Das Holz, aus dem wir geschnitzt sind -  Annette Spratte

Das Holz, aus dem wir geschnitzt sind (eBook)

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2023 | 1. Auflage
304 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-783-5 (ISBN)
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Westerwald, 18. Jahrhundert: Schon früh entdeckt Karl seine Leidenschaft für die Schnitzerei. Durch seine feinsinnige Art zieht er immer wieder den Spott seiner Brüder auf sich. Nur sein Großvater Jakob ermutigt ihn und vertraut ihm sogar ein Geheimnis an. Als der alte Mann stirbt, spitzen sich die Spannungen zwischen Karl und seinen Brüdern zu, bis es zu einer Tragödie kommt. Plötzlich auf sich allein gestellt, setzt Karl alles daran, seine Leidenschaft zum Beruf zu machen. Dabei begibt er sich auf Spurensuche, denn das Vermächtnis seines Großvaters steckt voller Rätsel ...

Annette Spratte lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Westerwald bei Altenkirchen. Aus einer tiefen Liebe zum geschriebenen Wort heraus arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Ihre im Westerwald angesiedelten historischen Romane erfreuen sich großer Beliebtheit. Daneben hat sie auch in anderen Genres veröffentlicht, u.a. die Kinderbuchreihe Jabando. www.annettespratte.org Instagram: autorinannettespratte Facebook: Annette Spratte

Kapitel 1

Nister, am 12. September 1728

»Wohin gehen wir, Großvater?« Karl passte seine Schritte denen des alten Mannes an, der sich laut schnaufend auf seinen Gehstock stützte. Es fiel Karl schwer, den Waldweg nicht entlangzurennen, wie er es normalerweise tat. Er liebte es, durch den Wald zu streifen, von Stein zu Stein zu springen, über umgestürzte Baumstämme zu balancieren und seine kratzige Kehle mit dem frischen Wasser aus einem der sprudelnden Bäche zu kühlen. Hier draußen war er frei. Frei von lästigen Aufgaben, frei von dem Spott seiner Geschwister oder der Schelte seines Vaters, der ihm immer wieder vorhielt, wie er als Zwölfjähriger zu sein hatte.

Für seinen Großvater war er jedoch gern bereit, sich zurückzunehmen. Großvater schimpfte nie mit ihm. Sie redeten nicht viel, was Karl manchmal bedauerte. Er genoss es, dass er bei dem alten Mann einfach nur er selbst sein durfte. Das war schon immer so gewesen.

Jetzt verweilte Jakob einen Moment und deutete mit seinem Stock auf den großen Felsen, der wie eine Nase aus dem Berg ragte. Karl nickte. Er wusste, dass es dort eine Höhle gab. Als er noch kleiner gewesen war, hatte er vor den Fledermäusen Angst gehabt, die darin wohnten. Sie waren ihm noch immer etwas unheimlich, aber zusammen mit Großvater Jakob fürchtete er sich nicht.

Sie mussten noch zwei Pausen einlegen, bis sie den Höhleneingang erreicht hatten. Eine beklemmende Enge legte sich um Karls Herz. Seinem Großvater ging es nicht gut. So langsam war er noch nie gegangen und er hatte auch noch nie so schwer geatmet. Nun lehnte er sich an die Felswand, das Gesicht kreideweiß, derweil ihm die Schweißtropfen von der Stirn perlten. Er hielt den Gehstock fest umklammert, obwohl er die Wand im Rücken hatte.

Nach einer Weile beruhigte sich seine Atmung und er sah Karl eindringlich an. »Zwei große Schritte hinein, dann siehst du links einen Stein, etwa auf Augenhöhe. Schau, ob du ihn findest, Karl.«

Karl machte zwei große Schritte in die Felsnische und suchte die Wand ab. Er fand nichts.

»Schau genau hin.«

»Da ist nichts.« Noch während er es sagte, fielen ihm zwei merkwürdige Löcher auf, die fast wie Augenhöhlen wirkten. Karl schluckte und sah sich zu seinem Großvater um.

»Zieh ihn heraus.«

Mit einem mulmigen Gefühl im Magen trat Karl näher an die Stelle heran, steckte Daumen und Mittelfinger in die Öffnungen und zog. Etwas Sand rieselte herab und er meinte, eine leichte Bewegung verspürt zu haben.

»Musst dich schon anstrengen, sonst bekommst du ihn nicht aus dem Loch.«

»Mach du das, Großvater«, sagte Karl und trat unsicher zurück. Aus der Höhle drang ein muffiger Geruch und es behagte ihm nicht, dass er nicht sehen konnte, was sich in der Dunkelheit verbarg.

»Nein. Entweder du schaffst es oder wir kehren um.«

Karl biss sich auf die Unterlippe. Sein Blick streifte die Ledermappe, die sein Großvater schon den ganzen Weg über an seine Brust presste, als wäre sie ein wertvoller Schatz. Was wohl darin war? Wollte er sie hier verstecken?

Er atmete einmal tief durch und griff wieder nach dem Stein. Wenn Großvater sagte, man könne ihn herausziehen, dann musste es so sein. Großvater sagte immer die Wahrheit. Mit aller Kraft zerrte Karl an dem Stein und stieß einen überraschten Schrei aus, als er ihn tatsächlich ein Stückchen aus der Wand zog. Der Schrei wurde von den Wänden der Höhle zurückgeworfen. Karl fuhr herum und rannte ein Stück vom Eingang weg.

Jakob grinste ihn an, aber keine spöttische Bemerkung kam über seine faltigen Lippen. Er winkte nur. »Hab keine Angst, mein Junge. Komm. Du kannst das.«

Sein Herz klopfte wild, aber Karl kam wieder näher.

»Schau, wie weit er schon heraussteht. Jetzt musst du ihn mit beiden Händen packen.«

Karl presste die Zähne aufeinander und trat entschlossen auf den Stein zu. Mit einigem Rütteln schaffte er es schließlich, ihn aus der Öffnung zu ziehen und auf den Boden zu legen. Dahinter verbarg sich eine geräumige Nische, die offensichtlich aus dem Felsen gehauen worden war. »Hast du das gemacht?«, fragte er staunend.

»Vor langer Zeit.« Jakob schob tatsächlich die Ledermappe in das Versteck. Dann legte er Karl eine Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen. »In dieser Mappe befindet sich etwas, das dir helfen kann, solltest du einmal in Not geraten. Ich weiß, du bist anders. Und wir, die wir anders sind, haben es oft nicht leicht, bis wir unseren Platz in der Welt gefunden haben. Wenn du nicht mehr weiterweißt, dann erinnere dich an mich. Erinnere dich an diesen Ort. Hüte dieses Geheimnis gut, denn nur, wenn du ganz auf dich allein gestellt bist, wird dir dieser Schatz zum Segen werden. Lüftest du es zu früh, wird man es dir wegnehmen.« Jakob tippte mit dem Gehstock auf den Stein. »Nun steck ihn zurück.«

»Willst du mir nicht verraten, was in der Mappe ist?«, fragte Karl, während er den Stein hochstemmte und wieder in die Öffnung schob.

»Nein.«

Sie traten beide zurück und betrachteten die Wand. Nichts deutete darauf hin, dass es dort ein Versteck gab. Man erkannte die beiden Grifflöcher nur, wenn man direkt davorstand.

Langsam machten sie sich auf den Heimweg.

»Warum sind wir anders?« Dass er anders war, wusste Karl schon lange. Seine beiden Brüder hänselten ihn oft, weil er lieber allein unter einem Baum saß und schnitzte, als mit ihnen zu toben. Wo sie sich einen Spaß daraus machten, Vogelnester zu plündern oder Schafe umzuwerfen, kümmerte er sich um verletzte Tiere oder zog ein Lämmchen auf, dessen Mutter gestorben war. Es war sein Glück, dass er so gern die Tiere versorgte, sonst hätte sein Vater ihn als völligen Nichtsnutz abgetan.

»Das ist die falsche Frage, Karl. Nicht warum, sondern wozu. Wozu dient deine Andersartigkeit? Das musst du dich fragen.«

»Wozu dient deine?«

»Zu heilen, was zerbrochen ist.«

* * *

Als Karl an diesem Abend nach der Stallarbeit in die Stube kam, saß Jakob in seinem Sessel und betrachtete nachdenklich den Knauf seines Gehstocks. Karls Herz machte einen Hüpfer. Er hatte seinem Großvater diesen Stock geschenkt und den Knauf selbst geschnitzt. Es hatte eigentlich ein Hundekopf werden sollen, aber das harte Holz des knorrigen Astes, den er im Wald gefunden hatte, hatte sich mit aller Macht gewehrt. Anders konnte er sich die schielende Fratze nicht erklären, die auf dem Knauf prangte.

Großvater hatte herzhaft gelacht, als er ihm den Stock geschenkt hatte. Und seither stützte er sich darauf. Es machte Karl unendlich stolz.

»Ist alles in Ordnung bei deinen Schützlingen?«, fragte Jakob.

»Ja, Großvater.« Karl setzte sich auf die Bank neben ihn. Aus der Küche drang das Gezanke seiner jüngeren Schwestern, die beide versuchten, der jeweils anderen ihre Aufgaben zuzuschieben. Karl lehnte sich entspannt zurück und streckte in der wohligen Gewissheit die Beine aus, seine eigenen bereits erledigt zu haben.

»Du hast Talent, mein Junge.«

Jakobs Worte rissen Karl aus seinen Gedanken. Er schaute seinen Großvater an, doch der zeichnete mit dem Mittelfinger seiner linken Hand die Gesichtszüge der Fratze auf dem Knauf nach. Zum bestimmt hundertsten Mal fragte Karl sich, wo der Zeigefinger geblieben war. Eine weiße Linie zog sich über den Handrücken, die blasse Spur einer alten Narbe. Wann immer eins der Kinder gefragt hatte, was passiert war, hatte Großvater ihnen ein neues Märchen aufgetischt. Mal hatte ein Fisch den Finger abgebissen, dann war es ein Wolf gewesen, ein anderes Mal hatte er sich zu tief in der Nase gebohrt oder ihm war im Wald ein kleines Männlein begegnet, das ihm den Finger weggezaubert hatte.

»Ich weiß, du glaubst, der Knauf wäre missglückt, aber das stimmt nicht. Du hast erkannt, was in diesem Stück Holz steckt.«

»Aber es sollte ein Hund werden!«

»Der Hund steckte aber nicht im Holz. Ein Handwerker hätte trotzdem einen Hund daraus gemacht. Aber du, Karl, du bist ein Künstler. Ein Künstler erzwingt nichts. Er arbeitet mit seinem Kunstwerk, nicht dagegen. In diesem Ast steckte eine Fratze und du hast sie hervorgelockt. Sie ist herrlich und bringt mich immer wieder zum Lachen.«

»Jetzt nicht«, erwiderte Karl trotzig. Er wusste nicht so recht, was er mit dem anfangen sollte, was sein Großvater da sagte, obwohl es eigentlich genau sein Empfinden ausdrückte. In gewisser Weise erschreckte es ihn, dass Jakob diese Wahrheit kannte, ohne dass Karl etwas davon preisgegeben hatte.

»Nicht laut. Aber in mir lacht es.«

»Warum denn nicht laut?«

»Ich bin zu müde.«

Zu müde zum Lachen?, dachte Karl, sprach es aber nicht aus. Seine Mutter rief in dem Moment zum Essen. Karl stand auf.

»Bring mir mein Brot her, Karl Katerchen.«

Karl zuckte zusammen. Es war ewig her, dass sein Großvater ihn so genannt hatte. Er nickte und ging langsam in die Küche. Ihm war jeglicher Appetit vergangen.

»Was ist denn, Karl? Trödel nicht«, schalt sein Vater, der am Kopfende des Tisches saß.

»Großvater möchte in der Stube essen«, erwiderte Karl.

Das ungeduldige Zappeln und Murmeln am Tisch wich einer schockierten Stille. Noch nie hatte die Familie ohne Jakob gegessen.

»Ich schaue nach ihm.« Karls Mutter stand auf und eilte nach...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-96362-783-2 / 3963627832
ISBN-13 978-3-96362-783-5 / 9783963627835
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