Amrum -  Hark Bohm,  Philipp Winkler

Amrum (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2024
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3132-4 (ISBN)
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Über die Verbundenheit zu einer Insel, die alles überdauert Zwischen Heidekrautfeldern und dem endlosen Watt ist Nanning zu Hause: Amrum, die Nordseeinsel ist alles, was er kennt. Gemeinsam mit seinem besten Freund trotzt er der kargen Natur ab, was er kann, um während des Krieges für seine Familie zu sorgen. Sie jagen Kaninchen, treten Schollen und tauschen ihre Beute gegen das Notwendigste. Wenn es hart auf hart kommt, hält die Gemeinschaft zusammen, doch Nanning spürt das Misstrauen ihm und seiner regimetreuen Familie gegenüber. Mit dem Tod Hitlers brechen neue Zeiten an, und für Nanning wird sich alles ändern. Amrum erzählt voll wilder Schönheit davon, was Herkunft bedeutet - und wie man lernt, den eigenen Weg zu gehen. Der Roman ist ein poetisches Zeitzeugnis, in dessen Kern eine zutiefst menschliche Geschichte steht.

Hark Bohm wurde 1939 in Hamburg geboren und verlebte seine Kindheit auf Amrum. Er ist einer der bekanntesten Regisseure, Drehbuchautoren und Produzenten Deutschlands. Zu seinen größten Erfolgen zählen u. a. Nordsee ist Mordsee, Yasemin und Aus dem Nichts, für dessen Drehbuch er mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Amrum ist sein erster Roman, den er gemeinsam mit Philipp Winkler schrieb.

»Ob als Filmemacher, Gesprächspartner oder Literat: Hark Bohm ist stets ein wahrhaft generöser Geschichtenerzähler.« – Fatih Akin

1


Bald würde sich die Nacht in die Schatten zurückziehen, die die Dünen in ihre Täler warfen. Das erste Licht des Tages würde zunächst kaum wahrnehmbar und blass wie eine Vorahnung am östlichen Horizont erscheinen. Aber noch lagen die Dünentäler ausgekühlt und dunkel da, unberührt vom neuen Tag.

Die Silbermöwe glitt mühelos, ohne Flügelschlag, über die mit Flechten, Moosen und Heidekraut bewachsene hügelige Landschaft, die den Dünen vorgelagert war. Von irgendwoher erklang das ansteigende, plötzlich die Stille zerreißende Trillern von Austernfischern, die sich in die Luft erhoben hatten. Dazwischen die klagende Altstimme eines Brachvogels, vom Wind aus den Salzwiesen herbeigeweht. Die Möwe ließ sich den Hang einer Düne hinauftragen. Den Schnabel weit aufgerissen, stimmte sie mit mehrmals aufeinanderfolgenden heiseren Rufen in den Chor der anderen, ständig wechselnden Vogelstimmen ein. Sie hob sich leicht über den Strandhafer hinweg, der oben auf dem Kamm der Düne im Westwind wogte. Zusammen mit der Brandung des Meeres gab der Wind Rhythmus und Akkord vor, allgegenwärtig und unablässig – das Grundrauschen der Insel, unabhängig vom Kentern der Tiden, vom Wechsel von Tag und Nacht.

Hinter dem Dünengras, das sich immer wieder dem auflandigen Wind beugte, um sich dann wie aufatmend kurz wieder aufzurichten, öffnete sich der Blick auf eine Kolonie brütender Möwen, die Nester mit den Vögeln weit in die Landschaft gestreute weiße Punkte. Die Silbermöwe strich darüber hinweg, während einzelne Vögel aus der Kolonie aufstiegen. Am Himmel war die Silhouette einer Rohrweihe erschienen, und die brütenden Möwen zögerten keinen Augenblick, sie anzugreifen und zu vertreiben. Die Rohrweihe drehte angesichts der auf sie zufliegenden schreienden Möwengruppe ab und strich nach Osten davon. Die Möwen beruhigten sich, ihre kraftvollen Flügelschläge ließen nach, und sie glitten dahin, getragen vom Westwind, kreisten und ließen sich in die Höhe tragen.

Die Dünenlandschaft aus Licht und Schatten, die schier endlos erschienen war, wurde unter ihnen immer kleiner. An ihrem Rand war der von Heidekraut bewachsene Geest­rücken zu sehen, der schon bald, wenn die Heide blühte, in einer Mischung aus Rot-, Blau- und Violett-Tönen erstrahlen würde. Noch höher stiegen die schwebenden Möwen, und nun lag die Inselwelt zur Gänze unter ihnen: Wittdün und die lange Landungsbrücke, der Pier von Steenodde, der Leuchtturm bei Süddorf, Nebel mit seinen Reetdächern, die Kirche, Norddorf, und noch nördlicher der Zipfel der Insel, die Odde, das Quermarkenfeuer im Westen, die Vogelkoje, der Friedhof der Namenlosen. Sandige Weiden, wenig fruchtbares Land, die Marschen und die Salzwiesen – genau wie die Dünen voller Vogelleben.

Unter alldem: der jahrtausendealte Geestkern aus skandinavischem Gestein, Geschiebelehm, Schmelzwasser- und Decksanden. Die Insel Amrum spannte sich, einem Bogen gleich, weit draußen gegen die offene Nordsee. Auf der Brandungsseite legte sich das lange, breite, helle Band des Kniepsandes an die Dünenlandschaft der Westküste, und auf der anderen, dem Festland zugewandten Seite, hinter Deich und Salzwiesen, breitete sich das Wattenmeer aus.

Die Möwenschar ließ sich auf dem ungewöhnlich sanften Westwind dieses Morgens über der Norddorfer Marsch sinken. Was sich zuvor in der Dämmerung nicht abgehoben hatte, nahm nun langsam Gestalt an: eine Gruppe weidender Rinder, ein Pferdewagen an einem Feldweg, ein von zwei Pferden gezogener Pflug auf einem Acker, geführt von einer Frau. Und ein Stück dahinter zwei blonde Kinder, die sich langsam eine Furche entlangarbeiteten. Die beiden Jungen, vertieft in das, was sie taten, sahen nicht auf, als die Möwen über sie hinwegzogen, in Richtung der aufgehenden Sonne und des Watts, das im Licht der ersten Sonnenstrahlen feucht schimmerte.

Nanning stand breitbeinig über einer der zahlreichen Furchen auf dem Acker. Er ließ eine Kartoffel hineinfallen. Dann stakste er voran, die Knie durchgedrückt. Derweil langte er in das Tuch, dessen Knoten ihm das Gewicht der Kartoffeln in den Nacken presste, und ließ eine weitere in die Furche plumpsen. Ein paar Schritt hinter ihm häufelte Hermann mit einer Hacke den aufgelockerten grauen Geestboden über die vorgekeimten Kartoffeln.

Als die beiden Freunde angefangen hatten, den Bendixens bei der Feldarbeit zu helfen, zwei Jahre zuvor war das gewesen, da hatten sowohl Hermann als auch Tessa Nanning gesagt, er denke zu viel. Unabhängig voneinander. Das sei sein Problem. Wenn er, wie an diesem Tag, dran war, die Kartoffeln zu legen, ging es der Bäuerin bisweilen nicht schnell genug. Aber Hermann und er wussten, dass Tessas Rumgebölke oft gar nicht mal so ernst gemeint war. Sie sich manchmal einfach Luft machen musste. Wahr blieb es dennoch. Nanning dachte zu viel darüber nach, ob die Kartoffeln nun denselben Abstand zueinander hatten oder er noch eine Fußlänge weitergehen sollte. Oder eher zurück? Und dann fing sein Kopf an zu rasen. Er, Nanning, wäre dafür verantwortlich, wenn die Kartoffelernte in die Binsen ginge und die Norddorfer in Kriegszeiten verhungern würden. Seiner Mutter würden sie eine Mitschuld geben, hatte sie ihn doch in diese Welt gesetzt. Noch dazu würde seine Mutter ja ebenfalls verhungern. Und das alles nur, weil er die Kartoffeln zu eng oder zu weit auseinander gelegt hatte. Natürlich gab er das Tessa gegenüber nicht zu. Selbst Hermann sagte er davon nichts. Aber als bester Freund, dachte Nanning später, da hat man Ahnungen, auch wenn man nichts Genaues weiß. Dafür ist man das ja schließlich – ein bester Freund.

»Kommt mit der Übung. Einfach machen, denn kommst erst gar nich’ groß ins Denken«, hatte ihm Hermann damals gesagt.

Es stimmte. Die Übung machte es. Je weniger Nanning an mögliche Folgen dachte, desto schneller wurde das Kartoffelnlegen zu bloßer Routine. Je mehr er den Kopf ausschaltete und darauf achtete, wie sich die krümelige Geest­erde zwischen seinen Zehen anfühlte. Wie das stete Pusten und Luftholen des Windes klang. Das Rauschen des Meeres und das vielstimmige Durcheinander der Vogelrufe.

Was Nanning nur eine Sekunde zuvor noch für einen Teil der Brandung gehalten hatte, wurde jetzt lauter und bohrte sich durch das singende und pfeifende Geflecht. Er hob den Kopf, kniff die Augen zusammen und riss sie sogleich wieder auf. Aus dem Gleißen der Morgensonne dröhnte ein Geschwader Bombenflugzeuge heran. Mit einem einzigen Satz war Nanning bei Hermann, der seine Augen mit der Hand beschirmte. Nanning grapschte nach der Hacke und stemmte sie sich in die Schulter. Am anderen Ende, das er nun gen Himmel richtete, stellte er sich das Korn vor und nahm, am Stiel entlangblickend, einen der sich nähernden Bomber ins Visier. Flach wie eine Scholle schaute seine Zungenspitze zwischen den Lippen hervor. Er wartete auf den richtigen Moment. Dann drückte er ab. Dreimal. Tack, tack, tack machte es in seinem Kopf. Bei jedem Schuss ahmte er einen Rückstoß nach. Dazwischen lud er die Hacke nach. Tschack, tschack in seinem Kopf. In dem Augenblick, in dem er erneut ansetzte, nachzuladen, warf das von ihm anvisierte Flugzeug eine Bombe ab. Die Hacke fiel Nanning aus der Hand. Mit einem winselnden Kreischen, das ihm in den Ohren stach, fiel die Bombe herab. Er hörte Tessas Pferde wiehern und wandte sich um.

»Hohoho!«, machte Tessa.

Die Pferde bäumten sich auf und traten aus. Geschirr und Deichsel hielten sie davon ab, zu steigen. Tessa hatte die Zügel straff gepackt und wurde hin- und hergerissen. Dabei löste sich ihr Haarknoten, sodass es aussah, als wäre sie mit einem Armvoll Stroh beworfen worden.

Das dumpfe Geräusch von Aufschlag und Detonation der Fliegerbombe ließ Nanning unwillkürlich den Kopf einziehen und zurück nach Osten blicken. Er sah, wie aus dem Watt eine spritzende dunkle Wucht von Schlamm gegen den Morgenhimmel aufstieg. Auf ihrem Höhepunkt schien sie für einen Moment zu verharren, erstarrt zu einem gigantischen grauen Baum. Dann regneten Schlick und Matsch herab. Das Bombergeschwader zog mit knurrenden Motoren über die Insel. Nannings Blick folgte ihnen über die Dünen hinweg, auf die offene See raus und zum Horizont, der für ihn verdeckt war und irgendwo weit, weit hinter der Jungnamensandbank lag. Nanning stand der Mund offen. Er hörte Hermann schwer atmen. Die Nordsee brandete an die Insel. In einem lang gezogenen Muhen rief von irgendwo in der Marsch ein Rind über den Geestrücken. Und die Vögel nahmen ihre nicht enden wollende Unterhaltung wieder auf, klagten und schrien ringsumher. Das Geträller einer Feldlerche zog Nannings Aufmerksamkeit auf sich. Er suchte den Himmel nach ihr ab.

Drüben half Tessa dem rechten ihrer beiden fuchsfarbenen Schleswiger dabei, sein ins Geschirr getretenes Hinterbein frei zu bekommen. Während sie beruhigend auf die beiden Pferde einredete, legte sie sich die Zügel über die Schulter und knotete rasch ihr Haar wieder zusammen. Dann griff sie nach der Gabel des Pflugs, und mit einem Zungenschnalzen trieb sie die Pferde erneut an. Mit nickenden Köpfen zogen sie an. Nanning war einmal mehr beeindruckt, mit welch festem Griff Tessa den in...

Erscheint lt. Verlag 25.4.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte akin • Angeln • Auto • Boot • Buch • Dreh • Erinnerung • Familie • Fiktion • Film • Forelle • Freundschaft • Geschichte • Geschwister • Insel • Jagen • Jungs • Kindheit • Krieg • Landschaft • Licht • Meer • Regisseur • Robben • Schauspieler • Strand • Überleben • Vögel • Warner Bro's • Welt • Wild
ISBN-10 3-8437-3132-2 / 3843731322
ISBN-13 978-3-8437-3132-4 / 9783843731324
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