Der Trost der Flipper (eBook)
128 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12293-0 (ISBN)
Andreas Bernard, geboren 1969 in München, lehrt Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg und ist Autor von Sachbüchern über den Fahrstuhl als Ort der Moderne, die Geschichte der Reproduktionsmedizin und das Menschenbild der digitalen Kultur. Das bei Klett-Cotta erschienene Buch »Wir gingen raus und spielten Fußball« war für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Andreas Bernard lebt in Berlin.
Andreas Bernard, geboren 1969 in München, lehrt Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg und ist Autor von Sachbüchern über den Fahrstuhl als Ort der Moderne, die Geschichte der Reproduktionsmedizin und das Menschenbild der digitalen Kultur. Das bei Klett-Cotta erschienene Buch »Wir gingen raus und spielten Fußball« war für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Andreas Bernard lebt in Berlin.
1. Same Player Shoots Again
Seitdem die Flipper verschwunden sind, haben sich die Städte gewandelt. Sie sind gläserner geworden, durchsichtiger. Im Zentrum und an den Ausfallstraßen reihen sich Läden mit breiten Fensterfronten aneinander, Dönerbuden, Nagelstudios, Coffeeshops, Shishabars, Asia-Bistros, Start-up-Büros – lauter Orte, die man zur Blütezeit der Flipper noch nicht kannte. In den Straßen meiner Kindheit, in der Abfolge von Mietshäusern, Geschäften und Lokalen, fand sich, wenn die Erinnerung nicht trügt, kaum eine transparente Stelle. Die vielen Stehausschänke des Viertels, die Konditoreien und die Gaststätten mit jugoslawischer oder »gutbürgerlicher« Küche (»deutsch« hieß das Essen seltsamerweise nie) hatten Türen aus Holz und waren mit gelblichen Gardinen verhüllt, und an den Fenstern der Supermärkte, Getränkehändler und Schreibwarenläden hingen großformatige Werbeplakate mit Sonderangeboten. Höchstens die Metzgereien gewährten vollen Einblick ins Innere des Geschäfts.
In den Cafés und Imbissbuden von heute würde man einen Flipper von außen sofort erkennen. Manchmal fällt mir im Vorbeigehen eine Stelle hinter den großen Fenstern auf, die wie geschaffen wäre für einen Apparat – typische Flipperstandorte von früher, bei den Toilettentüren oder in der Ecke am Ende der Bar. Einmal, beim Blick in ein türkisches Lokal, schien der freie Raum zwischen Theke, Wand und Fenster so passgenau ausgespart zu sein – eine Lücke in Form eines Flippers –, dass mir die Silhouette des blinkenden Kastens einen Moment lang wie ein Trugbild vor Augen stand.
Als es noch Flipper gab, zeigten sich die wenigsten von ihnen auf den ersten Blick. Sie mussten im Innern der Kneipen und Gaststätten erst entdeckt werden, oft an entlegenen Stellen: in einem schmalen Durchgang nach hinten, wo sich die Toiletten und der Zigarettenautomat befanden, in einem Nebenzimmer mit Billardtisch, zu dem ein paar Stufen hinaufführten, oder sogar im Keller, im Vorraum der Kegelbahn. Diese Anordnung hatte den Vorteil, dass ich in einem Alter, in dem es mir noch lange nicht erlaubt gewesen wäre, alleine ein Lokal oder einen der schmalen Stehausschänke zu besuchen, halbe Nachmittage flippern konnte. Ich fragte vorne an der Theke, ob ich kurz die Toilette benutzen dürfte, ging voller Aufregung nach hinten zu den Maschinen und spielte unbemerkt. (Je öfter ich an einem Gerät stand, je vertrauter es mir wurde, desto länger hielt auch mein Budget von zwei oder drei Mark.) Die Wirtin hatte mich längst vergessen; nur manchmal kam einer der Trinker vorbei, um eine Schachtel Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen, und warf mir im Weggehen einen komplizenhaften Blick zu.
Inmitten dieser zwielichtigen, fast versteckten Flipperorte gab es eine Ausnahme, einen Schauplatz, an dem sich die Maschinen offen präsentierten – die hell erleuchteten Spielhallen, die sich vor allem rund um den Bahnhof verteilten. Ihre großflächigen, mit Neonschriftzügen verzierten Fenster waren schon von Weitem zu erkennen, und es ist eine schroffe Umkehr im Erscheinungsbild der Städte, dass die verbliebenen »Spielotheken« von heute gerade die blinden Flecken der immer lichter gewordenen Ladenzeilen bilden; hermetische Orte mit schwarzbeklebten Fenstern, deren Fassaden, einem Gesetz von 2012 zufolge, »so zu gestalten sind, dass ein Einblick ins Innere der Räumlichkeiten von außen nicht möglich ist«. In der Zeit der Flipper waren die Spielhallen verheißungsvolle, durchlässige Orte, deren Geräusche – ein vielfach verstärktes Rattern und Sirren Dutzender Maschinen – sich den Passanten durch die offenen Glasschiebetüren schon in der Ferne ankündigten, wie bei einem in der Nähe aufgebauten Rummelplatz. Wer heute die Scheu vor den schwarzen Fenstern überwindet und die Tür zu einer »Spielothek« öffnet, betritt dagegen einen abgedichteten, beinahe sterilen Raum. Die Geldspielautomaten stehen auf gepflegtem Teppichboden (Flipper und andere Geräte for amusement only gibt es nicht mehr), und davor sitzen ein paar Spieler auf Barhockern mit Lehnen und drücken stoisch ihre Tasten. Ein Ghetto für die letzten, sorgsam von der Welt getrennten Suchtopfer, den Raucherbereichen in Flughäfen und Bahnhöfen vergleichbar.
Meine Orientierung in der Heimatstadt, vor allem in den südlichen Vierteln, ist noch immer von den ehemaligen Flipperorten geprägt; die Lokale und ihre Apparate – rund um den Schlachthof und die Großmarkthalle, am Fluss entlang Richtung Tierpark – setzen sich zu einem verlässlichen Stadtplan zusammen. Ich bewege mich zwar, wie der blaue Punkt auf der Karte des iPhones bezeugt, vom Rondell an der Großmarkthalle die Thalkirchner Straße entlang Richtung Süden und gehe links in die Brudermühlstraße, bevor ich kurz vor dem Mittleren Ring in die schmale Bruderhofstraße abbiege, die nach einer Weile in die Schäftlarnstraße parallel zur Isar mündet. Aber in meiner inneren Topografie besteht diese Strecke auch vierzig Jahre später aus Etappen von Flipper zu Flipper. Vom Pharaoh, in einer Gaststätte am Rondell, deren Namen ich vergessen habe, führt der Weg zum Medusa, den wir in einem dubiosen Trinkerlokal namens »Dudlhofer« spielten, zum Time Warp mit den bananenförmigen Schlägern im Wirtshaus »Herzog Siegfried« (oder hieß es »Herzog Anton«?), weiter zum Gorgar im Gasthof »Wasserturm« und zum Panthera, der in der Westernkneipe »Oklahoma« ganz hinten auf einer Empore stand. Keines dieser Lokale existiert heute noch. Im »Herzog Siegfried« zog irgendwann ein griechisches Restaurant ein, danach (unabwendbares Schicksal fast aller Griechen Ende der neunziger Jahre) eine Tapas-Bar. Das Wirtshaus am Rondell, der »Wasserturm« und das »Oklahoma« sind nicht einmal mehr als gastronomische Betriebe zu erkennen. Sie sind irgendwann umgebaut worden, zu Erdgeschosswohnungen oder Büroräumen, und nur die Fugen an den zugemauerten und durch schmalere Türen ersetzten Eingangsfronten verraten, dass es hier einmal ein Lokal gegeben hat.
Aufbewahrt ist die verblasste Welt der Flipper in alten Spielfilmen und Fernsehserien. Gerade in der Zeit ihrer größten Popularität (den fünf, sechs goldenen Jahren vor der ersten Krise ab 1982, die mit meiner Entdeckung der Maschinen durch eine glückliche Fügung zusammenfallen) tauchen sie in Kneipen- und Gasthausszenen regelmäßig auf, einbezogen in die Handlung oder, häufiger, als bloße Kulissen, die von der Kamera nicht weiter beachtet werden. Abseits des Geschehens gerät kurz ein Flipper ins Bild, ohne Funktion, vielleicht sogar unabsichtlich – beiläufiges Kolorit der Gegenwart, wie eine Eis-am-Stiel-Tafel, ein Werbeplakat oder eine Plastiktüte mit dem Logo eines Kaufhauses.
In Filmen und Serien aus der Zeit um 1980 kann dieser schöne Moment jederzeit eintreten: das Pariser Einkaufszentrum in La Boum, in dem Vic und ihre Schulfreunde herumhängen und in dem man im Hintergrund einen Supersonic sieht; Helmut Dietls Monaco Franze, der spätabends in einem Spielsalon auf den Dienstschluss seiner jungen Freundin wartet und an einer Reihe von Flippern vorbeigeht; die Jugendfußballer aus Manni, der Libero, die sich nach dem Training im Vereinslokal um den Strikes and Spares scharen.
Aus Sehnsucht nach den Geräten, auf denen ich zu spielen gelernt hatte – den ersten elektronischen Flippern der Firmen Bally und Williams, mit roten Computerziffern anstelle der bis dahin obligatorischen mechanischen Punkteanzeige –, habe ich eine Zeit lang systematisch nach Filmausschnitten gesucht. Unbeachtet ließ ich dabei die wachsende Zahl der YouTube-Videos, in denen aufwendig restaurierte, in Hobbykellern oder Garagen stehende Maschinen vorgeführt werden. Diese zum Sammlerobjekt erstarrten Apparate, mit Schlüssel am Münzfach und ewigem Freispiel-Reservoir, waren für mich nicht von Interesse. Infrage kamen nur Filmszenen, die die Flipper noch in ihrer angestammten Umgebung zeigten, als öffentliche Geräte, an denen jeder nach dem Einwurf eines Geldstücks sein Geschick erproben konnte.
Als ergiebigste Quelle erschienen mir dabei die Krimiserien, denn die Kommissare und Inspektoren landen bei ihren Ermittlungen immer wieder an Schauplätzen, an denen Spielautomaten stehen könnten. Ich habe etliche Derrick-, Kottan ermittelt- und Tatort-Folgen aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren nach Flippern durchforstet. Vor allem von den Derrick-Fällen versprach ich mir viel, weil sie in München spielen und ich darauf hoffte, dass in einer Folge, die den Inspektor ins Bahnhofs- oder Schlachthofviertel führt, vielleicht ein Lokal zu sehen sein würde, in dem ich als Kind selbst einen Apparat entdeckt habe. Aber die Ausbeute war enttäuschend. Die Verbrechen in den Derrick-Krimis ereignen sich, wie ich es ohnehin in Erinnerung hatte, häufig in den Villenvierteln Grünwalds oder rund um den Starnberger See; und auch wenn sie in der Innenstadt geschehen, sind eher großbürgerliche Gegenden wie Nymphenburg oder Bogenhausen betroffen. Es kommt ganz selten vor, dass Derrick und sein Assistent Harry Klein in Kneipen, Bars oder Spielhallen gerufen werden. In den zwischen 1978 und 1984 gesendeten Folgen bin ich überhaupt nur auf zwei Szenen gestoßen, in denen ein Flipper auftaucht: In »Ute und Manuela« spielt der junge Verdächtige, mit Lederjacke und strähnigem Haar, in einer Bowlingbahn an einem elektromechanischen Gerät; in »Das Mädchen in Jeans« steht zu Beginn eine Bardame am Pinball Champ ’82 und wird plötzlich von einem Gast mit dem Messer bedroht.
Bei Derrick und den arrivierten, von Gustl Bayrhammer oder...
Erscheint lt. Verlag | 20.4.2024 |
---|---|
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 80er Jahre • 90er Jahre • Autobiografisch • Autobiographisch • Buch • Buch für Mann • Buch für Männer • Erinnerung • Flipper • Flipper Automat • Flippern • Geschenk für Männer • neue Bücher 2024 • Neue Literatur 2024 • neuerscheinung 2024 • Nostalgie • Spielautomat Buch • Spielautomaten • Wir gingen raus und spielten Fußball |
ISBN-10 | 3-608-12293-1 / 3608122931 |
ISBN-13 | 978-3-608-12293-0 / 9783608122930 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich