Die Schwestern vom Stachus (eBook)
352 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0658-1 (ISBN)
»Die Liebe ist das Wichtigste. Ohne sie werden die Semmeln nichts.«
München, 1948: Drei Jahre ist es her, dass die Schwestern Anita und Emmi beschlossen haben, die im Krieg zerstörte Großbäckerei ihres Vaters wieder aufzubauen. Einst gehörten die Simmerl-Semmeln zu den beliebtesten der Stadt, und daran wollen die beiden jungen Frauen wieder anknüpfen. Doch das ist leichter gesagt als getan: Das Geld ist knapp, Rohstoffe sind Mangelware und auch das Privatleben kommt den beiden immer wieder in die Quere. Während Emmi mit ihrer Tochter Annemarie auf die Rückkehr ihres Mannes wartet und immer wieder zum Bahnhof fährt, um den Heimkehrer abzuholen, kämpft die Witwe Anita mit einem neuen Verehrer und weiß nicht, was sie mit ihren Gefühlen anfangen soll. Doch so schwierig alles auch scheint, auf eines können sich die Schwestern verlassen: auf ihre Familienbande.
Lena Pauli ist in Rosenheim aufgewachsen und lebt heute mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt. Ihr Roman »Die Schwestern vom Stachus« führt sie zurück in ihre bayerische Heimat und in die Stadt München, in die sie vor vielen Jahren ihr täglicher Arbeitsweg brachte.
1. Kapitel
10. Mai 1948
Anita mochte die fliegende Händlerin Stanzi Lechner, weshalb sie ihr immer mehr Ramsch abkaufte, als sie benötigte. Heute war sie in der Nähe des Sendlinger-Tor-Platzes auf Stanzi gestoßen und hatte bei ihr zusätzlich zu den Hosenträgern, Schürsenkeln, Kämmen und einigen Seifenstücken noch Rasierklingen von bester Qualität erworben.
Stanzi Lechner hatte die siebzig bereits überschritten, war hager und ähnelte etwas einem kleinen Hutzelweib. Doch sie war agiler als so manch junges Mädchen und wanderte mit ihrem Leiterwagen Tag für Tag durch die Gegend, stets auf der Suche nach neuen Waren, die sie, wie so viele fliegende Händler in der Stadt, möglichst gewinnbringend weiterverkaufen konnte. Stanzis Mann war schon vor dem Krieg an einem Herzinfarkt gestorben. Sie hatte gemeint, dass es so hatte kommen müssen, denn er sei ein rechter Wusler gewesen, und einen hohen Blutdruck habe er auch gehabt. Ihre drei Söhne hatte sie im Krieg verloren, und die Schwiegertöchter hatten allesamt mit Kind und Kegel die Stadt verlassen, was ihnen Stanzi nicht verübeln konnte. Auch sie hatte, als es besonders schlimm gewesen war, darüber nachgedacht, München den Rücken zu kehren, hatte es dann jedoch aus Nostalgiegründen gelassen. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr«, hatte sie einmal zu Anita gesagt und abgewunken. So war sie geblieben und hatte, wie sie alle, den tagtäglichen Bombenhagel ertragen. Den Krieg, der im September ’39 über sie hereingebrochen war und ihre Leben auf grausame Weise für immer verändert hatte. Der Anita die Liebe ihres Lebens, ihren Theo, genommen hatte. Im Osten war er gefallen, ’42 hatte sein Name auf einer der Gefallenenlisten gestanden. Ehrenhaft fürs Vaterland gestorben, und Anita hatte es den Boden unter den Füßen weggezogen. Drei Jahre später war es vorbei gewesen, Kapitulation, und ein zerstörtes Land, eine zerstörte Stadt, eine zerstörte Lebenswelt waren geblieben, die bis heute von Nachbeben erschüttert wurden. Das vertraute München gab es nicht mehr, und sie überlebten irgendwie in den Trümmern. Inzwischen wich die Trostlosigkeit jedoch mit jedem Tag etwas mehr der Hoffnung auf ein besseres Leben. Auch wollte Anita, trotz des täglichen Überlebenskampfes, den Glauben daran nicht verlieren, dass sie schon bald ihre Großbäckerei Simmerl zu neuem Leben erwecken und die Münchner bald wieder in den Genuss ihrer Simmerl-Semmeln kommen würden. Ihr Vater hatte mit viel Herzblut aus einer winzigen Bäckerei etwas Großes erschaffen, und nach seinem Tod hatten sie und ihre Schwester Emmi gemeinsam mit ihren Ehemännern das Unternehmen erfolgreich weitergeführt, bis September ’39, dann hatte die Welt kopfgestanden – und alles war mit einem Schlag verändert gewesen.
»Wo hast du denn die großartigen Klingen aufgestöbert?«, fragte Anita.
»Weißt doch, dass ich dir nicht sag, wo ich meine Sachen herhab«, meinte Stanzi. »Sonst kaufst ja nicht mehr bei mir, sondern gleich bei meinem Dantler. Obwohl ich die Klingen gar nicht von dem kriegt hab, sondern von einem andern. So einem alten Hausierer, dem ein Auge fehlt. Ausgeschaut hat der wie ein Pirat, und seine Klamotten waren auch ganz schlampig. Ich hab erst gar nicht mit dem reden wollen, aber dann hat er mir doch leidgetan. Ist halt auch eine von den armen Seelen, die sich irgendwie über Wasser halten.« Sie stieß einen Seufzer aus, und Anita nickte. »Wie geht’s denn der Emmi?«, erkundigte sich Stanzi nach Anitas jüngerer Schwester. »Hat sie schon was von ihrem Jacob gehört?«
»Bedauerlicherweise nicht«, berichtete Anita. »Sie geht auch immer zum Bahnhof, wenn neue Heimkehrer aus dem Osten angekündigt sind. Aber bisher ist er noch nicht aus einem der Züge gestiegen. Was sie zusätzlich beunruhigt, ist die fehlende Post. Andere Männer schreiben regelmäßig, doch von Jacob haben wir seit über zwei Jahren keinen Brief mehr erhalten. Seine letzte Nachricht hat uns aus irgendeinem Ort in Sibirien erreicht, ich hab den Namen vergessen.«
»Ja, das ist schon schlimm.« Stanzis Blick war mitleidig. »So geht es meiner Nachbarin auch. Die sitzt mit ihren drei Buben in dem notdürftig zusammengezimmerten Kabuff, anders kann man die Kammer im Hinterhaus nicht nennen, und hofft jeden Tag drauf, dass ihr Zacherl wiederkommt. Manchmal bring ich ihnen ein paar Lebensmittel, an den guten Tagen, wenn mein Geschäft anständig gelaufen ist und ich über meine Quellen noch was organisieren konnte.« Sie zwinkerte Anita schelmisch grinsend zu. Anita kam nicht umhin zu schmunzeln. Wenn jemand sich in dieser Stadt nicht unterkriegen lassen würde, dann war es Stanzi.
Im nächsten Moment wurde es schlagartig lauter. Trommelschläge waren zu hören und laute Protestrufe. Beide blickten in die Richtung, aus der der Lärm kam. Eine große Menschengruppe kam auf sie zu.
»Herrje, das hab ich ganz vergessen!«, rief Stanzi aus. »Heut wird ja wieder gestreikt. Jetzt aber flott.« Hastig begann sie ihre auf einem alten Klapptisch ausgelegten Waren einzusammeln. Sie war noch nicht ganz fertig, da waren sie bereits von dem protestierenden Mob umringt. Auch Anita verfluchte sich dafür, die gestern in der Zeitung bekannt gegebene Streikankündigung vergessen zu haben. Soweit sie sich erinnern konnte, waren bis zu vierzigtausend Arbeiter zum Streik aufgerufen worden. Männer der Reichsbahn-Ausbesserungswerke, von metallverarbeitenden Betrieben, Straßenbahner und auch die Mitarbeiter der Straßenreinigung liefen mit. Hinzu noch viele andere, alles hatte sie sich nicht merken können. Es wurde für die Verbesserung der Ernährungslage gestreikt. Doch ob die Arbeitsniederlegung dafür hilfreich wäre, wagte Anita zu bezweifeln. Am Ende schadeten die Menschen mit ihrem Protest noch dem Wiederaufbau.
Stanzi hatte ihre Waren im Eiltempo wieder in ihrem Leiterwagen verstaut, den Tisch zusammengeklappt, und noch ehe Anita sichs versah, verabschiedete sie sich von ihr mit einem knappen »Pfiadi« und verschwand in der Menge. Anita, die mit großen Menschenansammlungen schon immer ein Problem gehabt hatte, spürte, wie in ihr Panik aufstieg. Sie taumelte nun regelrecht durch die Protestierenden. Verzweifelt versuchte sie, irgendwie die Menschenmassen hinter sich zu lassen, doch es wollte ihr nicht gelingen, und sie geriet immer mehr in den Demonstrationszug hinein. Ihre Panik wurde immer größer, und sie glaubte plötzlich, keine Luft mehr zu bekommen. Nach Atem ringend blieb sie stehen. Sie wurde angerempelt und angepöbelt, kam ins Straucheln und wäre beinahe gefallen, hätte sie nicht plötzlich jemand aufgefangen.
»Hoppala!«, drang eine Männerstimme an ihr Ohr. »Ich hab dich.«
Seltsamerweise kam Anita die Stimme bekannt vor. Doch in ihrer Angst wollte ihr nicht gleich einfallen, mit wem sie es zu tun hatte. Der Mann legte den Arm um sie und führte sie seitlich aus dem Demonstrationszug. Als sie endlich wieder mehr Raum hatte, atmete Anita erleichtert auf. Nun wusste sie auch, wer ihr Retter war. Es war Rudolf Bruckner, ein Cousin von Theo, der seit seinem Tod bereits häufiger ihre Nähe gesucht hatte.
»Geht es wieder?«, fragte er und sah sie mit besorgter Miene an. »Demonstrationen scheinen nicht deins zu sein. Wieso nimmst du dann daran teil?«
»Hab ich gar nicht«, verteidigte sich Anita sogleich. »Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Danke fürs Retten.« Sie strich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus der Stirn, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte.
»Gern geschehen«, antwortete er und schenkte ihr ein Lächeln. »Ich muss gestehen, mir erging es ähnlich wie dir. Ich hatte geschäftlich in der Nähe zu tun, und plötzlich war ich mittendrin. So kann es gehen.«
Anita erwiderte sein Lächeln, und plötzlich verspürte sie ein Gefühl in ihrem Inneren, das sie zu deuten wusste und von dem sie geglaubt hatte, dass sie es niemals wieder würde empfinden können. Ein warmes Kribbeln, das sie schaudern ließ. Sollte es tatsächlich sein, dass sie wieder lieben könnte? So recht wollte sie diesen Gedanken noch nicht zulassen, zu schwer nagte an ihr noch immer der Verlust von Theo. Doch er würde niemals wiederkehren. Dieser bitteren Realität musste sie ins Auge blicken. Sie hatte im letzten Jahr ihren achtunddreißigsten Geburtstag gefeiert, längst war sie kein junges Mädchen mehr, doch auch noch nicht zu alt, um ein neues Glück zu finden. Guter Gott, schalt sie sich selbst in Gedanken. Wo dachte sie nur hin? Sie hatte im Moment wahrlich andere Dinge zu tun, als auf die Suche nach einem Bräutigam zu gehen. Obwohl Rudolf mit seinem dunkelbraunen Haar, seinen leuchtend blauen Augen und seinen breiten Schultern durchaus attraktiv war. Das musste sie zugeben. So manche Kriegerwitwe wäre vermutlich froh darüber, von einem Mann wie ihm umgarnt zu werden.
»Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht etwas aufdringlich«, sagte Rudolf plötzlich. »Aber hättest du vielleicht Lust, mir beim Mittagessen Gesellschaft zu leisten? Ich lade dich auch ein. Es wäre nicht weit von hier. Bestimmt kennst du die Gaststätte Zum Tannenbaum in der Kreuzstraße?« Er sah sie erwartungsvoll an, und Anita brachte es nicht fertig, seine Einladung abzulehnen. Sie stimmte zu.
Bald darauf betraten die beiden die Behelfsgaststätte Zum Tannenbaum, wie auf der Hauswand des schlichten Baus geschrieben stand, in dem die Eheleute Fahrngruber ihre von der Tante geerbte Wirtschaft weiterführten. Anita war ein bekanntes Gesicht, denn auch die Fahrngrubers hatten früher ihre Semmeln bei ihnen bestellt.
»Jessas, wer kommt uns denn da mal wieder besuchen?«, wurde Anita von der Inhaberin, Luise Fahrngruber, freudig...
Erscheint lt. Verlag | 25.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2024 • Bäckerei • Brötchen • Buch • Familie • Familienerbe • Familiensaga • Familienunternehmen • Historischer • Innovation • Liebe • München • Nachkriegszeit • Neuerscheinung • Roman • Schwestern • Stachus • Tradition • über |
ISBN-10 | 3-7499-0658-0 / 3749906580 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0658-1 / 9783749906581 |
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