Unter Wasser ist es still (eBook)
384 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-30376-1 (ISBN)
Nach fast zwanzig Jahren kehrt Maira zurück in den Ort ihrer Kindheit. Sie will nur eins: ihr Elternhaus räumen, das seit dem Tod ihrer Mutter leer steht, und es so schnell wie möglich an einen Investor verkaufen.
Stück für Stück bereitet Maira das Haus für den geplanten Abriss vor und unausweichlich kehren die Erinnerungen zurück - die Tage am Wasser mit ihren besten Freunden, die magischen Begegnungen mit der Natur der Ostseeküste, die schwere Krankheit und der Verlust ihrer Mutter. Und eine alte Frage will endlich eine Antwort finden: Was ist damals während Mairas letzten Tagen auf dem Darß wirklich geschehen?
Julia Dibbern, geboren 1971, bekam die Liebe zur Natur und zum Meer in die Wiege gelegt. Nach dem Architekturstudium und der Ausbildung zur Journalistin schrieb sie viele Jahre lang Sachbücher und leitete eine Erwachsenenbildungsakademie. Ihre Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie und einer wechselnden Anzahl von Tieren vor den Toren Hamburgs am Deich. »Unter Wasser ist es still« ist der erste Roman von Julia Dibbern bei Limes.
Bewegend, mitreißend und ohne Kitsch erzählt Julia Dibbern von der vielleicht letzten Chance einer jungen Frau, sich ihren schlimmsten und besten Erinnerungen zu stellen.
Ihre idyllische Kindheit an der Ostsee fand ein traumatisches Ende. Wird ihre Rückkehr nur alte Wunden aufreißen oder schafft sie es, endlich loszulassen und neue Wege für sich zu finden?
Frankfurt,
23. Mai
Am 23. Mai wäre meine Mutter fünfundfünfzig geworden. Meistens ist das Mädchen, das ich war, weit weg. Aber an diesem Tag sind die Schleier zwischen den Zeiten dünn.
Mein Rad quietscht. Viel langsamer als sonst fahre ich zur Arbeit, einmal überholt mich sogar ein Jogger. Die Welt um mich herum scheint nicht zu mir zu gehören – oder ich nicht zu ihr. Ich bewege mich lediglich durch sie hindurch, während Frankfurt schwülwarm erwacht.
Sonst genügen die Geräusche, um die Maira von damals fernzuhalten. Rauschen, Brummen, Kreischen, Summen, Sägen, Singen – je bunter die Kakofonie der Stadt, desto sicherer steht der Damm zwischen dem Alltag und dem, was im Schlick meines Unterbewusstseins schwelt. An dem Tag, der der Geburtstag meiner Mutter gewesen wäre, genügen sie nicht.
»Schlecht geträumt?«, fragt Ingmar, als ich ihn vor der Tür zur Werkstatt treffe.
Auch ohne zu träumen kann man üble Nächte haben. Ich weiß nur, dass ich schwitzend und in meine Decke verheddert aufgewacht bin. Nichts, was ich mit meinem Boss diskutiere.
»Hast du einen Plan für heute?«
Ich nicke. Ich habe vor, an dem Gründerzeitstuhl weiterzuarbeiten, den ich derzeit restauriere. Bis heute Abend muss er fertig sein, morgen spätestens soll Oleg ihn ausliefern.
Prüfend sieht Ingmar mich an. Er ist ein feingliedriger Mann mit Goldrandbrille, kaum größer als ich, der Schnauzbart ebenso weiß wie seine Haare. »Sicher, dass wir dich allein lassen können? Siehst aus, als würdest du gleich zusammenklappen.«
»Geht schon.«
Im Inneren des Transporters rumpelt es, Olegs Kopf erscheint hinter einer Kiste. »Irgendwann kriegst du ein T-Shirt mit Geht schon drauf.«
»Morgen, Oleg.«
»Morgen, Maira.«
Kurz überlege ich, das schwere, hölzerne Rolltor zur Werkstatt zu öffnen, aber die Sonne brennt jetzt schon. Im Gebäude will ich es so lange wie möglich kühl lassen, also nehme ich die schmale Tür, die in das Tor eingelassen ist, und schließe sie sofort hinter mir.
Durch das Band aus Sprossenfenstern über dem Tor fällt Streiflicht und lässt Staubkörnchen in der Luft tanzen. Die Möbelstücke, Hölzer, Stoffe und Füllmaterialien, die sich bis zur Decke stapeln, bilden dadurch eine malerische Kulisse. Auf der Werkbank steht der Stuhl, den die Maira von gestern Abend dort zurückgelassen hat.
Während auf dem Hof die Türen des Transporters klappen, schalte ich das Radio ein, das von seinem zu schmalen Regalbrett an der Wand beständig abzustürzen droht. Der alte Diesel knattert vom Hof. Ich stelle den Sender von Ingmars Schlagersender auf Radio FFH.
Immer noch hängt mir die Nacht nach, jeden Handgriff führe ich langsam aus, als wäre er neu und fremd. Mit den Fingerspitzen berühre ich das gewachste Holz des Möbelstücks vor mir. Ich habe es feingeschliffen und poliert, bis mir beinahe der Arm abgefallen ist. Nun schimmert es sanft. Nussbaum. Ich liebe die edle Farbe und die Struktur des Holzes. Bezogen mit dem blau-weiß gemusterten Gobelin, den die Kundin ausgesucht hat, wird das Möbelstück prächtig aussehen. Die Unterkonstruktion der Sitzfläche ist bereits so gut wie fertig. Nur zwei der Kupferfedern muss ich noch schnüren, dann ein letztes Mal die Höhen kontrollieren; danach kann ich das Polster füllen und beziehen.
Ich lasse mich von der Musik und der Arbeit tragen. Die Minuten und Stunden fließen dahin, und nach einer Weile ist dieser Tag, der der Geburtstag meiner Mutter gewesen wäre, beinahe ein gewöhnlicher. Ich muss mich nur konsequent auf die Arbeit konzentrieren.
Wie viel Zeit vergangen sein muss, fällt mir erst auf, als Ingmar und Oleg zurückkommen. Sie reißen meine friedliche Blase aus Polstern, Musik und treibenden Gedankenfetzen auf, indem sie das große Rolltor öffnen. Sonne und Hitze fluten den Raum, einen Moment lang kann ich durch die plötzliche Helligkeit die monströse kanariengelbe Couchgarnitur kaum erkennen, die die beiden Männer auf Rollbrettern hereinbringen.
Ich lege die Zange beiseite, mit der ich eben Draht stramm gezogen habe, und wische mir die schwitzigen Hände an der Hose ab. »Was ist das denn?«
Oleg zieht bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. Sich sichtlich ein Grinsen verkneifend, macht er sich daran, den Transporter neu zu beladen.
Ingmar jedoch bleibt neben dem Sofa stehen. Er klopft mit der flachen Hand auf den gelben Stoff der Lehne, als sei es ein Pferd, dem er den Hals tätschelt. »Schick, oder?«
»Sehr.«
Ingmar lacht. »Immerhin wird es uns eine Weile beschäftigen.«
»Mich, meinst du.«
»Stefan ist nächste Woche ja aus dem Urlaub zurück. Sonst alles klar hier?«
»Klar.«
Oleg kommt herein, um die nächste Ladung zu holen. Gemeinsam tragen wir Gardinenstoffe, ein halbes Dutzend neu bezogene Hocker und vier schwere Spiegelrahmen für einen Frisörsalon zum Transporter. Dann schwingt sich Oleg wieder auf den Fahrersitz und Ingmar steigt auf der anderen Seite ein.
»Vergiss die Pause nicht.«
»Aye, Chef.«
Ein Blick auf das Display meines Smartphones sagt mir, dass die Frühstückszeit längst vorbei ist. Und Konstantin hat versucht, mich zu erreichen. Ich melde mich später bei ihm. Vielleicht. Es ist nicht so, als hätten wir noch irgendwas zu besprechen.
Die Arbeit hat die Nacht ein wenig aus meinem Herzen und meinen Knochen vertrieben. Trotzdem fühle ich mich seltsam matt, als ich mich mit meinem Frühstücksbrot im Innenhof an die Wand neben dem Rolltor lehne. Eine tapfere alte Ulme spendet dort wenigstens ein bisschen Schatten.
Ein einsamer Windhauch streicht mir über die Wangen, vereinzelte Wolken treiben vorbei, und am Himmel lachen mich tatsächlich ein paar Möwen aus. In Frankfurt am Main sollten keine Möwen kreischen.
Aus einer der oberen Wohnungen des Nachbarhauses klingt Streit. Eigentlich mag ich diese zu warme Stadt, ich mag den Hinterhof mit seinen Ziegelmauern unter abblätterndem Putz, und ich mag die Gerüche, die sich darin fangen. Lack, Holz und Harze aus der offen stehenden Werkstatt. Knoblauch und Gebratenes aus Deniz’ Döner. Gute, sichere Gerüche. Doch heute ist mein emotionaler Deich brüchig.
In der Nacht hat es geregnet, die Luft ist noch feucht, und der Frühsommerwind trägt Düfte von der Gärtnerei auf der anderen Seite der Hinterhofmauer mit sich. Eine Ahnung nur von Erde und nassem Sand, Faulbaum und Heckenrosen. Sie haben mein Innerstes erreicht, bevor ich feststellen kann, dass sie nicht hierher gehören, nicht mitten in die Stadt, Hunderte Kilometer von der Ostsee entfernt. Ich versuche, nicht hinzuriechen, konzentriere mich stattdessen auf Reste von Diesel, die noch zwischen den Häusern hängen.
Als das nicht genügt, sortiere ich die Reihenfolge der anstehenden Arbeiten im Kopf, aber es ist zu spät.
Längst hat die Vergangenheit ihren Weg durch meine Barrieren gefunden, eine helle, heile Vergangenheit zum Glück. Zwischen die Stadtklänge der Gegenwart mischt sich das Trommeln nackter Kinderfüße auf dem Sandweg, der vom Strand nach Hause führt. Drei Paar, schmutzig, zerkratzt und sonnengebräunt.
Zwei Frauen, Touristinnen, stehen im Weg; Anne rennt links um sie herum, Jasper und ich rechts. Sie schimpfen hinter uns her, ich nehme es kaum wahr.
»Mama!«, rufe ich stattdessen, »Mama!«, und sie muss mich gehört haben, noch bevor wir um die Faulbaumhecke gebogen sind, denn sie steht schon in der geöffneten Haustür unserer Rohrdachkate. Wind trägt Seeluft herüber und über uns fliegt eine Silbermöwe.
Eine Momentaufnahme. Mamas Lachen, das wie immer um ihren Mund liegt. Wie meiner ist er ein wenig zu breit. Sonne auf ihrem Gesicht, die sie die Augen zusammenkneifen lässt. Der neu gestrichene, taubenblaue Rahmen der Tür. So klar, als erlebte ich es jetzt. Als sei ich zehn Jahre alt und meine Welt noch ganz.
»Mama, wir haben einen Wal gesehen!«
»Ehrlich?«
»Ja!« Mir fehlen die Worte, um ihr zu beschreiben, wie die Flosse aus dem Meer tauchte, schwarz und glänzend einen Bogen zog, verschwand, wieder auftauchte, und wie ich lachen musste vor Glück, weil es den Wal gab. Wie die Freude darüber immer noch in mir sprudelt.
»Wie lang war er? Von hier bis zum Gartenhaus?«
»Haha. Frank hat gesagt, das war ein Schweinswal, du weißt doch, wie groß die sind.«
»Mein kluges Kind.« Sie nimmt mich in den Arm, und ich winde mich kichernd, als sie mir den Hals küsst. Sie riecht nach frischen Pfannkuchen.
Etwas an dieser Sequenz kann nicht stimmen, ich war eben noch an der Hecke neben dem Tor und Mama an der Haustür. Während ich darüber nachdenke, wie viel meiner Kindheit ich mir aus Fotos zusammengebaut habe und was wirklich passiert ist, poltert eine andere Erinnerung gegen meinen geistigen Damm, ein anderer Tag, ein anderer Wal.
Ich lege das halb gegessene Brot wieder in die Box, gehe zurück in die Werkstatt und schließe die Tür zu dem Wind und den Möwen, die hier nicht hergehören.
Nach der grellen Hitze draußen ist es im Inneren dunkel und kühl. Das kanariengelbe Ungetüm nimmt beinahe die Hälfte des Raums ein. Ich muss mich an ihm vorbeischlängeln, um zu meinem Stuhl zu gelangen, neben dem das Afrique für die Polsterung schon bereitliegt. Die Gerüche sind draußen geblieben, das Kreischen der Möwen ebenfalls.
Im Radio läuft Werbung für Fischfilet zu eins neunundneunzig.
Ich wechsle den Sender zurück zu Ingmars Schlagerprogramm. Kaffee. Arbeit. Sinneseindrücke, um das Loch...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • alte Freunde • Alte Liebe • Buchempfehlung • Darß • Der Gesang der Flusskrebse • Die Rückkehr der Kraniche • Dörte Hansen • Dysfunktionale Familie • eBooks • Familie • Familienroman • Frauenromane • Geisterwald • geschenke für die beste freundin • Halbinsel • Heimatroman • Mutter und Tochter • Natur • Neuanfang • Neuerscheinung • Ostsee • Resilienz • Romane für Frauen • Romy Fölck • Schweinswal • Sommerroman • Trauer und Verlust |
ISBN-10 | 3-641-30376-1 / 3641303761 |
ISBN-13 | 978-3-641-30376-1 / 9783641303761 |
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