Hölderlin ist nicht verrückt gewesen (eBook)
188 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-5882-7 (ISBN)
Reinhard Horowski wurde 1944 in Zittau geboren und lebt jetzt in Wildenbruch/Brandenburg, ist aber in Tübingen aufgewachsen und hat dort am Uhland-Gymnasium sein Abitur gemacht. Nach dem Studium der Medizin in Tübingen, Heidelberg, Berlin und Paris war er jahrzehntelang bei der Schering AG in Berlin als Arzt und Pharmakologe in der Hirnforschung tätig. Er ist der Autor von zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und zwar auch zur Geschichte der Medizin. Die Summe seiner Beschäftigung mit der Krankheitsgeschichte Hölderlins zieht diese Schrift.
Allgemeines zu Tübingen, den Psychiatern
und der Psychiatrie
Am Anfang dieser Arbeit muss ein Geständnis stehen: Ich habe zur Psychiatrie ein gespaltenes Verhältnis und traue Psychiatern nicht über den Weg, wenn sie dem großen schwäbischen Dichter Friedrich Hölderlin ungerührt eine Schizophrenie attestieren. Der erfahrene Psychiater, der diese Aussage hier liest, wittert Kundschaft. Aber hier irrt der Irrenarzt – so hießen sie nämlich früher. Mein gespaltenes Verhältnis gegenüber seiner Profession bedeutet nicht gespaltenes Denken (griechisch Schizophrenie). Dieses Wort hat der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler im Jahr 1911 geprägt, der mit der früheren Diagnose Dementia praecox (früh eintretende Demenz) von Emil Kraepelin, einem Pionier der Psychiatrie, nicht glücklich war, da Schizophrenie weder eine Form von Demenz (d.h. Schwachsinn) ist, noch immer in der Jugend ausbricht (da heißt das Ding dann Hebephrenie). Aber auch das Volk irrt sich, wenn es glaubt, dass bei Schizophrenie zwei Personen auf Kosten eines Einzelnen im Kopf koexistieren, nein, Bleuler wollte damit darauf hinweisen, dass das Denken und die Gefühle der betroffenen »armen Irren« nicht zusammenpassen. Entscheidend für die Diagnose Schizophrenie ist es, wenn die Kranken angeben, in ihrem Kopf fremde Stimmen zu hören, welche in der Regel aggressiv sind und sie verfolgen, ihnen Befehle geben oder einen teuflischen Verdacht einreden: »Alle beobachten Dich und reden heimlich schlecht über Dich!« Wer das erzählt, ist schon verloren und entkommt den Psychiatern nicht mehr.
Ein zweites und ebenfalls zentrales Symptom der Schizophrenie (zusätzlich zum Stimmenhören) sind bizarre Wahnvorstellungen (»Ich bin der Auserwählte!«, »Ich habe das Perpetuum mobile erfunden.«) und desorganisierte Sprache, dazu kommt Katatonie, die heute sehr selten, aber oft lebensbedrohlich ist; diese besteht aus vollständiger motorischer Starre und fehlender Ansprechbarkeit, oft, weil der Kranke in seinem Kopf von seinen Stimmen, d.h. seinen (fast immer akustischen) Halluzinationen, völlig überwältigt wird, während Katatonie früher zudem ein Anstaltsartefakt war, d.h. die Folge eines langen Eingesperrt-Seins. Schließlich treten wohl aus ähnlichen Gründen noch sogenannte Negativsymptome auf, z.B. Willensschwäche und Verflachung der Gefühle, Spätmanifestationen der ausgebrannten Schizophrenie (so findet man das im DSM-5, einer Definitionsgrundlage für psychiatrische Diagnosen).
Es überrascht, wenn früher durchaus namhafte Vertreter der Psychiatrie ohne zu zögern und ohne jegliche eigene Untersuchung das Vorliegen einer Schizophrenie diagnostiziert haben, obwohl ihr Objekt, besser: Opfer – nämlich der große schwäbische Dichter Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770–1843) – in seinen ganzen Dichtungen, in den vielen Briefen und gegenüber allen seinen Besuchern und Freunden kein einziges Mal erzählt hat, er höre fremde Stimmen in seinem Kopf. Und dass er sich, eben als großer Dichter, seinen Mitmenschen überlegen fühlte, war sein gutes Recht – nie aber hatte er irreale bizarre Wahnvorstellungen, geschweige denn dass er immobil (d.h. kataton, körperlich völlig erstarrt) gewesen wäre, denn dann wäre er zu seiner Zeit ganz rasch gestorben.
Das alles hat gerade die Tübinger Psychiater später keineswegs daran gehindert, Hölderlin, der schon lange tot war, bedenkenlos und unbesehen eine katatone Schizophrenie zu attestieren, und das zieht sich hin bis zum heutigen Tage. Das sah der Wahn-Experte Robert Gaupp (1870–1953) so, ein Kraepelin-Schüler, der von 1906 bis 1936 Leiter der Tübinger Nervenklinik war. Er hatte sich schon im Ersten Weltkrieg gegen die „Emanzipation-Seuche fanatisierter Weiber“ ausgesprochen und sich schon lange vor dem Nationalsozialismus für die Unfruchtbarmachung Minderwertiger stark gemacht (er bekam dennoch 1952 das Bundesverdienstkreuz und war Mitglied der Deutschen Akademie der Leopoldina in Halle). Gaupp hat den Begriff Paranoia geprägt (Gaupp R.: Zur Lehre von der Paranoia, und später noch: Krankheit und Tod des paranoiden Massenmörders Hauptlehrer Wagner, so findet man es in der Zeitschrift für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie, 174 (1942), S. 762ff). Auffallend ist allerdings, dass Robert Gaupp davon überzeugt war, dass man die Ideenwelt eines Paranoiker nachvollziehen könne, so etwa im Fall Wagner: dieser Hauptlehrer Ernst August Wagner hatte im Jahr 1913 eines schönen Tages versucht, mithilfe einer Axt sein halbes Dorf auszurotten, wobei er tatsächlich 13 Menschen umgebracht hat; vor allem dank eines Gutachtens von Gaupp wurde Wagner nicht hingerichtet, sondern kam in die psychiatrische Anstalt in Weinsberg (bei Heilbronn), wo er in Ruhe alt werden konnte und zu seinem Glück (so bitter es ist, das so zu formulieren) im Jahr 1938 kurz vor der sogenannten Euthanasie-Aktion der Nationalsozialisten starb. Ich selbst habe noch altgediente Psychiater kennengelernt, die mir stolz mitteilten, als Stationsarzt hätten sie den Hauptlehrer Wagner persönlich betreut. So merkwürdig das für uns heute klingt, aber das Sich-Einfühlen in einem solchen Paranoiker, wie dies Robert Gaupp propagiert hat, galt damals als ein naturwissenschaftlicher Ansatz, im Gegensatz zu der Heidelberger Philosophenschule von Wilhelm Windelband, der die Paranoia für ein kulturelles Phänomen hielt, das man nicht nachvollziehen könne. Wichtig für uns ist aber vor allem sein von ihm mit dem Thema Hölderlin betrauter und bereits erwähnter Assistent Wilhelm Lange, der sich später Lange-Eichbaum (1875– 1949) nannte.
Vielleicht waren es sogar dieselben Psychiater, die eindeutige Fehldiagnosen auf den zu seinem Glück längst verstorbenen Hölderlin angewendet hätten, welche einen anderen Dichter in Tübingen erst in die Nervenklinik und damit letztlich ins Konzentrationslager und in die Gaskammer schickten, nämlich Jakob van Hoddis (1887– 1942). Von ihm bekannt ist das Gedicht Weltende »... Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei /und an den Küsten – liest man– steigt die Flut ...«, damals die Flut der Nazis, heute der Anstieg der Meeresspiegel als Folge der Klimaveränderung – Künstler sind eben Frühwarnsysteme der Menschheit, es wird ihnen nicht gedankt. Nun ja, man hat immerhin inzwischen in Tübingen den Robert-Gaupp-Pfad, der von der Altstadt zur Nervenklinik hinaufführt, jetzt nach Jakob van Hoddis benannt (der in Wirklichkeit Hans Davidsohn hieß).
Nein, mein persönliches gespaltenes Verhältnis zur Zunft der Psychiater beruht auf meinem eigenen Erleben als Medizinstudent in Tübingen, als ich mich mit diesem Fach noch unbefangen und interessiert befasst habe. Ich wusste damals noch nicht, dass der Rektor der Universität Tübingen im Dritten Reich, Professor Hermann Hoffmann (1891–1944), nicht nur SA-Obersturmführer, sondern eben auch Psychiater war, Nachfolger des schon erwähnten Robert Gaupp, und als solcher ein prominenter Vertreter der sogenannten Rassenhygiene. In deren Rahmen forderten die Psychiater nicht nur die Verbesserung der »Rasse«, sondern lieferten den Nationalsozialisten die ideologische Basis für den euphemistisch Euthanasie (das bedeutet eigentlich Gutes Sterben) genannten Massenmord an den ihnen anvertrauten und ihnen vertrauenden Patienten, wobei sie dazu gleich auch noch die Methode zur massenhaften Tötung in Gaskammern entwickelten (wie sie zuerst in Grafeneck und dann in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern in geradezu »industriellem Maßstab« eingesetzt wurde). Nur ein Beispiel: in Grafeneck wurde auch die sanfte Anna Rauch ermordet, welche nur dadurch, dass sie in der Schule eine Treppe hinabgestoßen worden war, als Folge davon geistig ein wenig zurückgeblieben war, und dass ihre bitterarmen und überforderten Eltern sich um sechs andere Kinder kümmern mussten und sie deshalb nach Grafeneck schickten – dabei hatte sie alles andere als eine erbliche Belastung. Fälle wie ihrer Beweise, dass es dem verbrecherischen Regime in Wirklichkeit darum gehen, die Räume dieser Heime für die erwarteten Opfer des geplanten Kriegers freizumachen.
Als Germanist wirkte an der Universität Tübingen damals August Bebermeyer, welcher als einer der 300 Hochschullehrer sich im Mai 1933 für Hitler ausgesprochen hatte und welcher bereits zuvor in Tübingen das erste. „Institut für Volkskunde“ gegründet hatte – das heutige „Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft“ des großartigen Professors Hermann Bausinger und später seines Nachfolgers Bernd-Jürgen Warneken. Bebermeyer nannte die Volkskunde eine „staatsnotwendige Wissenschaft“, das kann man in der Dissertation von Sabine Besenfelder nachlesen. Bebermeyer gab trotz dieser Vergangenheit ab dem Jahr 1955 an der Universität Tübingen Vorlesungen über Germanistik.
August Heißmeyer trat schon 1930 in die SS ein und war...
Erscheint lt. Verlag | 8.11.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Lyrik / Gedichte |
ISBN-10 | 3-7578-5882-4 / 3757858824 |
ISBN-13 | 978-3-7578-5882-7 / 9783757858827 |
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