Das Urteil. Studienausgabe (eBook)
110 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962204-0 (ISBN)
Michael Müller, geb. 1950, ist nach Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Bergischen Universität Wuppertal und den Universitäten Bari und Bergamo als freier Publizist und Übersetzer tätig. Er lebt in der Nähe von München.
Michael Müller, geb. 1950, ist nach Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Bergischen Universität Wuppertal und den Universitäten Bari und Bergamo als freier Publizist und Übersetzer tätig. Er lebt in der Nähe von München.
Das Urteil. Eine Geschichte
Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Aussagen Kafkas über Das Urteil in seinen Tagebüchern und Briefen
Nachwort
[5]Das Urteil
Eine Geschichte
Für F.
Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen. Er hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet, verschloß ihn* in spielerischer Langsamkeit und sah* dann*, den Ellbogen* auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluß, die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün.
Er dachte darüber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Rußland sich förmlich geflüchtet hatte. Nun betrieb er ein Geschäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte*, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund [6] bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte*. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. [6]Wie er erzählte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein.
Was sollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern*, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen* Beziehungen wieder aufzunehmen – wofür ja kein Hindernis bestand – und im übrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als daß man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kränkender, sagte*, daß seine bisherigen Versuche mißlungen seien, [7] daß er endlich von ihnen ablassen solle, daß er zurückkehren und sich als ein für immer Zurückgekehrter von allen mit großen Augen anstaunen lassen müsse, daß nur seine Freunde etwas verstünden und daß er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden* einfach zu folgen* habe. Und war es dann noch sicher, daß alle die Plage, die man ihm antun müßte, einen Zweck hätte? Vielleicht gelang es nicht einmal, ihn überhaupt* nach Hause zu bringen – er sagte ja selbst, daß er die Verhältnisse in der Heimat nicht mehr verstünde –, und so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschläge und den Freunden [7]noch ein Stück mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich* dem Rat und würde hier – natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen – niedergedrückt, fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr, war es da nicht viel besser für ihn, er blieb in der Fremde, so wie er war? Konnte man denn bei solchen Umständen* daran denken, daß [8] er es* hier tatsächlich vorwärts bringen würde*?
Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch* überhaupt die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten machen würde. Der Freund war nun schon über drei* Jahre nicht in der Heimat gewesen und erklärte dies sehr notdürftig mit der Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Rußland*, die demnach also auch* die kürzeste Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes nicht zuließen, während hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade für* Georg vieles verändert. Von dem Todesfall von Georgs Mutter, der vor etwa* zwei Jahren erfolgt war und seit welchem* Georg mit seinem alten Vater* in gemeinsamer Wirtschaft lebte, [8]hatte der Freund wohl noch erfahren und sein Beileid in einem Brief mit einer* Trockenheit ausgedrückt, die ihren* Grund nur darin haben konnte*, daß die Trauer über ein solches Ereignis in der Fremde ganz unvor-[9]stellbar wird. Nun hatte aber Georg seit jener Zeit, so wie* alles andere, auch sein Geschäft mit größerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch*, daß er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert, vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Geschäft arbeitete*, zurückhaltender geworden, vielleicht spielten – was sogar sehr wahrscheinlich war – glückliche Zufälle eine weit wichtigere Rolle, jedenfalls aber hatte sich das Geschäft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz hatte sich verfünffacht*, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.
Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur Auswanderung nach Rußland überreden wollen und sich über die Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem [10] Umfang, den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und hätte er es jetzt [9]nachträglich getan, es hätte wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt.
So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer* nur über bedeutungslose Vorfälle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet aufhäufen*. Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestört lassen, die* sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl gemacht* und mit welcher er sich abgefunden* hatte. So geschah es Georg, daß er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen* Menschen mit einem ebenso gleichgültigen* Mädchen dreimal* in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für diese Merkwürdigkeit zu interessieren begann.
Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als daß er zugestanden hätte, daß er selbst* vor einem Monat mit einem Fräulein [11] Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie*, sich verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut über diesen Freund und das besondere [10]Korrespondenzverhältnis, in welchem er zu ihm stand. »Er wird also gar nicht zu unserer Hochzeit kommen«, sagte sie, »und ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennen zu lernen.«* »Ich will ihn nicht stören«, antwortete* Georg, »verstehe mich recht, er würde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er würde sich gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unfähig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zurückfahren. Allein – weißt du, was das ist?« »Ja, kann er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?« »Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich.« »Wenn du solche* Freunde hast, Georg,* hättest du dich überhaupt nicht verloben* sollen.« »Ja, das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben.*« Und wenn sie dann, rasch atmend unter seinen Küssen, [12] noch vorbrachte*: »Eigentlich kränkt es mich doch«, hielt er es wirklich für...
Erscheint lt. Verlag | 17.11.2023 |
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Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek | Reclams Universal-Bibliothek |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Abstrakter Theismus • Agnostizismus • Atheismus • Beziehung Vater • Deismus • Deutsch • Deutsch-Unterricht • Deutschunterricht Kafka Das Urteil • Die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes • Disput mit dem Vater • Einwände gegen den Atheismus • Elementarer Gottesbegriff • Epistemologie • Erkenntnistheorie • Felice B. • Geist und Denken • gelb • gelbe bücher • Georg geht zum Vater • Georg mit Brief am Fenster • Glauben • Glaubensgewissheit • Gott • Gott als Absolutes und Weltgeist • Gottesbegriffe • Gottesbeweise • Gott und Unendlichkeit • Grenzen der Vernunft • Hegel • Kafka • kafkaesk • Klassenlektüre • Klassische Gottesbeweise • Klassischer Theismus • Kosmologischer Gottesbeweis • Lektüre • Literatur Klassiker • Minimaler abrahamitischer Theismus • Negativer Atheismus • Neo-Theismus • Neuer Atheismus • Novelle • Offener Theismus • ontologischer Gottesbeweis • Panentheismus • Pantheismus • Personaler Theismus • Philosophie • Positiver Atheismus • Prozess-Theismus • Rationale Hoffnung auf Gott • rationale Theologie • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Religion • Religionsphilosophie • Religion und Politik • Religiosität • Schöpfungsmythen • Schöpfung und Physik • Schullektüre • Schullektüre Kafka Das Urteil • Sekundarstufe Kafka Das Urteil • Studienausgabe • Swinburne • Teleologischer Gottesbeweis • Tetens • Textausgabe Kafka Das Urteil • Theismus • Theistische Theodizee • Theodizee • Theorie des Geistes • Transzendenz • Urteil und Vollstreckung • Vater-Sohn-Konflikt • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-15-962204-5 / 3159622045 |
ISBN-13 | 978-3-15-962204-0 / 9783159622040 |
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