Der Ire (eBook)

Thriller | Zeitgeschichte vermischt mit Fiktionen zu einem actionreichen und außergewöhnlichen Spionageroman

(Autor)

Thomas Wörtche (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1., Deutsche Erstausgabe
428 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77902-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Ire - Peter Mann
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Ein Spion, ein Auftrag, zwei Geschichten darüber. Welche ist wahr?

September 1945. In den Trümmern von Berlin werden zwei Manuskripte gefunden, die jeweils widersprüchliche Versionen des Lebens eines irischen Spions während des Krieges wiedergeben.

Das eine ist das Tagebuch des deutschen Offiziers des militärischen Nachrichtendienstes und Nazi-Gegners Adrian de Groot, der seine Beziehung zu seinem Agenten, Freund und manchmal auch Liebhaber, einem Iren namens Frank Pike, aufzeichnet. In de Groots Erzählung ist Pike ein charismatischer IRA-Kämpfer, der aus dem spanischen Gefängnis entlassen wird, um bei der geplanten deutschen Invasion Großbritanniens zu helfen, der aber nie die Chance bekommt, seinen Pakt mit dem Teufel zu erfüllen.

Das andere Manuskript enthält eine ganz andere Darstellung der Taten des Iren. Unter dem Alter Ego des keltischen Helden Finn McCool tritt Pike hier als der ultimative alliierte Saboteur auf. Sein Auftrag: eine Attentatskampagne auf hochrangige Nazi-Ärzte, die in der Ermordung von Hitlers Leibarzt gipfelt.

Aber welche Variante, welche Version der Wirklichkeit stimmt?



Peter Mann wuchs in Kansas City auf. Er lehrt Geschichte und Literatur in Stanford und war Empfänger des Whiting Fellowship. Er ist außerdem Grafiker und Cartoonist und zeichnet den Online-Comic <em>The Quixote Syndrome</em>. <em>Der Ire</em> ist sein erster Roman.

1

Tagebuch


30. November 1943

Frank Pike ist tot.

Die Nachricht kommt nicht überraschend und schockiert mich trotzdem. Was angesichts des andauernden Schockzustands, in den mein Leben sich verwandelt hat, seltsam klingen mag. Ich frage mich, ob Pike je klar war, wie viel er mir bedeutet hat. Außerdem habe ich das Gefühl, nicht ganz unschuldig am Lauf der Dinge zu sein.

Kriegsmann hat die Leiche gesehen, bevor das Krankenhaus getroffen wurde. Jetzt ist an der Stelle ein Loch im Boden. Hätte ich gewusst, dass er dort war, wäre ich selbst hingegangen. Aber mit der tiefen Wunde im Bein – verdammter Hund! – und den Bergen qualmenden Schutts auf den Straßen hätte ich für die Strecke quer durch die Stadt Tage gebraucht. Man muss es sich vorstellen: Um ihn herum steht Berlin in Flammen, aber der Mann stirbt im Bett an einem Fieber. Als wären in diesen Zeiten zur Abwechslung mal andere Todesarten an der Reihe. Natürliche Tode kommen uns plötzlich wie kleine Verschrobenheiten Gottes vor.

Wenn man Kriegsmann glauben darf, hat Pike seinen letzten Atemzug in den Armen einer Nonne getan. Vielleicht hatte er noch die Chance, sie von ihrem Keuschheitsgelübde abzubringen – ein letzter kleiner Stoß mit dem Spieß. Selbst in seinem angeschlagenen Zustand – stocktaub und mit zitternden Gliedmaßen – wusste Pike zu bezaubern. Schade, dass er nie eine angemessene Verwendung für seine Talente gefunden hat. Trotz all seiner kleinen Sünden, seiner unklaren Loyalitäten und dieser unaufhörlichen irischen Redseligkeit – ein verbaler Zapfhahn, der sich nicht schließen ließ, nicht mal in seinem unzulänglichen Deutsch – muss man festhalten, dass er ein Mann der Tat war. Oder einer hätte sein können. Wir waren es, die seine Energien ausgebremst und ihm drei Jahre Trägheit aufgezwungen haben, die ihm zum Verderben geworden sind. Nur im Deutschland von heute konnte die Vitalität eines Mannes wie Pike derart vergeudet werden. Wir können seinen Tod zu den Morden rechnen, mit denen unser Regime die Welt überzogen hat. Vielleicht gibt es so etwas wie natürliche Tode gar nicht.

Zum ersten Mal bin ich Pike 1940 begegnet, in einem Gefängnis in Burgos. Trotz der düsteren Umgebung fühlte ich mich beinahe ausgelassen, schließlich hatte ich gerade eine Woche in Gesellschaft Himmlers hinter mir und hätte mich lieber selbst einsperren lassen, als noch eine Minute mit diesem Deppen zu verbringen.

Beim Gedanken an die Reise schaudert mir noch immer. Ich war dem Reichsführer für seine Tour durch Spanien als Übersetzer zugewiesen worden, eine Degradierung, mit der das Reichssicherheitshauptamt gegenüber der Abwehr seine Muskeln spielen ließ. Dass mir eine elende Woche bevorstand, war mir klar, sobald Himmler in San Sebastián den Zug bestiegen hatte. Er begann sich auf der Stelle darüber zu beklagen, dass der Nitratmangel der iberischen Erde seine Verdauung beeinträchtigt und den Rhythmus seiner Darmaktivität durcheinandergebracht habe. Als sei das nicht genug, habe seine Frau ihm außerdem sein Bienenbrot-Präparat nicht eingepackt, ohne Zweifel aus Arglist, und ihn damit zu acht Tagen mit engem Hals und verstopfter Nase verdammt.

Zu meinem Schrecken hielt diese an sein gesamtes Gefolge gerichtete Tirade – der wir aufmerksam zuhören mussten, um dann die Pausen mit einem Natürlich! oder Wie interessant zu füllen – nicht nur bis zur Einfahrt in Atocha an. Sie zog sich über mehrere Tage hin. In den Galerien des Prado beharrte der Reichsführer darauf, sich nur die deutschen und niederländischen Alten Meister anzusehen. Er bewunderte sie, ohne ein einziges Mal sein Tempo zu verringern. Gleichzeitig dozierte er über die Wunder der Nasendusche, der frühesten Form einer arischen Medizin, die unmittelbar verantwortlich für die Eroberung des dekadenten Hethiterreichs gewesen sei – das alles ließe sich in einem gründlichen Studium der sanskritischen Dokumente belegen. Erst als wir Boschs Garten der Lüste erreichten, legte unsere Gruppe eine Pause ein. Die Falangisten und SS-Männer bestaunten die einfallsreichen Foltermethoden auf dem rechten Flügel und gurrten wie Frauen, die vor einem Schaufenster voller Kleider stehen.

Am nächsten Tag veranstaltete der Bürgermeister von Madrid eigens für den Reichsführer einen Stierkampf. Die corrida hatte sich noch nicht vom langen Belagerungszustand während des Kriegs erholt – die Stiere waren träge, die Matadore ängstlich. Das Regime hatte mehrere Hundert Zivilisten bestochen oder gezwungen, die Ränge zu füllen. Um sich bei den Nazigästen einzuschmeicheln, waren dafür nur die blondesten, arischsten Repräsentanten Madrids ausgewählt worden. Serrano Suñer, Francos Schwager und oberster Speichellecker, war die Aufgabe anvertraut worden, Himmler durchs Land zu begleiten. In der archäologischen Stätte von Segovia schenkte er dem Reichsführer mehrere Fragmente einer Schüssel. »Hmm«, bemerkte Himmler, als er die Scherben begutachtete. »Das könnte eine Nasendusche sein!«

»Sehen Sie, Reichsführer«, sagte Serrano Suñer, »wir Spanier stammen von den Westgoten ab. In unseren Adern fließt gutes arisches Blut, so wie in Ihren.«

Himmler reagierte spöttisch. Kein Arier, sagte er, würde einen Sport daraus machen, unschuldige Tiere zu verstümmeln.

Ich hasste es, Spanien mit Hakenkreuzen tapeziert zu sehen. Das sage ich voller Überzeugung, auch wenn ich zugeben muss, dass meine Sympathien einst den Nationalen gehört hatten. Ich hatte nicht mit ansehen wollen, wie Spanien rot wurde – wie Kirchen dem Erdboden gleichgemacht wurden, wie Frauen ihre Kleider gegen Overalls und Agitprop eintauschen mussten und Weinberge in stalinistische Rübenfarmen verwandelt wurden. In meiner Naivität hatte ich geglaubt, ein konservatives Bollwerk gegen die Exzesse des Materialismus würde die Seele bewahren – und damit die Kunst, die in ihrer authentischen Form immer ein Ausdruck der Seele ist. Aber denjenigen von uns, denen wirklich daran lag, die Kultur gegen alle Angriffe zu bewahren, hätte klar sein müssen, dass unsere Interessen bei keiner der Parteien gut aufgehoben waren. Ich lernte schnell, dass Francos Regime in seiner Besessenheit von limpieza social und seiner panischen Angst vor Ansteckung von außen in Wahrheit nur die Wiedergeburt der Inquisition darstellte. Vielleicht hatte das Spanien meiner Vorstellung, das ich durch die Linke bedroht sah, überhaupt nie existiert, vielleicht war es eine Postkartenfantasie aus meiner Studentenzeit in Salamanca. Bald nach Francos Sieg begriff ich, dass der Caudillo und seine Falangisten demselben unterentwickelten, widerlichen Typus angehörten wie die Gangster unseres eigenen Regimes.

Als wir Barcelona erreichten, war ich kurz davor, mir die Haare auszureißen. Ich war mit einer Flut von Weisheiten über Geflügelzucht, arische Töpferei und Nasenhygiene überschüttet worden. Wie eine Glasscherbe hatte sich mir die Phrase Rudi, deine Hände bitte ins Gehirn gebohrt. So zitierte Himmler seinen Masseur zu sich, der ihn ständig begleitete und dafür sorgte, dass die Chakren des Reichsführers harmonisiert wurden.

Am Vorabend unserer Pilgerfahrt nach Montserrat spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, eine Krankheit vorzutäuschen. Durch seine pseudowissenschaftlichen Studien und eigene irrsinnige Theorien war Himmler zum Schluss gelangt, der Heilige Gral sei in der Bibliothek des auf einem Berg gelegenen Klosters versteckt. Er war fest entschlossen, ihn zu finden. Ich lag in meinem Bett im Ritz, rüstete mich für einen Tag voller Wutausbrüche und versuchte gleichzeitig, mir durch pure Willenskraft einen Fieberausbruch zuzuziehen. Dann erreichte mich eine Nachricht.

Sie stammte von der Legende selbst: Canaris. Nur selten erhielt ich ein direktes Kommuniqué vom Chef der Abwehr, es war ungefähr so, als würde man einen Blitz von Zeus persönlich geschickt bekommen. Jetzt ließ auch Canaris die Muskeln spielen – er teilte Himmler mit, dieser müsse mit einem anderen Übersetzer vorliebnehmen, weil er seinen Agenten für richtige Spionagearbeit brauche. Ich war so glücklich, dass ich eine Flasche Cava bestellte und gleich im Bad austrank.

Am nächsten Morgen brach ich nach Burgos auf. Meine Anweisungen lauteten, ich solle einen Iren rekrutieren, der in San Pedro de Cardeña eine lebenslange Haftstrafe...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2024
Übersetzer Stefan Lux
Sprache deutsch
Original-Titel The Torqued Man
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte aktuelles Buch • Berlin • Berlin 1945 • Booktok • Bücher Neuererscheinung • Deutsches Reich • Deutschland • historischer Krimi • Irland • Krimi • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Mitteleuropa • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Nordostdeutschland • Sabotage • Spannung • Spionage • ST 5426 • ST5426 • suhrkamp taschenbuch 5426 • Tagebuch • The Torqued Man deutsch • Thriller • Westeuropa • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-518-77902-8 / 3518779028
ISBN-13 978-3-518-77902-6 / 9783518779026
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