Sparks (eBook)
480 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491916-4 (ISBN)
J.R. Dawson hat einen Master in kreativem Schreiben und unterrichtet Kinder für das Nebraska Writing Collective und andere Non-Profit-Organisationen in der weltverändernden Macht des Geschichtenerzählens und Theaterspielens. Zusammen mit ihrem Lieblingsmenschen und drei Hunden lebt sie in Omaha, Nebraska. »Sparks. Die Magie der Funken« ist ihr erster Roman.
J.R. Dawson hat einen Master in kreativem Schreiben und unterrichtet Kinder für das Nebraska Writing Collective und andere Non-Profit-Organisationen in der weltverändernden Macht des Geschichtenerzählens und Theaterspielens. Zusammen mit ihrem Lieblingsmenschen und drei Hunden lebt sie in Omaha, Nebraska. »Sparks. Die Magie der Funken« ist ihr erster Roman.
[...] ein berührendes Buch mit vielen Facetten von Liebe, auch queerer, das zum Nachdenken anregt [...].
beeindruckende[s] Debüt
1
Ringmaster, 1926
An einem Dienstag am frühen Morgen rollte der Zirkus in die Stadt ein. Knapp vor der Ortsgrenze schlich sich der angeschrammte Zug auf die Schienen, als die Vögel erwachten und erste Sonnenstrahlen durch die schläfrigen Schatten der in Morgennebel gehüllten Bäume drangen.
Passanten bemerkten seine Ankunft erst, als der Zug schon beinahe an ihnen vorüberrauschte. Auf seinen rot, golden und blau angemalten Waggons stand der Name: Windy van Hootens Phantastischer Zirkus. Die letzten beiden Wagen waren goldviolett gestrichen, ihre dicken Holzbohlen mit Blumenmustern verziert, und rote Gardinen hingen in den Fenstern.
Hier in Des Moines gab es Schienen, auf denen der Zug in den Ort einfahren konnte. An anderen Tagen, in anderen Städten kam der Zug mitten auf einem Feld zu stehen, meilenweit von jedem Bahnhof entfernt. Wie durch Magie.
Aber es war keine, es waren Sparks.
Der Phantastische Zirkus wurde wie andere Zirkusse auch von mageren Anzahlungen, einer sorgfältigen, aber flexiblen Planung und geschickt platzierter Werbung in Gang gehalten, aber diesen besonderen Zug trieb nicht nur sein Spielplan von einem Ort zum nächsten. Er erschien immer zur richtigen Zeit in der richtigen Stadt, und sei es nur für einen einzigen Menschen, der es nötig hatte, eine Aufführung zu sehen.
Zwischen dem Albtraum der Vergangenheit und dem Traum von der Zukunft lag die Gegenwart wie eine Durchgangsstation, in der alle die Orientierung verloren zu haben schienen. Manche erinnerten sich später lebhaft daran, wie ein Besuch im Spark-Zirkus ihr Leben umgekrempelt hatte; andere hätten nicht sagen können, was sie dazu inspirierte, umzudenken und ihr Verhalten zu ändern, aber begonnen hatte es vermutlich an einem Abend im rot-weiß gestreiften Zelt.
Heute, am 8. Juni 1926, war Des Moines, Iowa, an der Reihe.
Als die Stadt erwachte, stand der Zug bereits auf einem Flecken Pachtland unweit der Schienen. Manche Bewohnerinnen und Bewohner ließen die Arbeit liegen und viele Kinder ihre Haushaltspflichten. Sie schauten vom Rand des Geländes zu, wie die Sparks aus den Waggons kamen, um das Chapiteau und die Budengasse zu errichten. Eine von ihnen verwandelte sich in ein Lasttier, ein anderer vervielfältigte sich, um die Arbeit voranzubringen, und eine Dritte stemmte Jahrmarktsbuden über ihren Kopf. Die Stadtbewohner waren ein wenig verängstigt, aber im Lauf des Tages, als überall an den Hauswänden Plakate erschienen und sie mit wachsender Faszination auf das bunte Treiben blickten, wurde ihnen klar, dass ihnen eine seltene Chance auf etwas Außergewöhnliches geboten wurde, also gingen sie allesamt in den Zirkus.
Die Budengasse verströmte die Atmosphäre rauchiger Sommernächte und das Gefühl eines jungen Körpers, der einen steilen Hang hinabrennt. Kreuz und quer über den Köpfen hängende Lichterketten, das melodische Klingeln der Jahrmarktspiele und Zuckerwarenstände erinnerten an ein sicheres Zuhause, nach dem sich alle zurücksehnten, obwohl sie es nie hatten finden können – bis heute.
Ein Kreischen ertönte, und eine Horde Kinder schleifte die dazugehörigen Mütter zu einer hölzernen Rampe. Die Rampe führte in ein Sperrholzgebäude für die Sideshow, die Attraktionen für alle bot, nicht nur für die Männer. Und es wurde kein billiger Flitter geboten. Zwar war der Innenraum aus Brettern und Leuchtfarbe gezimmert, aber er lud Besucher zu aufregenden Erkundungsgängen ein. Mittendrin hüpften lachende Kinder auf einer elastischen Gummibrücke, und ihre Eltern wandelten staunend durch einen Tunnel, der die Illusion erzeugte, sie schwebten im Weltall. Es war alles hölzerne, zahnradgetriebene Mechanik wie aus George Méliès’ kühnsten Träumen.
Das Chapiteau dagegen – das große Zirkuszelt und die eigentliche Attraktion des Abends – war zugegebenermaßen schlicht. Es sah ärmlicher aus als bei manchem anderen Wanderzirkus, den die Stadtbewohner gesehen hatten. In der Hülle waren rotweißes Segeltuch und Nesselstoff sparsam und doch kunstvoll miteinander vernäht. Als Sitze dienten Bänke auf niedrigen Tribünen rund um die von einer lackierten hölzernen Umrandung abgegrenzte Manege sowie ebenerdige Logenplätze für jeden, der nicht die wackeligen Stufen hochkam. Der Boden war trocken und eben, überzog aber die Stiefel, Reifen oder Sonntagsschuhe mit einer zähen Staubschicht, und die zu spärlichen, zu grellen Lampen betonten nur noch mehr, wie schmutzig und abgenutzt das Innere des Hauptzelts wirkte. Es erinnerte eher an eine Scheune als an ein Theater, von Zwirn und Spucke zusammengehalten statt von Nägeln.
Aber das war vorher.
Wenn dann die Lichter erloschen, das Publikum verstummte und ein Scheinwerfer ansprang, erschien Ringmaster hell angestrahlt in der Manege.
In einem imposanten rotsamtenen Mantel stand die Zirkusdirektorin da und blickte in die Tribünen. Mit der goldbraunen Mähne, die bei Hitze strohig wurde, bei Kälte nicht trocknen wollte und Ringmaster stets ins weiße Gesicht fiel – im Sommer verbrannt oder sommersprossig, im Winter leichenblass –, sah sie aus wie eine mittelalte Löwin. Sie hatte erstaunlich schwarze Augen, die mal vor Verheißung strahlten und mal undurchdringlich wurden wie ein schwarzes Loch. Mancher hielt sie für schön, mancher für aufgetakelt, aber allen war klar, dass sie sie auf ein Abenteuer mitnehmen würde.
Wenn sie lächelte, sah es aus, als erblickte sie alles zum ersten Mal. Als hätte sie ihr Publikum gerade erst entdeckt, wäre hingerissen von dem, was sie sah, und wüsste genau, was für großartige Taten sie alle vollbracht hatten und noch vollbringen würden. Das Lächeln war eine Umarmung, der erste Lichtblick in diesem dunklen, staubigen Zelt.
»Willkommen«, sagte sie zu jedem einzelnen Menschen auf den Tribünen. »Willkommen zu Hause.«
Seit sechs Jahren führte Ringmaster durch diese Show, Saison für Saison, von Frühling bis Herbst. Von einem Jahr zum nächsten änderte sich ihr Rhythmus, weil neue Sparks ins Programm aufgenommen wurden, weil die Zirkusfamilie größer und das Zelt immer fadenscheiniger wurde und Ringmaster immer besser verstand, was sie tat. Das durfte sie nämlich nicht vergessen: dass sie wusste, was sie hier tat.
Sie zupfte ihre Manschetten zurecht und verneigte sich, wobei ihr Zylinder in ihrer Hand auftauchte. Ein Raunen ging durch die Menge, und Ringmaster lächelte noch breiter. »Es ist uns eine Ehre, diese kostbaren Stunden mit Ihnen verbringen zu dürfen.« Aus dem Augenwinkel sah Ringmaster die Dolmetscherin ihre Worte in Gebärden übersetzen. Es sah aus wie ein selbstbewusster Tanz. »Bisher mögen wir einander fremd sein. Künftig mögen wir einander nie wieder begegnen. Aber was heute Abend geschieht, daran werden wir uns gemeinsam erinnern. Das verbindet uns. Die Kunststücke, die Sie heute zu sehen bekommen werden, mögen außerweltlich wirken. Aber seien Sie versichert, dass dieser Zirkus nicht weniger real ist als Sie und ich. Wenn wir erträumen, dass etwas schön sein soll, dann ist es schön. Wenn wir das Unmögliche ersehnen, wird es seinen Weg zu uns finden. Wir müssen es nur laut genug wollen.«
Das war das Stichwort für Mr. Calliope. Er war ein Mann ganz aus Röhren und Saiten, und jetzt schlug er sich auf die blechernen Knochen und ließ Akkorde und Kadenzen erklingen. Seine Musik hüllte das Publikum in ein wohldosiertes Crescendo, während die Artistinnen und Artisten für die Eröffnungsparade hintereinanderweg auf die Reitbahn traten und tanzten.
Über ihren Köpfen schlug Kell mit den Flügeln.
Tina, eine Menagerie für sich, verwandelte sich von einem Tier in das nächste.
Die feuerspeiende Bogenschützin, die schwebenden Akrobaten, die wachsenden und schrumpfenden Clowns – all das war wie ein Traum.
Ein wogender, fliegender, singender Traum, vom Jubel des Publikums getrieben. Ringmaster konnte jenseits des Scheinwerferlichts keine Gesichter erkennen, aber sie spürte die Energie, die aus den Tribünen in die Manege strömte.
Es war wie ein Wunder.
Ringmaster breitete die Arme aus, als wollte sie das gesamte Publikum umarmen. »Heute Abend feiern wir! Wir feiern uns und euch und was wir gemeinsam erreichen können!«
Auf dieses Stichwort schwang sich Odette in die Luft über der Manege, die Trapezkünstlerin mit dem blonden Bob, die wie eine Porzellanpuppe aussah. Neben ihr trat Mauve auf eine Plattform, violette Seide um die umbrabraunen Schultern geschlungen, und ließ ihre Stimme so virtuos erklingen wie eine Meisterviolinistin. Sie traf jeden Ton und schwang sich von einem zum nächsten, während Odette am Vertikaltuch tanzte.
Ringmaster liebte es, Odette so freudig zu sehen. Sie trug ihr Glück zur Schau wie ihre Paillettenkleider – funkelnd, strahlend, mit jeder Bewegung das Licht widerspiegelnd, als wäre sie ein Stern, der darauf brennt, sich mit der dunklen Welt zu verbinden. Odette hatte eine gütige, hoffnungsvolle Seele. Und Ringmaster hatte das Glück, ihr Herz in der Hand zu halten.
Ringmaster lief zu der Stelle, an der Odette sich herabsenken würde. Sie nahm das untere Ende des Tuchs und versetzte es in eine Drehbewegung, während Odette hoch oben tanzte. Der Scheinwerferstrahl huschte durch den Staub und richtete sich auf die beiden; ihre losen Haarsträhnen glommen wie goldene Kronen.
Jetzt hielt Ringmaster das Tuch fest, und Odette wirbelte im Kreis. Die Eröffnungsparade verschwand nach und nach aus der Manege, nur Mauve sang hoch oben weiter. Ringmaster wusste, dass die anderen sich für ihre Einzelauftritte bereit machen mussten. So lange gehörte die Bühne...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Übersetzer | Gesine Schröder |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Cosy Fantasy • Fantasy 2024 • Fantasy Bestseller • Fantasy für Erwachsene • Fantasy Neuheit 2024 • Fantasy Roman • Fantasy Romance • found family • historische Fantasy • lgbtq fantasy • magischer Zirkus • Nachtzirkus • Queer Fantasy • Übernatürliche Fähigkeiten • Urban Fantasy • Zeitreise • Zirkusartisten • zirkusfamilie |
ISBN-10 | 3-10-491916-X / 310491916X |
ISBN-13 | 978-3-10-491916-4 / 9783104919164 |
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