Das Neue Leben (eBook)

Roman | Vom Kampf um neue Lebens- und Liebesformen im viktorianischen London

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
400 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77798-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Neue Leben -  Tom Crewe
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Sie wollen ein Buch über Homosexualität schreiben. John und Henry. 1894 ist der eine längst etabliert im Geistesleben Londons, dazu respektabel verheiratet, Vater dreier Töchter. Der andere steht noch ganz am Anfang: seiner Karriere, seiner Ehe mit einer selbstbewussten Intellektuellen. Beide Männer sehnen sich nach Fortschritt, nach einer Zukunft, in der das Denken und das, was es zutage bringt, den gesellschaftlichen Umgang bestimmt, nicht die starren, immergleichen Regeln. Für sie ist dieses Buch ein Schritt nach vorn, ein Schritt ins Freie, doch lauern dort Gefahren. Denn was im Buch gilt, lässt sich nicht weiter ignorieren. So lässt sich John ein mit einem hübschen jungen Mann weit unter seiner Klasse, lustvoll demontiert er seine bürgerliche Existenz, während Henry einsehen muss, dass seiner Frau weit mehr an ihrer besten Freundin liegt. Als ein Skandal die Stadt erschüttert, die Krone interveniert, müssen sie sich fragen: Wie weit gehen für das neue Leben?

Tom Crewe hat einen modernen historischen Roman geschrieben. In fulminanter Sprache und im tiefen Wissen um die Viktorianische Epoche erzählt er von der bis heute fortwährenden Sprengkraft neuer Liebes- und Lebensformen. Ein beeindruckendes Meisterwerk über den Grenzverlauf der Freiheit.



Tom Crewe, 1989 in Middlesbrough geboren, promovierte in Britischer Geschichte des 19. Jahrhunderts an der University of Cambridge. Seit 2015 schreibt er als Redakteur f&uuml;r die <em>London Review of Books</em> vielbeachtete Essays &uuml;ber Politik, Kunst, Geschichte und Literatur. <em>Das Neue Leben</em> ist sein Deb&uuml;troman, er entwickelte sich in k&uuml;rzester Zeit zum Presse- und Verkaufserfolg. Der Observer bezeichnete Tom Crewe als &raquo;Best New Novelist 2023&laquo;.

1


Er war nahe genug dran, dass er die Haare im Nacken des Mannes roch. Fast kitzelten sie ihn, und er versuchte, den Kopf wegzuziehen, merkte aber, dass er zu eng eingekeilt stand. Zu viele Körper ringsum bedrängten ihn schwer; er war verzahnt in einem Muster aus Hüten, Schultern, Ellbogen, Knien und Füßen. Er konnte den Kopf keinen Zentimeter bewegen. Auch sein Blickfeld war fixiert, brach an den Rändern abrupt ab: Er sah nur den Hinterkopf des Mannes, den weißen Rand seines Kragens, seine Schulterspanne. Er war nahe genug dran, dass er die Pomade roch, von der ein paar Schlieren matt auf dem Nacken glänzten, dazu einen Hauch Rasierwasser, eine scharfe Note Salz. Der Anzug des Mannes war blau-grau kariert. Der weiße Kragen schnitt leicht in die Haut ein, umsäumt von weißlichen Härchen. Die Ohren gingen oben an ihrer Krümmung ins Rosige. Sein Hut – John konnte gerade mal bis zur Krempe schauen – war dunkelbraun, mit hellerem Hutband. Auch die Haare waren braun, dunkler unter der draufgestrichenen Pomade. Sie waren vor kurzem geschnitten worden: eine Linie, wo der Friseur angesetzt hatte.

John konnte den Kopf nicht bewegen. Seine Arme waren an den Seiten gefangen; von links und rechts, hinten und vorne pressten sich Körper an ihn. Er streckte die Finger – und streifte Mäntel, Kleider, Taschen, Stöcke, Schirme. Der Waggon rumpelte in seinem Rahmen, wummerte über die unterirdischen Gleise. Das Licht flackerte auf dem Wangenknochen des Mannes vor ihm. John hatte es gar nicht bemerkt, hatte nicht bemerkt, dass er die kantigen Kiefer des Mannes sehen konnte und wie der Wangenknochen hervorstach. Der Schatten eines Schnurrbarts war zu erkennen. Schwärze rauschte an den Fenstern vorbei. Der Boden dröhnte unter seinen Füßen.

Er war steif. Der Mann hatte seine Position verändert, vielleicht auch er selbst. Oder der Zug hatte geruckelt. Jedenfalls war die Stellung jetzt anders. Das Jackett des Mannes kratzte John am Bauch – er empfand es als ein Jucken –, und sein Hintern streifte Johns Schritt, einmal, zweimal, noch einmal. John war steif. In diesem Zug war es viel zu heiß, viel zu voll. Der Mann rückte näher, das konnte gerade noch Zufall sein, und presste seinen Hintern jetzt fest an ihn. Drückte Johns Erektion flach gegen den Bauch. So dicht, wie der Mann und er standen, war sie zwischen ihnen eingehüllt. Das musste der doch spüren? Ein hohes, zehrendes Gefühl stieg in ihm auf und kribbelte in den Fingerspitzen und Schläfen. Er konnte nicht weg, den Kopf nicht drehen, konnte nur die Haare im Nacken des Mannes riechen, die gerade Kragenlinie sehen, die Röte oben an den Ohren, er konnte nur spüren, wie steif er war, mehr noch als zuvor, als konzentrierte sich sein Körper mit aller Anstrengung auf diesen einen Punkt. Das musste der doch merken? John geriet in Panik; Schweiß sammelte sich in seinen Achselhöhlen. Er hatte Angst, der Mann würde es schaffen, herumzufahren, die anderen Passagiere mit den Ellbogen rammen, irgendetwas schreien, so dass der ganze Waggon starren und sich ein Loch rund um seine unübersehbare Schande auftun würde. Und zugleich wusste er genau: Er wollte nicht, dass es aufhörte, er hätte sich dem Griff dieser schrecklichen Erregung nicht entziehen können.

Der Mann kam in Bewegung. Zuerst war John nicht sicher, wieder dachte er, vielleicht habe der Zug nur geruckelt. Er hatte sich mit aller Willenskraft seinen Steifen weggewünscht, hatte im Kopf von einhundert heruntergezählt und langsam durch die Zähne geatmet, als er diese schwache Bewegung wahrnahm, als drückte sich der Mann sacht nach hinten, leicht schräg gegen seine Erektion, stellte sich auf die Zehenspitzen und wieder zurück. Johns erste Reaktion war ein Schwall Angst, schnell von einer anderen Woge gefolgt, demselben hohen, zehrenden Gefühl, das durch seine Finger und bis zu seinen Schläfen lief. Er konnte nichts tun. Er war von allen Seiten eingekeilt – fixiert mitten in einer Menge aus Körpern, seine ganze bewusste Wahrnehmung verengt und fokussiert auf diese kleine, subtile Kreisbewegung. Auf den Hintern dieses Mannes, der sich so fest an ihn presste, dass es fast wehtat, auf und nieder. Eine Schweißperle aus seiner Achsel rann ihm schnell und kalt die Seite hinab. Er versuchte sich umzuschauen, zu den Mitfahrenden, aber er konnte es nicht: Stattdessen starrte er verzweifelt, kapitulierend auf den Kragen des Mannes und das Rote seiner Ohren. Kroch da ein Lächeln in den Mundwinkel unter dem Schnurrbart? Und es ging die ganze Zeit weiter, inzwischen unverkennbar, das Auf und Nieder, der Druck, fast schmerzvoll an ihm entlang bis zur Spitze und wieder hinunter. Er keuchte durch die Nase, keuchte dem Mann in den Nacken. Hätte er bloß die Arme bewegen können oder überhaupt etwas; wäre bloß nicht sein ganzes Wesen so entsetzlich versessen auf diese Empfindung gewesen, diese Erfahrung; hätte er bloß für einen Augenblick seinen Körper verlassen können. Erneutes Keuchen, er sah, wie sein Atem die weißlichen Härchen auf dem Nacken des Mannes niederbog. Das Gesicht tat ihm weh. Er verspürte einen seltsamen Druck unter den Ohren. Er schluckte, holte Luft. Pomade und Rasierwasser, Zigarettenrauch, Salz. Auf und nieder, der Druck schmerzhaft bis zur Spitze gezogen und wieder hinunter. Er versank darunter. Er kriegte kaum Luft.

Der Zug wurde langsamer. Sie kamen zum Halten. Er ächzte dem Mann in den Nacken. Er sehnte sich nach Flucht, damit es endlich vorbei war. Auf und nieder, auf und nieder schoss ihm die Lust durch den Körper. Das Licht veränderte sich; über die Schulter des Mannes hinweg erkannte er die helleren Lampen eines Bahnsteigs. Er versuchte, einen Schritt zurück zu machen, noch ging es nicht. Er hörte, wie sich die Türen öffneten, hörte den verschärften Lärm vom Bahnsteig, wartete darauf, dass der Druck nachließ, dass sich etwas im Waggon bewegte, dass Leute ausstiegen. Er sehnte sich danach, den Kopf drehen zu können. Aber noch mehr Menschen drängten hinein, noch mehr Dunkelheit und schwarzer Druck: Schirme, Stöcke, Taschen, Kleider, Hüte. Der Mann und er wurden noch enger aufeinandergezwungen als vorher; jetzt spürte er die ganze Wärme des anderen Körpers, die ansteigende Kurve seines Rückens, die breiten Schultern aufgespannt gegen seine. Noch ein kleiner Stoß, und sein Mund landete auf dem Nacken des Mannes; er fühlte die Härchen an den Lippen, schmeckte Pomade und Rasierwasser. Der Mann presste sich immer noch schräg gegen ihn; jetzt bewegten sie sich gemeinsam in einem langsamen, erdrückenden Tanz, gleichzeitig auf und nieder.

Der Zug ruckte an, die Lichter bebten. Es war unerträglich heiß. Ihm war schwindlig, fast wie vor Schmerz. Und dann kam die Hand des Mannes, eine Hand, die ihn aufknöpfte, durch den offenen Schlitz drang etwas Luft, sein steifer Schwanz drängte sich dazwischen, füllte ihn aus. Panik, schreckliche Erregung. Und dann die Hand des Mannes, die sich mühevoll in die Lücke wand; unerträgliche Sekunden des Wartens, während sich die Hand durch den steifen Tweed und in die zweite Öffnung, in seiner Unterhose, hineinkämpfte. Und dann war sie drin, die Hand, und schloss sich um ihn. Vor Angst hielt er die Augen geschlossen; der Nacken des Mannes war glitschig unter seinen Lippen. Der Waggonrahmen rumpelte, die Lichter schossen ihm Pfeile durch die Augenlider. Die Hand schloss sich um ihn, er spürte, wie jeder Finger seinen Platz fand, die Haut straffte und losließ, fast zärtlich, und dann wieder straffzog. Er kriegte kaum Luft. Er fühlte sich straffgezogen, straffer, als er ertragen konnte. Sein Körper schmerzte. Auf und nieder, auf und nieder. Finger umspannten seine ganze Länge, zogen straff, zogen schneller. Plötzlich waren seine Hände frei, er hatte sie auf den Hüften des Mannes, griff in die dumpfe Wärme seines Jacketts, fühlte die Rippen unter dem Hemd. Dann nach unten, die Knöpfe auffummeln, den angeschwollenen Schwanz packen. Seine Hand steckte in der Hose des Mannes, der Schwanz lag warm in seiner Hand, er massierte die Spitze mit dem Daumen. Es ging alles so schnell jetzt, auf und nieder, immer schneller. Stieg in ihm hoch, durch die Fingerspitzen, bis zum Hals, unter die Ohren, an die Schläfen. Er keuchte. Der Nacken des Mannes war nass unter...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2023
Übersetzer Frank Heibert
Sprache deutsch
Original-Titel The New Life
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aktivismus • aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Debut-Roman • gesellschaftlicher Fortschritt • Homosexualität • Konservatismus • Lesbisch • Liebe • London • Neuerscheinungen • neues Buch • Oscar Wilde • Progression • Redefreiheit • Schwul • Viktorianisches Zeitalter
ISBN-10 3-458-77798-9 / 3458777989
ISBN-13 978-3-458-77798-4 / 9783458777984
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