Tanzpalast (eBook)
464 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46689-6 (ISBN)
?Harald Gilbers, geboren 1969, stammt aus Moers am Niederrhein und lebt derzeit in Ostrhauderfehn. Er studierte Anglistik und Geschichte in Augsburg und München. Anschließend arbeitete er zunächst als Feuilleton-Redakteur beim Fernsehen, bevor er als freier Theaterregisseur tätig wurde. Sein Romandebüt »Germania«, der erste Fall für Kommissar Oppenheimer, erhielt 2014 den Friedrich-Glauser-Preis und wurde bislang in acht Sprachen übersetzt. In Japan schaffte es der Roman gleich auf zwei Jahres-Bestenlisten mit ausländischen Krimis. Die Fortsetzung, »Odins Söhne«, wurde 2016 in Frankreich mit dem Prix Historia als bester historischer Kriminalroman ausgezeichnet.
Harald Gilbers, geboren 1969, stammt aus Moers am Niederrhein und lebt derzeit in Ostrhauderfehn. Er studierte Anglistik und Geschichte in Augsburg und München. Anschließend arbeitete er zunächst als Feuilleton-Redakteur beim Fernsehen, bevor er als freier Theaterregisseur tätig wurde. Sein Romandebüt »Germania«, der erste Fall für Kommissar Oppenheimer, erhielt 2014 den Friedrich-Glauser-Preis und wurde bislang in acht Sprachen übersetzt. In Japan schaffte es der Roman gleich auf zwei Jahres-Bestenlisten mit ausländischen Krimis. Die Fortsetzung, »Odins Söhne«, wurde 2016 in Frankreich mit dem Prix Historia als bester historischer Kriminalroman ausgezeichnet.
1
Dienstag, 23. Mai 1950 – Mittwoch, 24. Mai 1950
Jeder wusste, dass die Wüste Propheten und Skorpione hervorbrachte. Er fragte sich, was das für die Einöden der Neuzeit bedeutete, die nicht aus Sand, sondern aus Trümmern bestanden. Was brachte zum Beispiel der Moloch namens Berlin hervor? Das Beste oder das Schlimmste? Oder beides gleichzeitig?
Mit hochgeklapptem Kragen und in die Stirn gezogenem Hut schlenderte der Mann den regenfeuchten Ku’damm entlang und hing diesen Gedanken nach. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ein warmer Tag kündigte sich an. Obwohl die Temperaturen angenehm waren, fiel unentwegt Regen aus den Wolkenmassen. Ziellos streifte der Mann durch die Stadt. Die Angestellten würden frühestens in einer Stunde zur Arbeit strömen. Die leeren Gehsteige kamen ihm gerade recht. Die Unruhe in seinem Inneren war zu groß, um sich auf den Weg zu konzentrieren und Kollisionen zu vermeiden.
Das Gefühl ließ sich schlecht einordnen. Vielleicht war es ja nicht Unruhe, sondern Vorfreude darüber, dass die Frau bald wieder erwachen würde? Dass er eine neue Mission gefunden hatte, die seiner würdig war? Die Straßen waren überfüllt von Götzendienerinnen wie dieser Frau. Wahllos eine von ihnen zu ergreifen fand der Mann jedoch indiskutabel. Es gab den einfachen Weg, und es gab den richtigen Weg. In seinem Leben hatte er sich nie gescheut, den richtigen zu wählen, auch wenn er noch so beschwerlich war.
Im Vorfeld sicherzustellen, dass sein nächster Gast für ihn alle Voraussetzungen erfüllte, war nur der erste Schritt von vielen. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Ergreifung der Frauen. Es musste rasch geschehen und durfte kein Aufsehen erregen. Diese Fertigkeit hatte sich der Mann mittlerweile angeeignet. Doch das allein gab ihm keine Befriedigung. Schließlich handelte es sich dabei nur um die unabdingbare Vorarbeit. Die Ouvertüre zu dem eigentlichen Stück. Erst danach folgte die Phase, auf die es ihm wirklich ankam.
Die Gedanken des Mannes kreisten um die Frage, was geschehen würde, wenn die Frau erkannte, dass sie sich in seinem Gewahrsam befand. Er machte sich keine Illusionen. Zweifellos würde sie es nicht verstehen, genau wie alle anderen vor ihr. Er stellte sich das Entsetzen in ihrem Gesicht vor, wenn sie sich in dem kahlen Zimmer wiederfand und vergeblich an der Tür rüttelte.
Das Licht von Scheinwerfern erfasste den Mann. Ein Auto raste dicht neben ihm durch eine Pfütze und bespritzte seine Beine mit Regenwasser. Viel zu spät sprang der Mann zur Seite. Als er sich mit nassen Schuhen erneut der Straße zuwandte, erkannte er einige Hundert Meter vor sich den Altarraum der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Vor dem blassen Morgenhimmel waren die zerklüfteten Mauern mehr zu erahnen als zu sehen. Die Fensterhöhlen waren leer, das Dach eingestürzt. Zwei der ehemals drei schmalen Seitentürme standen noch und erinnerten an marode Zahnhälse. Allerdings hatte nicht Karies die Löcher in die Fassade gerissen, sondern schwere Geschütze. Zwischen den beiden Zinnen ragte der massive Hauptturm in die Höhe, nur fehlte dort oben die Spitze mit dem Kruzifix.
Der Mann erstarrte mitten in der Bewegung. Die Sonne würde bald aufgehen. Als er seinen Arm hob, um auf die Armbanduhr zu blicken, begriff er, dass er seit fast einer Stunde unterwegs war. Die Wirkung des Beruhigungsmittels würde in Kürze nachlassen. Schon bald würde die Frau aufwachen. Er musste sich sofort auf den Rückweg machen, wenn er das mitbekommen wollte.
Der Mann beschleunigte seine Schritte. Er liebte es, dabei zuzusehen, wie seine Gäste allmählich ihr Bewusstsein wiedererlangten. Die ersten Stunden nach dem Erwachen waren die wichtigsten. Auf den ersten Blick mochten ihre Reaktionen ähnlich sein, und doch hatte der Mann mit der Zeit ein besonderes Gespür dafür entwickelt, hinter die Fassade des Entsetzens zu blicken. Es gab wertvolle Hinweise darauf, ob seine Arbeit mit den Götzendienerinnen schwerfallen oder einfach sein würde. Letztendlich war es eine Frage der richtigen Herangehensweise. Der Mann hatte unterschiedliche Methoden entwickelt. Selbst wenn die Frauen noch so verstockt sein mochten, bislang war er immer ans Ziel gelangt.
Aus seinen beschleunigten Schritten wurde ein Traben. Schließlich begann er zu rennen. Falls er doch jemandem auf dem leeren Prachtboulevard auffallen sollte, gab es immer noch den plausiblen Grund, dass er in dem prasselnden Regen trocken nach Hause kommen wollte.
Niemand würde die Frage stellen, was dort auf ihn wartete.
Am folgenden Nachmittag fuhr Oppenheimer den Ku’damm entlang. Mit seinem Rad war irgendetwas nicht in Ordnung. Seine Waden brannten wie die Hölle, denn auf den letzten Metern hatte er tüchtig in die Pedale treten müssen, um sich überhaupt noch fortzubewegen. Es begann wieder zu schütten, also schlug er kurzerhand den Lenker ein und bremste in einer überdachten Hofeinfahrt ab.
Wenigstens konnte er hier geschützt vor dem Regen die Reifen begutachten. Ein wenig ungelenk beugte er sich nach vorn und bekam seinen Verdacht augenblicklich bestätigt. Der hintere Reifen war platt. Und mit der Luftpumpe ließ sich da auch nichts mehr machen. In dem Profil klaffte ein langer Riss, sogar der Luftschlauch war durchstochen.
Oppenheimer fluchte still in sich hinein. An dem zusammengeflickten Drahtesel musste er nun ein weiteres Bauteil ersetzen. Von dem ursprünglichen Fahrrad waren nur noch der Rahmen und der Gepäcksattel übrig. Auf jeden Fall konnte er so nicht weiterfahren. Er verwarf seine Idee, das Fahrrad durch den Regen nach Hause zu schieben. Die Rio Bar seines guten Freundes Ede erschien ihm als eine bessere Lösung. Sie lag nur wenige Hundert Meter entfernt, und Ede würde ihm sicher erlauben, das fahruntüchtige Rad vorübergehend im Hinterhof abzustellen.
Während Oppenheimer noch den Reifen betrachtete und sich ausrechnete, was ein neuer wohl kosten würde, glitt unweit von ihm eine Limousine an den Straßenrand. Rasch warf er einen Blick zur Seite. Zuerst sah er nur seine eigene Reflexion auf dem polierten schwarzen Lack. Dann erkannte er hinter dem Steuer die scharf umrissene Kontur eines Chauffeurs mit Schirmmütze. Den Fahrer schien es nicht zu kümmern, dass er mit seinem Luxusschlitten die Einfahrt blockierte.
Oppenheimer packte mit beiden Händen den Lenker seines Fahrrads und wollte sich bereits auf den Weg zur Rio Bar machen, als ihn eine Frauenstimme zurückhielt.
»Richard? Bist du das?«
Fragend richtete er sich auf. Die hintere Autotür war geöffnet. Eine Dame in einem weißen Kleid beugte sich ihm entgegen.
Erst als unter dem Hut die feuerroten Haare aufblitzten, erkannte Oppenheimer die Frau.
»Rita«, rief er erstaunt. »Wo kommst du denn her?«
Rita winkte ihn zu sich ins Auto. »Ich hab dich gesucht. Komm, mach ’nen Satz!«
Er wies auf sein Rad. »Mir ist gerade ein Malheur passiert. Ich wollte das Rad bei Ede abstellen.«
Rita überlegte kurz. »Also gut. Treffen wir uns eben dort!« Sie lehnte sich zurück und zog mit der gleichen Bewegung die Tür zu.
Ritas Chauffeur musste die breite Straße zunächst weiterfahren, bis er eine Möglichkeit fand, die Schienen der Straßenbahn zu überqueren. Als der Wagen vor der Rio Bar anhielt, erwartete Oppenheimer sie bereits. Ohne auf eine erneute Einladung zu warten, sprang er durch den Regen und stieg rasch ein.
Rita grinste. »Kompliment! Hurtig wie eine Gazelle.«
»Mach dich nur lustig über mich.« Oppenheimer seufzte. Er war Ritas Frotzelei gewohnt. Seitdem sie in der Rio Bar ihr Geld als Stripteasetänzerin verdient hatte, schien sich das nicht geändert zu haben.
Oppenheimer bemerkte die Ledersitze. Sofort machte er Anstalten, seinen feuchten Mantel auszuziehen, doch Rita winkte ab.
»Lass mal. Nachher wischt Marius drüber, dafür wird er ja bezahlt.«
Damit schien sie den Chauffeur zu meinen, der Oppenheimer im Rückspiegel auch prompt einen strengen Blick zuwarf. Er schloss die Tür, und Marius ließ die Kupplung kommen. Eingeschüchtert lehnte sich Oppenheimer zurück und warf Rita einen langen Seitenblick zu. Ihre grünen Augen blitzten verschmitzt. In einer derart eleganten Aufmachung hatte er sie bislang noch nie gesehen. Er kannte sich mit Kleidern nicht aus, doch der schimmernde Stoff war keine Billigware.
Die Narbe auf Ritas Wange war dick überschminkt, sodass sie im gedämpften Licht des Regentags kaum auffiel. Damals war sie in eine Konfrontation zwischen Ede und einer Bande russischer Deserteure um die Kontrolle der Unterwelt geraten. Wie bei allen Berlinern hatte das Kriegsende auch bei Rita Spuren hinterlassen. Doch aufkeimende Gedanken an die unschöne Vergangenheit wurden von ihnen meistens ignoriert. Und vor allem jetzt, wo sich das Leben in der Stadt wieder ein wenig normalisiert hatte.
Nachdem die Sowjetadministration vor etwas mehr als einem Jahr die Blockade der westlichen Stadtsektoren aufgehoben hatte, wurde Ende September schließlich auch die Luftbrücke offiziell wieder eingestellt. Obwohl die Versorgungstransporte nach Berlin auf ihrer Route quer durch das sowjetisch kontrollierte Territorium auch weiterhin behindert wurden, durfte fortan alles verkauft werden, was in die Läden gelangte. Die Lebensmittelrationierung, die seit Beginn des Krieges den Alltag weitgehend bestimmt hatte, war endlich vorbei.
Überschattet wurden diese Erleichterungen allerdings unverändert von der Konfrontation der Großmächte. Oppenheimer ahnte, dass die Einstellung der Blockade nur eine Galgenfrist bedeutete, bis die Feindseligkeiten von Neuem hochkochen...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Kommissar Oppenheimer | Ein Fall für Kommissar Oppenheimer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 50er Jahre • Berlin Thriller • Ein Fall für Kommissar Oppenheimer • Endzeit • Germania • Harald Gilbers • harald gilbers 8 • Harald Gilbers Kommissar Oppenheimer • Harald Gilbers Kommissar Oppenheimer Reihenfolge • harald gilbers reihenfolge • Historische Kriminalromane • historische Krimis Deutschland • historischer Krimi • Hungerwinter • Kalter Krieg • Kommissar Oppenheimer • Kommissar Oppenheimer 8 • Kommissar Oppenheimer Reihenfolge • krimi berlin • Krimi deutsche Autoren • Krimi Deutschland • Krimi Drogen • Kriminalromane Berlin • Kriminalromane Serien • Krimi Politik • krimi reihen • Krimi Serienmörder • Krimis für Männer • Luftbrücke • Nachkriegszeit • Nachkriegszeit Krimi/Thriller • Odins Söhne • Politische Krimis • Polizei Krimis/Thriller • Serienmörder • Totenliste • Trümmertote |
ISBN-10 | 3-426-46689-9 / 3426466899 |
ISBN-13 | 978-3-426-46689-6 / 9783426466896 |
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