Mein Name ist Estela (eBook)
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28045-8 (ISBN)
Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.
Alia Trabucco Zerán, geboren 1983 in Santiago de Chile. Ihr Debütroman 'Die Differenz' (2021) wurde für den International Booker Prize nominiert und 2022 mit dem British Academy und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Mein Name ist Estela ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.
Das Hinterzimmer zeigten sie mir nicht. Ich rede vom Tag des Vorstellungsgesprächs. Dieses Zimmer, das sie »dein Zimmer« nannten und das ich das Hinterzimmer nennen werde. Erst am folgenden Montag, meinem ersten Arbeitstag, bekam ich es zu Gesicht. Die Señora nahm mich in Empfang, bleich war sie, das Gesicht schweißgebadet.
Fühl dich wie zu Hause, sagte sie und ging davon, um sich auszuruhen.
Ich ging allein in die Küche und wunderte mich, diese merkwürdige Tür nicht schon vorher bemerkt zu haben. Sie verlor sich zwischen den Fliesen an der Wand, wie eine Geheimtür. Ich trat ein Stück näher und schob sie auf. Wussten Sie schon, dass es sich um eine Schiebetür handelte? Um keinen Raum zu vergeuden. Um nicht an das Bett zu stoßen. Man öffnete sie also nicht wie eine normale Tür, sodass ich sie nach links schob und zum ersten Mal hineinging.
Notieren Sie bitte, was es dort drinnen alles gab, vielleicht ist das irgendwie von Bedeutung: ein Einzelbett, einen kleinen Nachttisch, ein Lämpchen, eine Kommode, einen alten Fernseher. In der Kommode sechs Schürzen: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Sonntag war mein freier Tag. Es gab keine Bilder, auch keine Dekoration, nur ein kleines Fenster. Dafür ein Bad mit Dusche, ein alter Schminktisch und ein paar feuchte Stellen an den Wänden, die sich vor Lachen auszuschütten schienen.
Ich schloss die Tür hinter mir und blieb stehen, die Lippen plötzlich ganz trocken. Ich spürte, wie meine Beine weich wurden, und setzte mich auf die Bettkante. Und dann hatte ich ein Gefühl … wie soll ich das beschreiben. Ich fühlte, dass ich das Zimmer noch gar nicht betreten hatte und dass ich selbst, von draußen her, die Frau betrachtete, die ich ab jenem Moment sein würde: die über dem Rock gefalteten Hände, die trockenen Augen, der trockene Mund, die schnelle Atmung. Ich bemerkte, dass die Zimmertür aus geripptem Milchglas war. Der Señor musste hier eines seiner Lieblingswörter benutzt haben: ge-schlif-fen. Eine Tür aus mattem Glas verband das Schlafzimmer mit der Küche. Und dort lebte ich sieben Jahre lang, auch wenn ich es nie, nicht ein einziges Mal, »mein Zimmer« nannte. Schreiben Sie das in Ihre Akten, na los, keine falsche Scheu: »Weigerte sich kategorisch, den Raum als ihr Zimmer zu bezeichnen«. Und am Rand fügen Sie noch hinzu: »Weigerung«, »Ressentiment«, »mögliches Tatmotiv«.
Nach einer Weile hörte ich, wie jemand in die Küche kam und draußen auf mich wartete … oder drinnen. Ich weiß es nicht. Womöglich war das Zimmer draußen und die Küche drinnen. Diese Dinge sind verworren, für mich zumindest: drinnen, draußen; gegenwärtig, vergangen; vorher, nachher.
Die Señora räusperte sich, ich schluckte und sagte:
Ich komme.
Oder vielleicht räusperte sich auch niemand, und ich sagte nichts, und jene Frau, die ich für die folgenden sieben Jahre sein würde, zog sich aus und streifte sich die Kittelschürze über den Kopf. Sie kam mir am Hals sehr straff vor, zu eng für mich, aber als ich den obersten Knopf öffnen wollte, merkte ich, dass da kein Knopfloch war. Ein dekorativer Knopf am Hals der Hausangestellten. Die anderen fünf Schürzen hatten den gleichen falschen Knopf.
Es ist seltsam, dass ich mich gerade an dieses Detail erinnere, aber nicht die geringste Ahnung habe, was ich den Rest des Tages über tat. Ich weiß nicht, ob ich kochte. Ich weiß nicht, ob ich wusch. Ich weiß nicht, ob ich die Pflanzen goss. Ich weiß nicht, ob ich bügelte. Aus diesen Wochen erinnere ich mich an nichts außer an unsere anhaltende Verfolgungsjagd. Wenn ich das Wohnzimmer betrat, entschwand die Señora leise ins Esszimmer. Wenn ich das Esszimmer betrat, flüchtete sie Richtung Badezimmer. Wenn ich das Badezimmer saubermachen wollte, sperrte sie sich in ihrem Arbeitszimmer ein. Ich wusste nicht, was ich tun, wohin ich gehen sollte. Wegen ihrer Schwangerschaft bewegte sie sich nur mit Mühe, doch sie nahm lieber Reißaus vor mir, als allein und stumm mit einer Fremden zusammen zu sein. Denn das war ich ja, eine Fremde. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt ich aufhörte, es zu sein. Als sie mich zu bitten begann, ihre Unterhosen mit der Hand zu waschen, mir zu sagen, Estelita, die Kleine hat gebrochen, bitte, wisch den Boden mit Chlor. Aber fragen Sie sie mal nach meinem Geburtstag, fragen Sie sie, wie alt ich bin.
In jener ersten Woche wussten sie nicht einmal, wie sie mich anreden sollten. Immer wieder rutschte ihnen der Name der Frau heraus, die vorher im Haus gearbeitet hatte. Diejenige, die ihnen bisher den Grund der Kloschüssel geschrubbt und dienstags und freitags den Müll rausgebracht hatte. Die Salat Olivier für sie zubereitet und ihnen beim Schlafen zugesehen hatte. Sie sagten es mir nie, aber ich weiß es, weil keiner der beiden in der Lage war, meinen Namen richtig auszusprechen.
Mmmestela, sagten sie.
Ich frage mich immer noch, wie wohl der Name meiner Vorgängerin lautete: María, Marisela, Mariela, Mónica. Der Anfangsbuchstabe steht außer Frage, erst nach Monaten verschwand er.
Ich für meinen Teil nannte sie immer »die Señora«. Die Señora ist nicht da. Möchte die Señora etwas essen? Um wie viel Uhr kommt die Señora zurück? Aber sie heißt Mara, Doña Mara López. Sicher haben Sie, als Sie sie vorgeladen haben und die Señora Sie wie einen Fleck angestiert hat, als registrierte sie einen Fehler, zu ihr gesagt: »Señora Mara, nehmen Sie bitte Platz. Möchten Sie ein Glas Wasser? Einen Tee? Zucker oder Süßstoff?«, während Sie sich, genau wie ich, gefragt haben, wer in aller Welt so heißt. Als würde man Jula oder Veronca heißen. Wie man mit so einer Lücke leben konnte.
Da war etwas an ihr. Wie … lassen Sie mich nachdenken. Verdrossenheit. Oder nein, das ist nicht das richtige Wort. Verachtung, das ist es. Als ob alle Welt Langeweile in ihr hervorriefe oder sie jegliche Form von Nähe ablehnte. Das war zumindest ihre Fassade. Die Maske, die sie sorgfältig Morgen für Morgen anlegte. Darunter lief sie vor Wut rot an, wenn ihr Mann zu spät von der Arbeit kam oder ihre Tochter das schon durchgekaute Essen auf den Teller zurückspuckte; und ihr Lid, das linke, zuckte unablässig, als ob ein Stückchen ihres eigenen Gesichts sich davonmachen und nie wiederkommen wollte.
Aber ich schweife ab, das stimmt. Muss die mangelnde Gewohnheit sein. Das Gesicht der Señora hat keinerlei Bedeutung, ich muss Ihnen auch von ihm erzählen.
Ihn nannte ich, Sie haben es schon erraten, den »Señor«, auch wenn ich ihn manchmal auch »dein Papa« nannte. Wo ist dein Papa? Ist dein Papa schon da? Aber sein Name war Cristóbal. Don Juan Cristóbal Jensen. Ein etwas schroffer Mann mit frühen Geheimratsecken und hellblauen Augen, die der Flamme des Gasboilers ähnelten. Jeden Morgen murmelte er den gleichen Satz, ehe er zur Arbeit ging: Wieder ein neuer Arbeitstag. Vielleicht war es nur eine Marotte, oder aber er verabscheute sie wirklich. Ich rede von seiner Arbeit, kein Grund zur Panik. Er hasste seine Kollegen, die Krankenschwestern, jeden einzelnen seiner Patienten. Sicher haben Sie ihn schon gesehen mit seinem glatt gebügelten Hemd, den wohlpolierten Schuhen, in Erwartung, dass ihm jemand dafür dankt, sein Leben gerettet zu haben. Oder vielleicht hat er schon seinen weißen Kittel an, damit man ihn »Herr Doktor« nennt. Das liebte er nämlich, wenn man über ihn als »Doktor Jensen« sprach. Aber halten Sie das in Ihren Papieren fest: Doktor zu sein, bedeutet überhaupt nichts. Nicht, wenn deine einzige Tochter stirbt. Nicht, wenn du unfähig bist, sie zu retten.
Wir sprachen wenig miteinander, er und ich. Es genügte, ihm pünktlich das Essen zu servieren und seine Hemden zu waschen und zu bügeln. Ich wüsste nicht, wie ich ihn noch beschreiben sollte, vielleicht können Sie mir helfen. Wie würden Sie eine Person definieren, die nicht raucht, die kaum trinkt, die, bevor sie den Mund aufmacht, jedes Wort abwägt, abmisst, um so unbedachte Antworten zu vermeiden, die nur Zeit kosten würden? Ein Mann, besessen von der Zeit:
Wir essen in einer Stunde, Estela.
Wärm das Essen in fünfzehn Minuten auf.
Ich komme zehn Minuten zu spät in die Klinik.
Ich habe zwei Minuten fürs Frühstück.
In zehn Minuten bin ich da, öffne das Tor.
Ich zähle bis drei.
Zwei.
Eins.
Ein ewiger Countdown.
...Erscheint lt. Verlag | 19.2.2024 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Original-Titel | LIMPIA |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anna Seghers • Ausbeutung • Bedrohung • Camus • Chile • Eskalation • Familiendrama • Feminismus • Hausangestellte • Herrschaftsverhältnisse • Internationale Literatur • Kammerspiel • Kindermädchen • Klassengesellschaft • Lateinamerika • Leben und Tod • Leila Slimani • Machtdynamiken • Nanny • Philosophie • Preisgekrönt • Protest • Santiago • Schattenexistenz • spanischsprachige Literatur • Sprachlosigkeit • Straßenhund • Suizidgedanken • Swimmingpool • Tragödie • Vater, Mutter, Kind • Vater-Tochter-Beziehung • Verhör • Villa • Widerstand |
ISBN-10 | 3-446-28045-6 / 3446280456 |
ISBN-13 | 978-3-446-28045-8 / 9783446280458 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich