Die Passagierin -  Franz Friedrich

Die Passagierin (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
512 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491516-6 (ISBN)
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Von einem Ort, der die Zukunft hätte sein sollen Nach Jahren kehrt Heather zurück nach Kolchis. In das Sanatorium, in das sie als Teenager evakuiert wurde - durch eine Zeitreise. Heather leidet seitdem, wie viele Evakuierte, unter »Phantomerinnerungen« und dem Schmerz der Einsamkeit, denn sie hat ein Leben und eine Zukunft zurückgelassen, die sie kaum gekannt hat. Sie hofft, innere Ruhe zu finden, doch auch Kolchis hat sich verändert. Das Sanatorium ist verfallen, die übrig gebliebenen Bewohner haben sich in ihre eigene Welt zurückgezogen. Matthias, der aus der Zeit der Bauernkriege evakuiert wurde, wird für Heather dennoch zu einem Vertrauten, der ihr zeigt, dass Kapitulation das Ende von Menschlichkeit bedeutet. Virtuos erzählt Franz Friedrich von einer Zukunft, in der alle verpassten Chancen der Vergangenheit präsent sind. Aber auch von Freundschaft, Gemeinschaft und dem unstillbaren Begehren nach Veränderung.

Franz Friedrich, geboren 1983, studierte Experimentalfilm an der Universität der Künste Berlin und in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Mit seinem Debüt »Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr« wurde er mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im Frühjahr 2024 erschien der Roman »Die Passagierin«. Franz Friedrich lebt in Berlin.Literaturpreise:Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2014

Franz Friedrich, geboren 1983, studierte Experimentalfilm an der Universität der Künste Berlin und in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut. Mit seinem Debüt »Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr« wurde er mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Franz Friedrich lebt in Berlin. Literaturpreise: Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2014

Kolchis


Ich war nach Kolchis zurückgekehrt, weil ich hoffte, hier das Gefühl der Beschädigung lindern zu können, das vor einer Weile in mir aufgekommen war und seitdem nicht mehr von mir weichen wollte. Ich hatte Phantomerinnerungen, Bilder, die sich mir ins Gedächtnis drängten, als wären es Erinnerungen, dabei hatte ich sie nicht erlebt. Ich litt nicht unter diesen Erinnerungen, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass ich unaufhörlich oder in unpassenden Momenten von ihnen heimgesucht wurde. Ich halluzinierte nicht, hatte keine Schwierigkeiten, zwischen ihnen und der Wirklichkeit zu unterscheiden, sie störten mich nicht bei der Arbeit, und doch blieb da ein Rest, eine Art Grundversehrtheit und das Gefühl, dass etwas fehlt. Manchmal glichen diese Erinnerungen hypnagogen Bildern, Bildern, wie sie kurz vor dem Einschlafen oder im Moment des Erwachens vor dem inneren Auge erscheinen, sprachlich schwer zu fassende Gebilde, Muster, Formen wie unter einem Mikroskop betrachtet, Spiralnebel, etwas, das aussieht wie die Große Magellansche Wolke, sich ewig formend in einem öligen Licht. Oder Gesichter, fremde Gesichter; für einen Moment glaube ich, eine Familienähnlichkeit ausmachen zu können, doch kaum, dass ich meine Aufmerksamkeit auf sie richte, verschwinden sie wieder, die Bögen der Augenbrauen bilden sich zurück, die Nase wird nivelliert – was ein menschliches Gesicht gewesen ist, wird eine Fratze, und doch bin ich es selbst, die diese Fratzenwesen erzeugt.

Oft sind die Erinnerungen aber auch konkreter:

  • ein Zaun, niedrige Wolken, ein Feldweg;

  • auf einem verschneiten Parkplatz öffnet ein Mann den Kofferraum eines Passat Kombis, im Kofferraum wartet ein Hund, der Hund springt heraus und pinkelt gleich drauflos;

  • eine Frau mit einem Kind an der Hand eilt einen Schwarzkiefernhain hinab, zwischen den Stämmen ist das türkisfarbene Leuchten eines Schwimmbeckens zu sehen, das Kind schreit, es hat etwas verloren, will aber nicht sagen, was es ist;

  • eine Ameise auf einem schwarz glänzenden Patagonia-Rucksack, weit weg von ihrem Volk, auf der Suche nach einem duftmarkierten Weg zurück nach Hause.

Ich kenne den Feldweg nicht, kenne den Mann nicht und nicht den Hund, kenne kein Schwimmbecken hinter einem Schwarzkiefernhain, weiß seltsamerweise aber genau, dass es Schwarzkiefern sein müssen, weiß nicht, wem der Rucksack gehört, weiß aber, wie das Futter im Inneren aussieht und wie der Hersteller dieses Rucksacks heißt. Die Bilder machen mir keine Angst, eher betrachte ich sie wie einen Film, in den ich mitten in der Handlung eingestiegen bin und dessen Sprache ich nicht verstehe.

Um das Sanatorium zu erreichen, in dem ich die nächsten Wochen unterkommen würde, musste ich zunächst dem Boulevard der Kommunarden folgen. Hier befanden sich das Hauptpostamt und ein großes Grillhaus, das gerade renoviert wurde, jedenfalls sah ich dort ein Baugerüst. Auf dem Platz vor dem Postamt, die große Skulptur von Cher Ami, der Brieftaube von Verdun. Unter dem Bauch des Bronzevogels fand eine Schar eng beieinanderhockender, aufgeplusterter, geduldig auf besseres Wetter wartender Spatzen vor dem Regen Schutz.

Im Pool des Sanatoriums Nr. 6, dem Böhmisch-Locarno, war das Wasser abgelassen, nun sammelte sich dort Regen, schlammbraun und brackig, Blätter trieben an der Oberfläche. Auch das Gebäude machte einen vernachlässigten Eindruck. Im Wintergarten erkannte ich Stühle, die zu einem Turm aufgestapelt waren, und eine Unmenge von Kissen.

Im Haus der Wissenschaften musste gerade eine Veranstaltung stattfinden. Die Flügeltüren standen offen, Jacken an der Garderobe, Gummistiefel, die Stimme einer Vortragenden, die sich immerzu bedankte: Vielen Dank, vielen, vielen Dank. Hinter dem Haus, auf dem Rasen, graste eine Kolonie von Kaninchen, der weder der Regen noch meine Anwesenheit etwas ausmachte. Eines kaute nur ein paar Schritte von mir entfernt auf einem Gänseblümchen herum, ich hätte es streicheln können, es schüttelte sich. Auf der anderen Seite führte eine Holztreppe hinunter zum Meer. Der Hang war von Pinien bewachsen. Von dort war es nicht weit bis zum Kinderpalast, meinem alten Sanatorium, ein Umweg von zehn Minuten. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich nach meiner Ankunft als Erstes ans Meer gehen, vielleicht kurz ins Wasser springen oder zumindest einen Fuß hineintauchen würde, doch nun regnete es, und mir war kalt.

Das Ende des Boulevards führte auf ein Tor zu. Dahinter erhoben sich Bäume, die der Wind in wogende Bewegungen versetzte, ein schwankendes, mächtiges, dunkles Gewölbe. Ich sah den Eingang des Kurparks, das schmiedeeiserne Gatter, ich rüttelte daran, es war zum Glück nur angelehnt.

Der Park glich einem Urwald. Unter Baumriesen wucherten wilde Hecken, ich sah Agaven neben Büschen, Farnen, Sträuchern, Bambussprösslinge schossen in die Höhe, manche mitten auf dem Weg. Auf den ersten Blick mochte das Gärtnerhaus mit seinen blau gestrichenen Schindeln noch darüber hinwegtäuschen, in welch vernachlässigtem Zustand es sich befand, doch schon beim zweiten Hinsehen offenbarte sich das Ausmaß seiner Beschädigung. Ein Rammbock musste die Tür zerborsten haben, aus den Fenstern war das Glas herausgebrochen. Vorjahreslaub war zu einem Wall aufgeschichtet und moderte vor sich hin.

In meiner Erinnerung war der Kurpark ein grüner, lichter Garten, in dem man stundenlang spazieren gehen konnte. Da waren Blumenbeete und Wasserspiele. Ich erinnere mich auch an eine Konzertmuschel für die Kurkapelle: Immer war aus der Ferne Musik zu hören gewesen, zu der wir, Eiswaffeln in den Händen, durch den Park geschlendert waren – nun sah ich nichts davon, keine Beete, keine Konzertmuschel. Im Becken eines Brunnens lag ein verendetes Tier.

Tezeta hatte mir gesagt, dass das Sanatorium schön, doch schon etwas in die Jahre gekommen sei, ich solle nicht zu viel erwarten, immerhin sei das Haus alt und ursprünglich einmal für zweihundert Personen entworfen worden. Heute lebten dort nur etwa dreißig Menschen, die sich um das große Gebäude zu kümmern hatten. Die meisten seien zwar sehr nett, trotzdem hatte sie mir geraten, ein Vorhängeschloss mitzunehmen. Es gebe Bewohner, die einfach das Zimmer wechseln würden, wenn sie der Anblick der eigenen Unordnung störe. Im ganzen Sanatorium finde man keine einzige funktionierende Nachttischlampe, keine Handtuchhalter, keine Badevorleger mehr. Sie und ein kleiner Kreis von Vernünftigen seien gezwungen gewesen, ihre Zimmer abzuschließen. Außerdem hatte sie mir empfohlen, mir schon im Vorfeld einen Raum zu sichern, Neuankömmlinge würden sonst meist mit irgendwelchen Abstellkammern abgespeist werden, ich hatte dankend abgelehnt. Es hatte nach den üblichen Konflikten geklungen, Konflikte, die eben entstehen, wenn sich Menschen Wohnraum teilen, nun begann ich, meine Einschätzung zu überdenken.

Ich hielt mich auf dem Hauptweg, ging unter Hanfpalmen, Blutbuchen und großen Platanen, vorbei an einem Brunnenplatz und einer Liegewiese, auf der das Gras bis zu den Knien stand. Ich war noch nicht weit gekommen, da erblickte ich vor mir, halb auf dem Weg, halb im Gebüsch, etwas, das aussah wie ein Auto. Es war ein weißes Golfmobil, das ins Schleudern geraten sein musste und nun auf der Seite lag. Dahinter bewegte sich etwas, da war ein Mensch, ich eilte los.

»Alles in Ordnung?«

Der Mann, der auf dem Boden kniete, schien glücklicherweise nicht verletzt, vielmehr war er damit beschäftigt, etwas zu reparieren. Vor ihm ausgebreitet lag eine Werkzeugtasche, eines der Räder war abmontiert.

»Ich bin zu spät«, sagte er, richtete sich auf und wischte sich die Hände an seiner Hose sauber, eine Hose, die völlig durchnässt war, so wie die Haare, das Hemd. »Eigentlich muss ich zur Station.« Er zeigte auf einen kegelförmigen Bambustrieb, der einige Meter von uns entfernt durch den Schotter gestoßen war. »Der haut dich einfach um.«

»Bist du auch sicher nicht verletzt?«

Ich bot ihm an, Hilfe zu holen, schlug vor, ins Sanatorium zu gehen, das neunte, wo ich hinwolle, da bemerkte er meine Reisetasche.

»Du kommst von der Station? Dann musst du Heather sein … Ich bin Matthias, ich bin es, der dich abholen sollte, es tut mir furchtbar leid.« Sein linkes Hosenbein war eingerissen, etwas über dem Knie. »Mir geht es gut«, sagte er, »aber ich fürchte, wir werden den Wagen zurücklassen müssen. Oder hast du zufällig Klebeband? Natürlich nicht, was für eine dumme Frage.«

Nachdem ich ihm versichert hatte, dass er sich wirklich nicht zu entschuldigen brauche, dass vielmehr ich wegen des Unfalls ein schlechtes Gewissen hätte, machten Matthias und ich uns zu Fuß auf den Weg. Matthias hatte einen Regenschirm bei sich, unter dem es genug Platz für uns beide gab. Während er vor dem Bambus warnte, der hier überall im Park wucherte und wohl schon bald die Wege unpassierbar machen würde, fiel mir auf, wie ungewöhnlich dieser Schirm war. Von der Plane ging ein Licht aus, ein selbstleuchtendes Gewebe, das eine Wärme abstrahlte – ich hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen. Es war angenehm, unter dem Schirm zu gehen, mit der Wärme und dem Licht. Mir schien, als befände ich mich im Inneren von etwas, meine Jacke fühlte sich fast schon wieder trocken an.

»Regenschirme«, sagte Matthias, der meine Verwunderung bemerkt zu haben schien, »haben mich von Anfang an am meisten beeindruckt: was für eine großartige und einfache...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Buch zum Nachdenken • Chile • Ein Buch von S. Fischer • Evakuierung • Experiment • Kolchis • Liebe in schweren Zeiten • Menschliches Versagen • Rettungsmission • Sanatorium • Technischer Fortschritt • Ungewöhnliche Freundschaft • Zeitgeschichte • Zeitreise • Zukunftsroman/Dystopie
ISBN-10 3-10-491516-4 / 3104915164
ISBN-13 978-3-10-491516-6 / 9783104915166
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