Hundswut (eBook)
288 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0722-9 (ISBN)
So lange wir nichts anderes wissen, so lange war das ein Wolf!
In der bayerischen Provinz will man 1932 noch nichts von dem wissen, was in München vor sich geht. Hier nehmen die Bürger die Dinge noch selbst in die Hand. Als bestialische Morde das Dorf erschüttern, gilt es für den Bürgermeister und seinen Gemeinderat, die Gräueltaten schnellstmöglich aufzuklären.
Während man zunächst vermutet, dass ein Wolf im nahen Wald sein Unwesen treibt, verdichten sich bald die Gerüchte, dass es sich um einen menschlichen Täter handeln muss. Dem Hauptverdächtigen, dem Einsiedler Joseph Köhler, soll kurzerhand der Prozess gemacht werden, doch dieser beteuert vehement seine Unschuld.
Spätestens als Dorfpfarrer Hias den mittelalterlichen Hexenhammer zurate zieht, geraten die Ereignisse außer Kontrolle, und nur die Ehefrauen der Dorfoberhäupter können noch versuchen, dem grausigen Wahnsinn ein Ende zu bereiten.
<p>Daniel Alvarenga wurde 1986 in Berlin geboren, wuchs aber in Bayern auf, wo er auch heute noch mit seiner Familie lebt.<br/>Seine Leidenschaft fürs Schreiben hat er schon zu Schulzeiten entdeckt, sich bislang aber vor allem auf das Verfassen und Verfilmen von Drehbüchern konzentriert.</p>
5
Lugg fluchte innerlich, diese verdammte Liste machte ihn verrückt. Organisatorisches war nie seine große Stärke gewesen, und so sehr er es liebte, Wirt zu sein, so sehr hasste er das Drumherum.
Es war ja auch nicht so, als wären sie darauf vorbereitet worden. Mini und er hatten früh geheiratet, und da Lugg sein erlernter Beruf als Hufschmied ohnehin nicht sonderlich zugesagt hatte, hatten sie beide im Wirtshaus ihrer Eltern mitgearbeitet. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Mini den Anspruch gehabt, aus dem Wirtshaus mehr zu machen als die einfache Trinkstube, die sie war. Von da an war die Aufgabenteilung klar gewesen. Lugg stand am Ausschank, Mini arbeitete in der Küche und kümmerte sich um die Gäste. Ein Jahr später hatten sie Vroni bekommen. Sie war quasi in der Wirtsstube aufgewachsen, war als Kleinkind zwischen den Gästen herumgekrabbelt und hatte später ihren Eltern geholfen. In letzter Zeit hatte Vronis Engagement deutlich nachgelassen, aber im Gegensatz zu seiner Frau konnte Lugg das gut verstehen. Seine Tochter war zwanzig Jahre alt, würde nächstes Jahr ihr Abitur machen und war längst vom Mädchen zur Frau geworden. Sie hatte anderes im Kopf als das Geschäft ihrer Eltern.
Doch gerade jetzt hätte Lugg die Hilfe seiner Tochter gut gebrauchen können. Er war beileibe nicht dumm, hatte lesen und schreiben gelernt und rechnete die Bierdeckel seiner Gäste ohne Probleme im Kopf aus. Doch seine Eltern waren nicht in der Lage gewesen, ihm die hohe Schulbildung angedeihen zu lassen, die Minis Eltern dank des gut laufenden Wirtshauses ihrer Tochter bieten konnten.
Natürlich würden die paar Pfennige, die die örtlichen Trinker hierließen, nicht reichen. Und auch die seltenen Gelegenheiten, an denen Hochzeiten oder Beerdigungen die Stube füllten und Mini sogar zwangen, eine der Frauen als Küchenhilfe anzustellen, waren nicht genug, um reich zu werden. Mini hatte den Pachtvertrag geerbt, doch das Wirtshaus gehörte Steiner, so wie das halbe Dorf.
Doch auch hier hatten Minis Ambitionen sie einmal mehr einen Schritt weitergebracht. Nachdem die alte Hotter gestorben war und damit der Kramerladen ohne Besitzer war, hatten sie das Geschäft kurzerhand in ihr Wirtshaus integriert. Platz war hinter dem Ausschank genug und die Tatsache, dass das Wirtshaus mitten im Dorf lag, sorgte für einen stetigen Strom an Kundschaft.
Da das Regal mit den Kurzwaren, den Konserven, den Waschpulvern, Seifen, den Bonbons, Nägeln und Mausefallen hinter seinem Tresen stand, fiel es auch in Luggs Aufgabengebiet. Der Verkauf der Waren störte Lugg nicht im Geringsten, bald kannte er seine Kundschaft und wusste in der Regel, was sie wollten, noch bevor sie es ihm sagten.
Doch einmal im Monat musste das Regal wieder aufgefüllt werden, und dazu musste er diese elendige Liste schreiben. Da es im Dorf kein Telefon gab, nicht einmal das Rathaus war angeschlossen, musste er die Liste entweder mit der Post verschicken oder gleich selbst nach München fahren, um das Benötigte zu kaufen. Das kostete ihn jedes Mal einen halben Tag und eine Menge Nerven.
Joseph überlegte, ob er noch etwas vergessen hatte, und sah sich dabei in der Gaststube um. Obwohl es gerade erst zehn Uhr morgens war, saßen die üblichen Verdächtigen schon an ihren Plätzen. Unter dem Deckmantel des Frühschoppens hockten sie fast jeden Tag an den Tischen, hielten sich an einer längst warm und schal gewordenen Halben Bier fest, bis ihre Frauen sie irgendwann nach Hause zerrten. So sie denn welche hatten. Im letzten Eck saß der Jäger, dessen Blick trotz der frühen Stunde schon recht glasig war. Lugg wusste, dass Edi den Effekt seines Bieres jedes Mal, wenn Lugg sich umdrehte, durch einen Schluck aus dem Flachmann in seiner Brusttasche ergänzte. Anfangs hatte er ihm regelmäßig mitgeteilt, dass er, wenn er in seinem Wirtshaus Schnaps trinken wolle, ihn gefälligst auch dort zu kaufen habe, doch das hatte er mittlerweile aufgegeben. Edi tat ihm leid, und er wusste, dass er sich von seinem mageren Einkommen kaum das Bier leisten konnte.
Edi und er waren ungefähr im gleichen Alter, der Jäger würde aber auch problemlos als zwanzig Jahre älter durchgehen. Die Tage und Nächte im Wald und nicht zuletzt der Alkohol hatten ihre Spuren hinterlassen. Auch mit Edis Körperpflege war es nicht weit her. Lugg musste ihm zugutehalten, dass er selten stank, doch das war es dann auch schon. Er lebte allein und kinderlos in der Jagdhütte am Waldrand und trug eigentlich jeden Tag seine Jagdkluft.
Als ein Knarren ertönte, sah Lugg zur Eingangstür. Noch bevor der Besucher in die Gaststube trat, ahnte Lugg aufgrund des Geräuschs, das dessen Schuhe auf dem Schuhabstreifer erzeugten, wer hereinkommen würde. Seine übliche Klientel würde nicht im Traum auf die Idee kommen, sich den Dreck von den Stiefeln zu kratzen, bevor sie hereinkamen. Bei manchen von ihnen war Lugg froh, dass sie zumindest zum Urinieren von ihren Stühlen aufstanden.
Auch die Zecher sahen interessiert zur Tür, senkten die Blicke jedoch schnell wieder auf ihre Gläser, als Joseph Köhler den Raum betrat. Lugg musste sich ein Grinsen verkneifen. Der Einsiedler war ein beliebtes Thema in der Wirtsstube, auf ein Gespräch mit ihm wollte sich aber offenbar keiner einlassen.
Im Gegensatz zu den meisten im Dorf mochte Lugg den Köhler. Er gab nichts auf Gerüchte und mit Hölle und Teufel konnte er erst recht nichts anfangen. Außerdem glaubte er zu verstehen, wo das Misstrauen der Dorfbewohner in Wahrheit herrührte. Er konnte an seiner Vroni sehen, wie empfindlich einige von ihnen auf überdurchschnittliche Bildung reagierten. Während ihre Freundinnen alle bereits ihre Haberer hatten, teils verheiratet und schon schwanger waren, war Vroni noch allein. Auf dem Dorf wurde eben gearbeitet und nicht studiert, und wozu gerade eine Frau einen Abschluss brauchte, verstanden die wenigsten. Selbst Mini war lange dieser Meinung gewesen, und vermutlich war sie es noch immer. Doch so bestimmend seine Frau oft war, hier hatte sie ihn gewähren lassen. Vroni hatte mit vier Jahren lesen und schreiben können, mit sieben hatte sie die Bierdeckel schneller zusammengerechnet als ihre Eltern. Sobald sie herausgefunden hatte, was ein Gymnasium war und dass es so etwas in der nächsten Stadt gab, hatte sie angefangen, zu betteln.
Lugg musste bei der Erinnerung daran lächeln, und sein Lächeln wurde noch breiter, als er bemerkte, dass Joseph, der mittlerweile vor ihm stand, es erwiderte.
»Morgen«, sagte dieser freundlich, was Lugg mit einem Nicken quittierte. Als sein Gegenüber ihn daraufhin nur erwartungsvoll ansah, war Lugg für einen Augenblick verwirrt, bis er sich erinnerte, weswegen der Köhler in den meisten Fällen zu ihm kam. Er drehte sich zum Regal um und ließ seinen Blick darüber schweifen. Auf dem untersten Boden entdeckte er schließlich, was er suchte. Er ging in die Knie, griff ins Regal, beförderte einen Beutel aus grobem Leinen hervor, erhob sich wieder und warf ihn auf den Tresen. Die Kaffeebohnen im Beutel gaben dabei ein befriedigendes Klackern von sich. Lugg glaubte sogar, kurz den Duft der gerösteten Bohnen wahrnehmen zu können, gleichzeitig war ihm bewusst, dass dies in der verrauchten und nach abgestandenem Bier stinkenden Gaststube nur Einbildung sein konnte.
Er schob den Beutel ein Stück zu Joseph herüber, der bereits einige Münzen aus seiner Hosentasche geholt hatte. Er legte ein paar davon neben den Beutel. Lugg warf einen Blick darauf und strich sie sich mit einem zufriedenen Nicken in die Hand. Während er die Münzen in die kleine Holzkiste, die ihm als Kasse diente, fallen ließ, sagte er:
»Dir is scho klar, dass dei Kaffee a Fünftel kostn dad, wennst ned immer bloß a Pfund nehmerdst, oder?« Joseph, der sich bereits halb zum Gehen abgewandt hatte, blickte sich mit einem angedeuteten Lächeln noch einmal um.
»Und wenn mi dann morgn da Schlog trifft? Dann steht da Kaffee bei mir umanand. D Mitzi trinkt nan ned.« Daraufhin hob er vielsagend die Augenbrauen, drehte sich endgültig um und ging zur Tür.
Im selben Moment wurde diese von außen aufgezogen. Lugg beobachtete, wie Joseph zwei Schritte zurückwich und für Vroni Platz machte, die mit etwas gehetztem Gesichtsausdruck und einem Packen Fleisch vom Metzger in der Hand ins Wirtshaus kam. Sie schenkte Joseph ein kurzes Lächeln, dann eilte sie an ihrem Vater vorbei in die Küche und ignorierte dabei gekonnt die lüsternen Blicke der Trinkenden, die Lugg nicht entgingen.
Nur Edi schien sich für Vroni nicht zu interessieren, sein Blick war noch immer auf die Tür gerichtet, durch die der Köhler inzwischen verschwunden war.
»Und wenn mi dann morgn da Schlog trifft? D Mitzi trinkt nan ned«, äffte er dessen letzten Satz mit viel zu hoher Stimme nach.
Normalerweise kümmerte Lugg sich nicht um das Gerede der Zecher, besonders nicht um das des Jägers. Ob es die verdammte Liste war oder die lüsternen Blicke auf seine Tochter, die ihn so reizbar gemacht hatten, wusste er nicht, doch Edi hatte das Fass mit seinen Worten zum Überlaufen gebracht.
»Host du a Problem zufällig?«, bellte er ihm entgegen. Auch Edi war sichtlich überrascht von der Reaktion des Wirtes.
»I?«, fragte er.
»Na, dei Großvatter! Fralle du!«
»Mir is da Köhler einfach ned geheuer«, verteidigte der Jäger sich. Als er sah, dass Lugg daraufhin bloß die Augenbrauen hob, wandte er sich Zustimmung suchend den übrigen Anwesenden zu. »I moan, der wohnt da obm am Woid, aloans mit seiner Tochter, koa Frau, koa …«
»Do konn ja aber er aa nix dafür, dass eam d Frau gstorm is«, unterbrach ihn Gustl, der am Nebentisch tief über sein Glas gebeugt saß....
Erscheint lt. Verlag | 20.2.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 1932 • Aberglaube • Alvarenga • Anna und die wilden Tiere • Annika Preil • Bayern • Bayernkrimi • Bayern Krimi • bayern krimi buch • bayrische Provinz • Christine Neugebauer • Dorfgemeinschaft • Dorfleben • Drama • Drehbuchautor • Kinofilm • Kinofilm Hundswut • Mord • Morde • Mystisch • Provinz • Tannöd • Tollwut • Verfilmung • Vorurteile • Werwolf • Wolf |
ISBN-10 | 3-7499-0722-6 / 3749907226 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0722-9 / 9783749907229 |
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