Gegen den Wind des Widerstands -  Beate Maly

Gegen den Wind des Widerstands (eBook)

Roman | Die Olympischen Spiele 1900 in Paris: Erstmals dürfen Frauen an vier Sportarten teilnehmen - und eine Schweizerin schreibt Geschichte mit ihrer Liebe zum Segeln

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0714-4 (ISBN)
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Der Wind bringt Veränderung

Um 1900: Helen liebt das Wasser und Schiffe, ihre Leidenschaft gehört den Segelbooten. Sie ist wagemutig und tollkühn, gewinnt sämtliche Wettrennen auf dem Wasser gegen ihre Brüder. Dabei trägt sie verbotenerweise Hosen - sehr zum Entsetzen ihres Umfelds. Als sie heiratet, zieht sie gemeinsam mit ihrem Mann nach Cannes. Der Wind, die Wellen, die Rauheit, aber auch die schier unendliche Grenzenlosigkeit, die ihr der Ozean bietet, öffnen ihr Herz. Zum ersten Mal im Leben fühlt Helen sich richtig frei. Doch als sie im Segelsport auch offiziell an Wettkämpfen teilnehmen will, stößt sie an die Grenzen der Gesellschaft. Schon bald muss sie sich entscheiden: Will sie ein gewöhnliches Leben führen, oder ihrem großen Traum, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, folgen?



Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute lebt. Ihre drei Kinder zieht es immer wieder in die weite Welt. Zum Schreiben kam sie vor rund 20 Jahren. Sie widmet sich dem historischen Roman und dem historischen Kriminalroman. 2019 und 2023 war sie für den Leo-Perutz-Preis nominiert, 2021 gewann sie den Silbernen Homer. Ihre Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Prolog


Genfersee, Sommer 1882

Milchig weiß lag der Nebel über dem See. In kleinen Wölkchen löste er sich von der Oberfläche, stieg auf und legte ein spiegelglattes Türkis frei. Barfuß lief Helen durch das noch nasse Gras, die Tautropfen kitzelten zwischen ihren nackten Zehen. In ein paar Stunden würde die Sonne jeden einzelnen Halm getrocknet haben. Schon jetzt verhieß der wolkenlos blaue Himmel einen weiteren heißen Sommertag. Erst abends, wenn sich erneut die schwüle Hitze vor den schneebedeckten Berggipfeln staute, würde es vielleicht ein Sommergewitter geben. Doch jetzt war die Luft frisch und klar. Es duftete nach geschnittenem Grün, denn gestern hatten der Bauer und seine Knechte die Wiese neben dem Garten mit den Sensen gemäht. Die Haufen hingen nun auf Holzgerüsten zum Trocknen und verströmten den Geruch nach Sommer und Unbeschwertheit.

Helen liebte die Sommermonate am Genfersee. Wenn es nach ihr ginge, würde sie das ganze Jahr an diesem malerischen Ort verbringen. New York mit seinen Wolkenkratzern, engen Straßenschluchten, lärmenden Fabriken und dem Sprachenwirrwarr war ihr ein Gräuel. Es war ihr völlig unverständlich, warum jemand freiwillig Europa verließ, um auf der anderen Seite des Atlantiks ein neues Leben anzufangen. In der Schweiz oder in Frankreich gab es doch alles, was man zum Glücklichsein brauchte.

Helens Unverständnis war der Tatsache geschuldet, dass sie auf die Butterseite des Lebens gefallen war. Sie war als erstes Kind in die wohlhabende Familie Lori geboren worden. Ihr Vater Pierre Lori war einer der erfolgreichsten Tabakproduzenten Amerikas. Er besaß Häuser in New York, Genf und Paris. Armut oder Hunger waren Fremdwörter für Helen. Ihre Sorgen galten dem verhassten Lateinunterricht und den Benimmstunden bei Marie Fornet, ihrer strengen Kinderfrau. Die Erzieherin bemühte sich vergebens, aus der wilden Zwölfjährigen eine salonfähige junge Frau zu formen.

Gestern war Fräulein Fornet für eine Woche zu ihrer Familie nach Lausanne gefahren, um ihre Schwägerin im Wochenbett zu unterstützen. Das bedeutete sieben ganze Tage ohne lästige Regeln. Helen musste keine Bücher auf dem Kopf tragen und damit aufrecht durch den Raum schreiten, sich nicht um langweilige Gesprächsthemen bei Tisch Gedanken machen und sich auch nicht mit den verhassten Handarbeiten abquälen, die ihr ohnehin nie gelangen. Sticken war ihr ein Gräuel. Neulich sollte sie einen Hirsch auf einen Kissenüberzug sticken, und am Ende hatte das Tier wie ein fettes Walross mit Geweih ausgesehen. Fräulein Fornet hatte den Überzug erst vorgestern zu den Spenden für ein Seniorenhaus gegeben. Jetzt musste sich ein armer alter Mensch Gedanken darüber machen, auf welch seltsamem Tier er seinen Kopf bettete. Es wäre wohl besser gewesen, der Überzug wäre in ein Gefängnis gegangen.

Helen lief Richtung See. Sie konnte den ganzen Tag nach ihrem Geschmack gestalten. Ihre Mutter war mit Helens jüngeren Brüdern Philipp und André beschäftigt. Die beiden brauchten Nachhilfeunterricht in Französisch und mussten sich im Tennis und Reiten bewähren. Während Helen schon früh ihre Liebe zur Sprache ihrer Mutter entdeckt hatte, taten die Brüder sich schwer mit ihr. André fand Französisch sei eine Hals-Nasen-Krankheit, und Philipp beschäftigte sich lieber mit den großen deutschen Dichtern, Goethe und Schiller.

Heute wollte Helen ihre neue Freiheit mit einem Abstecher zu ihrer Nachbarin, Baronin Julie von Rothschild, beginnen. Marie Fornet fand, dass die exzentrische Baronin, die allein lebte und unverheiratet war, kein geeigneter Umgang für Helen war. Zum Glück sahen sowohl Susanna Lori als auch Helens Vater das weniger streng. Die beiden hatten die Werte der Neuen Welt inhaliert. Den Traum, vom Tellerwäscher über Nacht zum Millionär zu werden, fanden sie keineswegs verwerflich. Und wer sich sowohl als Künstlerin als auch Unternehmerin einen Namen gemacht hatte, verdiente es, respektiert zu werden, egal ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Julie von Rothschild war eine exzellente Fotografin. In Paris wurden in ihren Werkstätten Geräte für die Augenmedizin hergestellt. Jedes Jahr entwickelten Spezialisten neue Techniken. Die Baronin verstand es wie keine andere, ihr Vermögen stetig zu vermehren und dabei nicht nur den beruflichen Erfolg im Auge zu haben, sondern auch ihren privaten Leidenschaften nachzugehen. Letzte Woche hatte Julie von Rothschild ihren neuen Dampfer eingeweiht. Die La Gitana war das schnellste Dampfschiff auf dem Genfersee. Pierre Lori, der selbst ein großer Schiffsliebhaber war, war von diesem kleinen Wunderwerk der Technik so beeindruckt gewesen, dass er beim Abendessen gemeint hatte: »Vielleicht sollten wir uns auch ein Schiff zulegen. Wobei ich ein Segelschiff bevorzugen würde. Das ist sportlicher.« Helen war sofort Feuer und Flamme gewesen, doch leider hatte ihr Vater danach das Boot nicht mehr erwähnt und sich langweiligeren Themen gewidmet.

Die La Gitana lag im Privathafen der Baronin. Mit den bunten Wimpeln und dem schneeweißen Rumpf wartete der Dampfer darauf, Passagiere über den See zu transportieren. Wenn Julie von Rothschild Wort hielt, was sie für gewöhnlich tat, durfte Helen heute mit an Bord kommen. Die Einweihungsfeier hatte Helen nur vom Fenster ihres Zimmers aus begleiten dürfen, und nun konnte sie es kaum erwarten, die Planken zu besteigen. War es noch zu früh, die Nachbarin an das Versprechen zu erinnern?

Helen kletterte auf die unterste Latte des Zauns und spähte über die dichte Hecke aus Kirschlorbeer und Liguster. Ein Brombeerbusch wuchs dazwischen. Helen pflückte vier der dunklen Früchte und steckte gleich alle auf einmal in den Mund. Sie verzog das Gesicht. Die Beeren waren noch nicht ganz reif. Geduld zählte nicht zu Helens Stärken. Aber Geschicklichkeit. Und so sprang sie vom Zaun und lief zu dem Tor, durch das man vom Grundstück ihrer Familie auf das der Baronin gelangte. Geschmeidig wie eine Katze schlüpfte sie unter dem Tor hindurch. Dabei löste sich eine kastanienbraune Strähne aus ihrer nur nachlässig geflochtenen Frisur. Helen steckte sie halbherzig hinters Ohr, hob ihre Röcke und lief über das taufrische Gras.

Am Landungssteg hatten sich einige Menschen eingefunden, alles Fremde. Helen hielt an, hob die Hand über die Augen und blinzelte gegen die aufgehende Sonne. Vier Frauen und zwei Männer. Drei der Damen hatten moderne Kleider mit langen Röcken, Rüschen, Schleifen und Tournüren an. Helen hasste die halben Unterröcke mit Fischbein- oder Stahlreifenverstärkungen. Mit ihnen konnte man sich weder hinsetzen noch schnell gehen. Im Grunde konnte man in solcher Aufmachung nichts anderes tun, als albern in der Gegend herumzustehen. Doch eine der Frauen stach hervor. Ihre hellen Röcke endeten oberhalb der Knöchel und erlaubten einen Blick auf feste Schuhe, wie man sie auch in den Bergen für lange Wanderungen trug.

Helen näherte sich neugierig. Als einer der Männer sie entdeckte, stellte er sich rasch vor die praktisch gekleidete Dame, so als müsste er sie vor Helen beschützen. Sofort zog ihn die Baronin zurück und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Sie winkte Helen zu sich. Wie immer hatte sie eine Zigarette mit einer langen Spitze in ihrer Rechten. Helen erschien das wie der Inbegriff von Selbstbestimmung. Niemals würde ihre Mutter rauchen. Obwohl ihr Ehemann damit sein Geld verdiente. Fräulein Fornet war der Überzeugung, dass der Teufel höchstpersönlich dafür gesorgt hatte, dass jetzt auch Frauen zum Tabak griffen. Bei Männern war es für sie eine Selbstverständlichkeit, dagegen hatte sie keine Einwände. Manchmal fiel es Helen schwer, Marie Fornets Logik zu folgen.

»Das ist Helen Lori, die Tochter meiner Nachbarn. Sie begleitet uns«, sagte die Baronin. Ihre Stimme war vom Tabak und dem Gin, den sie abends gerne zu sich nahm, tief und rauchig. Ihre üppige Figur steckte in einem weißen Sommerkleid, auf ein Korsett hatte sie verzichtet. Der Ausschnitt des Oberteils war skandalös tief, wie es sonst nur bei Ballkleidern üblich war. »Warum soll ich mich mit eingeschnürtem Leib und zu viel Stoff auf meiner Haut quälen?«, pflegte sie zu sagen. »Ich krieg keine Luft, wenn mich jemand zuschnürt wie eine deutsche Bratwurst.«

Die Dame mit den knöchellangen Röcken schien sehr wohl eingeschnürt zu sein. Ihre Taille war so schmal, dass ein Mann mit großen Händen sie problemlos hätte umfassen können. Ihr Gesicht war kantig, aber schön. Eine tiefe Traurigkeit lag in ihren großen Augen.

»Guten Morgen, Helen! Du willst doch mitkommen, oder? Wir legen gleich ab«, sagte die Baronin.

Natürlich wollte Helen mitfahren. Vor dem Frühstück mit dem Dampfer auf den See – was für ein Abenteuer! Diese Woche würde die beste ihres Lebens werden.

»Hast du keine Schuhe dabei?«

Helen verneinte.

»Na, macht nichts«, meinte die Baronin. »Der See ist ruhig und wir sind auf einem Dampfer, nicht auf einem Segelboot.« Sie hob mahnend den Zeigefinger ihrer Linken: »Aber merke dir: In Zukunft betrittst du kein Boot ohne feste, trittsichere Schuhe.«

»Mach ich«, versprach Helen.

Ein Mann mit einer schicken Kapitänsmütze unter dem Arm trat auf die Baronin zu. Er reichte ihr die Kappe, die diese ganz selbstverständlich auf ihren Kopf setzte. Helens Augen wurden kugelrund. Konnte es sein, dass Julie von Rothschild das Schiff selbst steuern würde? War sie die Kapitänin? Gab es dieses Wort überhaupt?

Über eine breite Planke kletterte ein Gast nach dem anderen auf das Schiff. Helen beobachtete die Frauen. Die drei eleganten Damen bewegten sich zögerlich und hielten sich an einem Handlauf fest. Die zarte, schlanke Frau ging mit...

Erscheint lt. Verlag 23.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1900 • Cannes • Grenzen der Gesellschaft • historisch olympia • Leidenschaft • Meer • Olympia • Ozean • Roman starke Frau • Segelboot • Segeln • Segelsport • Sport • Starke Frau
ISBN-10 3-7499-0714-5 / 3749907145
ISBN-13 978-3-7499-0714-4 / 9783749907144
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