Burgschattenkinder -  Monika Kiel-Hinrichsen

Burgschattenkinder (eBook)

Leben zwischen Gewalt und Hoffnung
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
350 Seiten
Novalis (Verlag)
978-3-941664-87-6 (ISBN)
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Als Heilerziehung noch ein ganz neuer Begriff war, werden 60 Jungen mit geistiger Behinderung auf eine Burg geschickt, wo sie ein Heim und eine Chance bekommen sollen. Doch fehlen nach 1945 jegliche Richtwerte. In einer Zeit, wo die menschenverachtende Haltung des Nationalsozialismus noch überall nachwirkt, scheint es für die motivierte, herzoffene Martha schier unmöglich zu sein, Raum und Hoffnung für die Jungen zu schaffen, welche auf der Burg ein klägliches Dasein fristen. Die junge Kinderkrankenschwester und ihre Freundin glauben jedoch an Menschlichkeit und an die Jungen. Sie verleihen ihnen eine Stimme und geben nicht auf. Doch gegen welche Machtstrukturen sie ankommen müssen, scheint unendlich.

Monika Kiel-Hinrichsen, geboren 1956 in Cuxhaven, ist bekannt als vielfältige Sachbuchautorin und Kolumnistin. Sie studierte Sozialpädagogik und hat lange Jahre in der Heilpädagogik gearbeitet. Heute ist sie als Biografische Coachin, Paarberaterin, Mediatorin und Supervisorin in freier Praxis an der Ostsee tätig. Sie hält Vorträge und Seminare und bildet Menschen im In- und Ausland aus. Sie ist Mutter von fünf Kindern. Mit ihrem Debütroman erzählt sie ein wichtiges Stück deutsche Nachkriegsgeschichte. Als Schwester eines der Jungen hat sie intensive Aufarbeitung geleistet, Zeitzeugen getroffen & recherchiert. So konnte eine traurige Wahrheit einfühlsam erzählt werden, aus einer Zeit in welcher ein neues Bewusstsein bis ins heute hinein wächst.

Burg Wernberg, 10. Mai 1964


Es dämmerte bereits, als Kurt die Bundesstraße verließ, um auf die Landstraße nach Weiden abzubiegen. Wie große, bedrohliche Gestalten wirkten die riesigen Bäume am Waldrand. Zehn Stunden Fahrt lagen hinter ihnen. Die Kinder schliefen schon eine Weile. Sie waren vom vielen Schaukeln des Busses aneinander gerutscht. Im Laufe der Zeit hatte sich ein beißender Geruch von eingenässten und eingekoteten Hosen im Bus ausgebreitet, gegen welchen Kurt zu Marthas Leid auch noch angeraucht hatte.

Endlich hob sich aus der Abenddämmerung die gewaltige Trutzburg ab. Nur noch wenige Minuten, dann waren sie am Ziel. Kurt drehte sich zu Martha.

„He, wach auf, wir sind gleich da. Weck schon mal die Kinder.“

Martha rekelte sich aus ihrer eingeklemmten Haltung und drehte sich zu den Jungen auf der Rückbank um.

„Peter, Thomas, und Johann aufwachen. Wir sind da.“ Und noch weiter nach hinten rief sie: „Holger, Franz und Arne, aufwachen. Wir sind da.“

Umgehend wurde die Stille im Bus von lautem Weinen der Jungen durchbrochen. Einer steckte den anderen an.

Knarrend wurde vor ihnen die riesige Zugbrücke heruntergelassen. Laut holperte der Bus über das Kopfsteinpflaster in den Burghof.

Hundegebell empfing sie und hallte in dem hohen Mauerwerk beängstigend laut wider. Die Kinder wurden bereits erwartet. Martha stieg aus und öffnete die Schiebetür. Kurt zog einen Buben nach dem anderen aus dem Bus. Bettina, die seit einigen Wochen im Agnesheim arbeitete, half Martha die schreienden Kinder zu beruhigen.

Agnes Nastrewa kam aus ihrem Seitentrakt heraus.

„Was ist das für ein Geschrei hier, seht‘s zu, dass ihr die Buben zur Ruhe bringt.“

Neben ihr stand knurrend einer der Jagdhunde ihres Mannes. Sofort waren die Jungen still. Sie klammerten sich krampfhaft an Martha und Bettina fest. Ein scharfer Blick von Agnes Nastrewa gab Bettina stillschweigend zu verstehen: Keine Verweichlichung in meiner Anstalt. Die Jungen müssen abgehärtet werden!

Das hatte sie ihr und den anderen Mitarbeiterinnen erst gestern in der Dienstbesprechung zu verstehen gegeben.

„Habt Ihr eine gute Fahrt gehabt? Hat alles geklappt?“, wandte Agnes Nastrewa sich Kurt und Martha zu.

„Das waren schon viele Kilometer, Frau Chefin. Jetzt bin ich aber auch platt“, gab Kurt ehrlicherweise zu.

„Und Du, Martha? Hat Dir die Aufgabe Spaß gemacht? Hast mal was von der Welt gesehen, was?“

„Ja, danke. Das ist so eine andere Landschaft als bei uns. Dieses Meer, unglaublich. Aber es war auch sehr traurig mitanzusehen, wie die Eltern und Kinder unter dem Abschied gelitten haben.“

„Das kann ich mir denken. Aber die Kinder werden es schon gut bei uns haben. Bringst die Buben noch mit ins Bett und dann machst Du Feierabend. Morgen früh um acht Uhr beginnt Dein Dienst in der Gruppe. Es ist bestimmt von Vorteil, wenn die Jungen Dich gleich in der Früh wiedersehen.“

„Klar, das kann ich machen.“

Insgeheim hatte Martha gehofft, dass sie nach den langen Fahrten der vergangenen zwei Tage morgen frei hätte. Naja, so war es eben jetzt.

„Kurt, wir sehen uns dann morgen zu den Vorbereitungen für den Empfang“, und damit verschwand Agnes Nastrewa wieder in ihrem Domizil.

Die Kinder zitterten vor Kälte und Aufregung. Martha und Bettina brachten sie ins Burginnere. Johann musste nun ebenfalls getragen werden. Martha hatte bereits den kleinen Arne auf dem Arm. Bettina hob ihn hoch, er war zu schwach, um auf seinen Beinen zu stehen, und zudem bis zum Bauchnabel eingekotet, eiskalt am ganzen Körper. Nun sollte er von ihr auch noch mit dem kalten Duschschlauch abgespritzt werden. Er schlotterte währenddessen am ganzen Körper und gab gurrende Laute von sich. Wie gut, dass sie bereits vor der Ankunft der Kinder die Wäsche bereitgelegt hatte. Geschwind steckte sie ihn in einen Schlafanzug und trug ihn ins Dachgeschoss.

Im Schlafsaal standen sechs Gitterbetten. In dreien lagen bereits Jungen mit den Armen an den Gitterstäben fixiert und schliefen. So hatte es die Chefin angeordnet. Bettina legte den Jungen in sein Gitterbett. Nahm seine mageren Arme, um auch ihn zu fixieren. Ein Blick in seine Augen verriet ihr seine Angst. Sie streichelte ihm schnell noch einmal über den Kopf und drehte dann den ausgeleierten Lichtschalter herum. Tiefe Dunkelheit.

Währenddessen hatte Martha Thomas, Holger, Peter und Franz in den Waschraum gebracht und ausgezogen. Frierend und weinend saßen sie auf dem kalten, noch von Johanns Kotresten verschmutzten Kachelboden. Arne lag auf der Holzablage und musste noch von Bettina versorgt werden. Er war wirklich der Kleinste von allen. Passt auf ihn auf, hatte seine Mutter zu den anderen Jungen gesagt, als sie ihn in den Bus gesetzt hatte. Seine Eltern waren beide Lehrer und voll berufstätig, sie hofften, dass er hier gut heranwachsen und fürs Leben lernen können würde. Auch er war bis an die Brust vollgekotet. Sie versuchte die Kotkruste mit dem Waschlappen abzureiben. Der Kleine weinte kläglich dabei und schaute sie mit durchdringendem Blick an. Sie streichelte ihm beruhigend über den Rücken und beeilte sich, ihm das Schlafanzugoberteil über den Kopf zu ziehen. Sicherheitshalber wickelte sie eine Windel auf den wunden Po und zog die Schlafanzughose darüber. Arne wog auf ihrem Arm so leicht wie eine Feder. Bettina brachte ihn nach oben zu Johann und fixierte auch ihn mit einer dicken Mullbinde an den Gitterstäben. Dabei drehte er wild den Kopf auf der Matratze hin und her.

Martha war Bettina mit Thomas, Holger, Franz und Peter nach oben in den anderen Schlafraum gefolgt. Um sich in den vielen Gängen und Räumen zurechtzufinden, würde sie sich morgen unbedingt eine Orientierung verschaffen müssen.

Peter schnalzte laut vor sich hin und schüttelte immerzu seine Hände aus.

„Mama, Papa, Strand, Oma, Opa“, rief er dabei laut durch den Burgflur. Bettina versuchte, ihn zu beruhigen.

„Pst, Mama kommt bald.“

Peter wurde augenblicklich still. Sein hoffnungsvoller Blick richtete sich ganz auf Bettina. Für sie war es jedoch erst einmal wichtig, dass endlich Ruhe einkehrte. Sie wusste sich keinen anderen Rat mehr.

Und jetzt Licht aus! Morgen war ein neuer Tag.

Martha verabschiedete sich von Bettina und schnallte sich ihren Rucksack auf den Rücken, bereit die Abkürzung durch den Wald zu nehmen. Jetzt nichts wie hinaus in die Natur. Ihre Mutter hatte ihr zwar angeboten, sie abzuholen, aber nach den Erfahrungen der letzten Tage brauchte sie, nun erstmal allein zu sein. Das Schicksal der Kinder war ihr doch sehr nahe gegangen.

Was Kurt ihr im Bus von den Familien erzählte hatte, machte sie betroffen.

So unterschiedlich die Gegebenheiten: arm und reich, große und kleine Familien, die Eltern in den verschiedensten Berufen, und alle hatten aus so unterschiedlichen und doch auch so ähnlichen Gründen mehr oder weniger leicht die Entscheidung getroffen und waren im Augenblick des Abschieds mit der Realität konfrontiert, nun getrennt zu sein. Gerne wäre sie mit in die Familien gegangen und sei es nur, um ein paar tröstende Worte zu sagen. Aber einer von ihnen hatte im Bus bei den Kindern bleiben müssen. Und damit war sie auch voll ausgelastet gewesen. So viel Traurigkeit, Angst und Hilflosigkeit. Die Blicke der Kinder hatten sich ihr regelrecht in die Seele gebrannt. Irgendwie fand sie es menschenunwürdig, sie so weit entfernt von ihren Familien unterzubringen. Hätten die Ämter in Niedersachsen nicht andere Lösungen finden können? Die mussten doch eigene Heime für die Kinder schaffen können. Aber was hatte Franz Mutter gesagt, das Amt hätte ihr ihren Sohn schon viel früher weggenommen, wenn es einen Platz für ihn gegeben hätte? Völlig betrunken hatte sie Kurt im Treppenhaus hinterhergeschrien, dass er ihr ihr Kind nicht wegnehmen dürfe. Der Vater, selbst gewalttätiger Alkoholiker, war froh, dieses blöde Grinsen nicht mehr sehen zu müssen. Er gab seiner Frau die Schuld an Franz Behinderung. Sie hatte so viele Schlafpillen geschluckt in dieser Schwangerschaft. Der hätte erst gar nicht geboren werden dürfen.

In Gedanken versunken stolperte sie über eine Baumwurzel und wäre beinah gestürzt. Sie konnte sich gerade noch an einer alten Eiche festhalten. Vielleicht war es doch schon ein bisschen zu dunkel für den Heimweg zu Fuß. Aber jetzt ließ es sich nicht mehr ändern.

Martha kramte den letzten Apfel von Peters Mutter aus ihrem Rucksack und biss genüsslich hinein.

Morgen sollte ihr erster richtiger Arbeitstag auf der Burg sein.

Es stimmte, sie war für die Kinder wirklich eine Vertrauensperson geworden. Da hatte die Chefin Recht. Wie die Buben wohl reagieren würden?

Als sich der Wald lichtete, sah sie schon im Tal ihr Heimatdorf liegen. Noch ein paar Minuten, dann war sie zu Hause und konnte sich in ihr Bett fallen lassen. Hoffentlich waren ihre Eltern schon schlafen gegangen. Sie war zu müde und zu angefüllt mit Eindrücken, als...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
ISBN-10 3-941664-87-5 / 3941664875
ISBN-13 978-3-941664-87-6 / 9783941664876
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