindergesicherte Tür. Fynn ist bereits abgeschnallt, rutscht vom Sitz und rennt voraus, um als Erster beim Haus zu sein. Er hängt sich an die Türklinke, brüllt: «Ist gar nicht abgeschlossen!», und macht dann: «Whoa! Voll cool! Und voll stinkig hier! Glaubst du, hier ist wer gestorben, Papa?»
Nora wirft mir einen Blick zu, der mir bedeuten soll, dass unser Sohn definitiv nach mir kommt. Dann folgen wir Fynn, ohne die Koffer aus dem Wagen zu holen, und stapfen durch die Wiese zur Veranda. Das Haus ist in die Jahre gekommen. Von den Verstrebungen vor den blinden Fenstern blättert die Farbe ab. Das Dach biegt sich an einigen Stellen...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Baumhaus • besonderer Ermittler • Buch Thriller • crimethrill • deutsche Kriminalromane • Deutscher Thriller • Ermittlerkrimi • Krimi in Schweden • Kriminalgeschichten • Kriminalliteratur • Krimi Neuerscheinungen 2024 • krimis bücher • Krimis und Thriller • Krimi Thriller • Melanie Raabe • Norrland • Psychologischer Krimi • Psychologischer Thriller • psychologische Spannung • Psychothriller • Romane Krimis • Romy Hausmann • Schweden • schwedische Krimis • Skandinavische Krimis • spannende Bücher • spannende Thriller • Spannung aus Deutschland • Thriller • thriller 2024 • thriller entführung • Thriller in Schweden • Thriller neuerscheinung 2024 • Thriller und Krimis deutsch • Urlaub • Verschwundene Kinder • Wald • weiblicher Ermittler |
ISBN-10 | 3-644-01403-5 / 3644014035 |
ISBN-13 | 978-3-644-01403-9 / 9783644014039 |
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