Der verbotene Ort (eBook)

Kommissar Adamsberg ermittelt

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
480 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-31678-5 (ISBN)

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Der verbotene Ort -  Fred Vargas
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Drei Morde, die an Kaltblütigkeit kaum zu überbieten sind und ein Kommissar auf den Spuren einer alten Legende - der sechste Fall für Kommissar Adamsberg!
Während eines Aufenthalts in London macht Kommissar Adamsberg eine grausige Entdeckung: Vor dem Eingang des Highgate-Friedhofs stehen Schuhe aufgereiht, in denen zwar Füße, jedoch nicht die zugehörigen Menschen stecken. Froh, dass der Fall nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fällt, reist er zurück nach Paris. Doch kaum dort angekommen, wird er mit einem neuen kaltblütigen Verbrechen konfrontiert, bei dem ein Gerichtsreporter verstümmelt wurde. Wenig später folgt die Meldung eines fast identischen Vorfalls in Wien. Adamsberg, der einen Zusammenhang zwischen den Morden vermutet, stürzt sich in die Ermittlungen, die ihn auf die Spuren einer alten Legende führen ...

Wenn Ihnen die Krimis um Kommissar Adamsberg gefallen, lesen Sie auch die Evangelisten-Reihe unserer Bestseller-Autorin Fred Vargas!

Fred Vargas, geboren 1957, ist ausgebildete Archäologin und hat Geschichte studiert. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin mit internationalem Renommee. 2004 erhielt sie für »Fliehe weit und schnell« den Deutschen Krimipreis, 2012 den Europäischen Krimipreis für ihr Gesamtwerk und 2016 den Deutschen Krimipreis in der Kategorie International für »Das barmherzige Fallbeil«.

2


»Auch bei Ihnen passieren ja merkwürdige Dinge«, sagte Superintendent Radstock auf Englisch zu seinen Pariser Kollegen.

»Was sagt er?«, fragte Adamsberg.

»Dass auch bei uns merkwürdige Dinge passieren«, übersetzte Danglard.

»Das stimmt«, sagte Adamsberg, ohne sich weiter für das Gespräch zu interessieren.

Viel wichtiger war ihm im Augenblick, dass er laufen konnte. Er war in London, es war Juni und es war Nacht, er wollte laufen. Diese zwei Tage Kolloquium begannen an seinen Nerven zu zerren. Stundenlang sitzen zu müssen, war eine der wenigen Prüfungen, die sein Phlegma brechen, ihn in den seltsamen Zustand versetzen konnten, den die anderen »Ungeduld« oder »Hektik« nannten und der ihm normalerweise unerreichbar war. Am Tage zuvor war es ihm dreimal gelungen, sich davonzustehlen, er hatte einen summarischen Spaziergang durch das Viertel gemacht, hatte sich Häuserfluchten mit ihren Klinkerfassaden eingeprägt, den Ausblick auf Reihen weißer Säulen und schwarz-goldener Laternen gespeichert, er war ein Stück durch ein Gässchen namens St. John’s Mews gelaufen, weiß Gott, wie man so was wie »Mews« aussprechen sollte. Dort war ein Schwarm Möwen englisch schreiend aufgeflogen. Doch seine Abwesenheiten waren bemerkt worden. Heute hatte er in seinem Sessel ausharren müssen, hatte störrisch geschwiegen zu den Diskussionsbeiträgen seiner Kollegen, unfähig, dem schnellen Rhythmus des Dolmetschers zu folgen. Die hall war gesättigt mit Polizisten, die sich mit großem Einfallsreichtum der Aufgabe widmeten, das Netz enger zu ziehen, durch welches »der Strom der Migranten harmonisiert« und Europa mit einem unüberwindlichen Gatter umzäunt werden sollte. Da Adamsberg jedoch dem Festen stets das Flüssige, dem Statischen das Geschmeidige vorgezogen hatte, folgte er naturgemäß den Bewegungen dieses Stroms und suchte mit ihm nach Möglichkeiten, wie die Befestigungsanlagen, die unter seinen Augen hochwuchsen, zu überwinden wären.

Radstock, dieser Kollege von New Scotland Yard, schien sehr beschlagen in Netzen, wiederum aber nicht besessen genug von der Frage ihrer Effektivität. Er wollte in knapp einem Jahr in Rente gehen, mit der sehr britischen Vorstellung, dann an irgendeinem See im Norden angeln zu gehen, so berichtete Danglard, der alles verstand und alles übersetzte, auch das, was Adamsberg gar nicht wissen wollte. Adamsberg wäre es lieber gewesen, wenn sein Stellvertreter mit seinen unnützen Übersetzungen etwas sparsamer umginge, aber Danglards Freuden waren so selten, und er schien so froh zu sein, sich in der englischen Sprache zu sielen wie das Wildschwein in einem Schlamm von besonderer Qualität, dass Adamsberg ihm kein Gran seiner Zufriedenheit nehmen wollte. Danglard wirkte glücklich hier, fast beschwingt, sein weicher Körper straffte sich, seine hängenden Schultern nahmen Form an, er gewann an Auftreten und Statur, was ihn beinahe zu einem bemerkenswerten Menschen machte. Vielleicht nährte er den Gedanken, eines Tages seinen Ruhestand gemeinsam mit diesem neuen Freund zu genießen, beim Angeln an jenem See da oben.

Radstock nutzte Danglards Gutwilligkeit, um ihm in allen Einzelheiten sein Leben beim Yard zu erzählen wie auch eine Menge schlüpfriger Anekdoten, von denen er meinte, dass sie französischen Gästen gefallen würden. Danglard hatte ihm während des ganzen Mittagessens mit großer Geduld zugehört und zugleich die Qualität des Weins im Auge behalten. Radstock nannte den Commandant »Denglarde«, und sie überboten sich gegenseitig in Geschichten und versorgten sich mit Getränken, Adamsberg im Schlepptau hinter sich lassend. Der Kommissar war der Einzige unter den hundert Bullen, der nicht einmal Rudimente der Sprache beherrschte. Er wohnte der Veranstaltung mehr am Rande bei, wie er auch gehofft hatte, und nur wenige Leute hatten überhaupt verstanden, wer er wirklich war. An seiner Seite sah man den jungen Brigadier Estalère mit seinen von chronischem Erstaunen immer weit aufgerissenen grünen Augen. Es war Adamsbergs Wunsch gewesen, ihn mit auf diese Reise zu nehmen. Er hatte gemeint, der Fall Estalère werde sich schon noch arrangieren, und von Zeit zu Zeit bemühte der junge Mann sich ja auch, dahin zu gelangen.

Die Hände in den Taschen seines eleganten Anzugs, genoss Adamsberg in vollen Zügen diesen langen Spaziergang, auf dem Radstock von einer Straße in die andere ging, um ihnen die Kuriositäten des Londoner Nachtlebens vorzuführen. Hier eine Frau, die unter einem Dach aneinandergenähter Regenschirme schlief, einen teddy bear von über einem Meter Größe im Arm. »Einen Plüschbären«, übersetzte Danglard.

»Das hatte ich verstanden«, sagte Adamsberg.

»Und dort«, Radstock wies in eine rechtwinklig abzweigende Avenue, »sehen Sie Lord Clyde-Fox. Einen Vertreter jener Spezies, die man bei Ihnen den exzentrischen Aristokraten nennt. Offen gesagt, wir haben nicht mehr allzu viele von ihnen, sie reproduzieren sich kaum. Der hier ist noch jung.«

Radstock blieb stehen, um ihnen Zeit zu lassen, den Mann zu betrachten, und er tat es mit der Befriedigung eines Menschen, der seinen Gästen ein seltenes Stück zeigt. Adamsberg und Danglard betrachteten ihn folgsam. Groß und hager, tanzte Clyde-Fox mal auf dem einen, mal auf dem anderen Bein unbeholfen auf der Stelle, immer kurz vor dem Umfallen. Zehn Schritt von ihm entfernt stand schwankend ein anderer Mann, eine Zigarre im Mund, der die Bemühungen seines Gefährten beobachtete.

»Interessant«, sagte Danglard höflich.

»Er treibt sich oft hier in der Gegend herum, wenn auch nicht jeden Abend«, meinte Radstock, so als würden seine Kollegen einen echten Glücksfall erleben. »Wir schätzen einander. Herzlich, hat immer ein freundliches Wort. Er ist ein Orientierungspunkt in der Nacht, ein vertrautes Licht. Zu dieser Stunde kommt er von seinem Streifzug zurück und versucht nach Hause zu gehen.«

»Betrunken?«, fragte Danglard.

»Nie ganz. Er setzt seine Ehre darein, bis an seine Grenzen zu gehen, sämtliche Grenzen, und sich dort festzuklammern. Er behauptet, wenn er sich auf einem Grat bewege, in der Balance zwischen einem Abgrund und dem anderen, sei er zwar sicher zu leiden, aber nie, sich zu langweilen. Alles in Ordnung, Clyde-Fox?«

»Alles in Ordnung, Radstock?«, erwiderte der Mann und wedelte mit der Hand.

»Amüsant«, meinte der Superintendent. »Zumindest in seinen guten Momenten. Als vor zwei Jahren seine Mutter starb, hat er eine ganze Schachtel Fotos von ihr aufessen wollen. Seine Schwester ging ziemlich brutal dazwischen und die Sache endete böse. Eine Nacht im Krankenhaus für sie, eine Nacht auf der Polizeiwache für ihn. Der Lord raste vor Zorn, dass man ihn daran hinderte, die Fotos zu verschlingen.«

»Er wollte sie wirklich essen?«, fragte Estalère.

»In der Tat. Aber ein paar Fotos, was ist das schon? Es heißt, bei Ihnen hat einer mal einen hölzernen Schrank essen wollen.«

»Was sagt er?«, erkundigte sich Adamsberg, als er Radstock die Brauen runzeln sah.

»Er sagt, bei uns habe einer seinen Schrank aufessen wollen. Was er übrigens in ein paar Monaten auch geschafft hat, mit zeitweiliger Unterstützung von zwei, drei Freunden.«

»Und es ist eine wahre Begebenheit, nicht wahr, Denglarde?«

»Absolut wahr, so geschehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.«

»Das ist völlig normal«, meinte Estalère, der seine Worte wie seine Gedanken häufig schlecht wählte. »Ich weiß von einem Mann, der ein Flugzeug gegessen hat, und er hat nur ein Jahr dafür gebraucht. Ein kleines Flugzeug.«

Radstock nickte ernst. Adamsberg hatte an ihm einen Hang zu feierlichen Darlegungen beobachtet. Er bildete mitunter sehr lange Sätze, die – nach ihrem Tonfall zu urteilen – von der Menschheit handelten und wie es um sie stand, vom Guten und vom Bösen, vom Engel und vom Dämon.

»Es gibt Dinge«, sagte Radstock, und Danglard übersetzte simultan, »die der Mensch sich nicht vorstellen kann, solange ein anderer Mensch nicht auf die ausgefallene Idee kommt, sie zu verwirklichen. Aber wenn diese Sache, ob gut oder schlecht, erst einmal ausgeführt ist, findet sie Eingang in das Gemeingut der Menschheit. Wird verwendbar, wiederholbar und sogar überbietbar. Der Mensch, der den Schrank gegessen hat, eröffnet einem anderen die Möglichkeit, ein Flugzeug zu essen. So enthüllt sich mit der Zeit der große, unbekannte Kontinent des Irrsinns wie eine geografische Karte, die in dem Maße Gestalt annimmt, wie das Land erforscht wird. Wir schreiten in ihm ohne jede Sicht voran, allein auf die Erfahrung gestützt, das habe ich meinen Jungs immer wieder gesagt. So ist Lord Clyde-Fox gerade dabei, seine Schuhe aus- und wieder anzuziehen, das macht er nun schon wer weiß wie viele Male. Und keiner weiß, warum. Wenn man es erst herausbekommen hat, kann jemand anders dasselbe tun.«

»He, Clyde-Fox!«, rief der alte Polizist und ging auf ihn zu. »Irgendein Problem?«

»He, Radstock!«, erwiderte der Lord mit sehr sanfter Stimme.

Die beiden Männer begrüßten sich mit einem vertrauten Zeichen, zwei Nachtvögel, Experten alle beide, die nichts voreinander zu verbergen hatten. Clyde-Fox setzte einen bestrumpften Fuß auf das Trottoir, den Schuh in der Hand, dessen Inneres er aufmerksam inspizierte.

»Ein Problem?«, wiederholte Radstock.

»Ein verdammtes Problem. Schauen Sie sich’s an, wenn Sie den Mut dazu haben.«

»Wo?«

»Am Eingang des alten Friedhofs von Highgate.«

»Ich mag es nicht, wenn man dort herumschnüffelt«, knurrte...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2024
Reihe/Serie Kommissar Adamsberg ermittelt
Kommissar Adamsberg ermittelt
Übersetzer Waltraud Schwarze
Sprache deutsch
Original-Titel Un Lieu Incertain
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2024 • Bei Einbruch der Nacht • Cay Rademacher • Das barmherzige Fallbeil • Der Zorn der Einsiedlerin • Die Nacht des Zorns • eBooks • Ermittlerkrimi • Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord • Frankreich • Frankreich-Urlaub • Heimatkrimi • internationales Verbrechen • Jean-Baptiste Adamsberg • Jean-Luc Bannalec • Kommissar • Krimi • Krimiklassiker • Kriminalromane • Krimireihe • Krimis • Legende • London • Mordserie • Neuerscheinung • Österreich • Paris • Preisträgerin • Regiokrimi • Sophie Bonnet • Spiegel-Bestsellerautorin • Urlaubskrimi • Urlaubslektüre • Wien
ISBN-10 3-641-31678-2 / 3641316782
ISBN-13 978-3-641-31678-5 / 9783641316785
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